Die Friedenspartei ist die Bewegung der protestierenden Mengen. Sie tritt in allen Städten auf, fordert den Rücktritt und die Bestrafung des Präsidenten und seiner Familie sowie einen Umbau des bestehenden Regimes. Sie will Demokratie.
Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen stehen hinter ihr, vor allem die Jugend. Sie wird animiert von jugendlichen Polit-Amateuren, Frauen und Männern, in grosser aber nicht erkennbarer Zahl. Doch sie hat keine wirkliche Führung, und ihre politischen Pläne sind wenig präzis. Sie folgt Aufrufen übers Internet und über Handys. Sie führt ihre Demonstrationen seit drei Monaten zäh durch. Sie hat dabei Opfer gebracht: über 180 Tote. Die Zahl der Verletzten dürfte in die Tausende gehen.
Gespaltene Regierung
Dieser Friedenspartei stehen sechs Kriegsgruppen gegenüber. Diese verfügen über Waffen und militärische oder paramilitärische Organisationen. Drei dieser Gruppen gibt es schon seit mehreren Jahren. Präsident Ali Saleh Abdullah hat sie jahrelang ohne Erfolg bekämpft.
Im Norden agieren die Kämpfer der Houthi-Rebellion. Im Süden kämpfen bewaffnete Gruppen, die mit der Regierung in Sanaa unzufrieden sind. Sie möchten sich von Jemen abspalten oder zumindest weitgehende Autonomie erhalten. Ebenfalls im Süden, aber mehr in der Wüste, dort, wo alle Stämme bewaffnet sind, agitieren Agenten der al-Qa’eda. Doch sie fristen zwischen den Stämmen und dem Niemandsland der Wüste ein eher halbverborgenes Dasein.
In Sanaa sitzt die Regierung, doch sie hat sich im Verlauf der Protestmonate gespalten. Auf der einen Seite stehen die direkten Familienmitglieder des Präsidenten, welche Eliteeinheiten und Sicherheitskräfte kommandieren. Auf der andern Seite gibt es die frühere parlamentarische »Opposition«, die jahrelang mit Präsident Ali Saleh Abdullah eng zusammengearbeitet hatte. Während der Protestmonate allerdings hat sie sich von ihm losgesagt und fordert jetzt seinen Rücktritt.
Die Hasched-Führung gegen den Präsidenten
Die wichtigste Kraft dieser Opposition ist die Stammeskoalitionen der Hasched. Sie ist eine der zwei wichtigsten Stammesföderationen des Landes. Die zweite, die Bakil, stehen dem Präsidenten näher, doch einige ihrer Stammeschefs haben ebenfalls gegen ihn Stellung bezogen.
Der mächtigste Anführer der Hasched, Scheich Abdullah ben Hussein al-Ahmar, war jahrelang Parlamentssprecher. Er galt – nach dem Präsidenten - als der zweitmächtigste Mann des Landes. Er ist 2007 verstorben. Seine zehn Söhne haben kollektiv seine Führungsrolle übernommen. Der älteste, Sadik al-Ahmar, wurde Nachfolger des Vaters. Ein Bruder, Hamid al-Ahmar, ist einer der grossen Millionäre des bitterarmen Landes. Unter anderem besitzt er Sabafon, die Betreiberin aller Handys. Zwei weitere Brüder haben Führungspositionen im Parlament inne. Dieses, der Allgemeine Volkskongress, war früher eher zahm, heute aber dem Präsidenten gegenüber eher kritisch eingestellt.
Diese zwei Brüder haben im Februar und März den Volkskongress verlassen, um gegen die Gewalt des Präsidenten gegenüber Demonstranten zu protestieren. Sabafon dient den Manifestanten für ihre Aufrufe zu Demonstrationen. Von dem regen Gebrauch, der so von den Handys gemacht wird, profitiert Sabafon finanziell und die Ahmar-Familie politisch.
Spaltung innerhalb der Armee
Streit gibt es zudem zwischen dem Sohn des Präsidenten, Ahmed Ali Saleh Abdullah und dem Halbbruder des Präsidenten, General Ali Mohsen al-Ahmar (dieser gehört nicht zur oben erwähnten al-Ahmar-Familie).
Der Sohn des Präsidenten, Ahmed, geboren 1970 und ausgebildet in den USA und in Sandhurst, galt als designierter Nachfolger des Präsidenten. Er wurde im Jahr 2000 Oberkommandant der Elitetruppe, der Republikanischen Garde. Der Halbbruder des Präsidenten, General Ali Mohsen, kommandierte die 1. Panzer-Division Jemens und diente als Oberhaupt der Nordwest-Militärregion. Dies ist die Region, in der die Rebellion der Houthis seit 2004 brodelt.
Die Rivalität des Halb-Onkels mit seinem Halb-Neffen wurde kritisch, als der Halb-Neffe und Präsidentensohn den Auftrag erhielt, mit seiner Garde in den Houthi-Krieg einzugreifen. Die Kritiker des Halb-Neffen behaupten, er habe den Saudis Koordinaten zur Bombardierung der Houthis geliefert, die in Wirklichkeit jene des Hauptquartiers seines Halbonkels gewesen seien. Die Saudis hätten im letzten Moment die Irreführung entdeckt.
Als die Regierungskräfte am 18. März dieses Jahres auf einen Schlag 53 Personen der demonstrierenden Protestbewegung erschossen, trat General Ali Mohsen auf ihre Seite und sagte sich vom Präsidenten los. Seine Offiziere und andere Generäle der Armee folgten ihm. Seine Panzer stehen heute in Sanaa an strategischen Strassenkreuzungen. Sie sollen die Demonstranten schützen. Doch konnten ihre Chefs heftige Zusammenstösse mit den Regierungstruppen bis heute vermeiden. Es kam einzig zu zwei kleineren Gefechten, die rasch abgebrochen wurden.
Die Houthis nutzten das Vakuum, das durch General Ali Mohsens Frontwechsel entstand ist. Sie besetzten ungeachtet des bestehenden Waffenstillstands die Hauptstadt des Nordens, Saada, und halten sie seither in ihrer Macht.
Der Präsident gegen die Hasched
Die Armee ist zwar gespalten, doch haben es Armee-Angehörige bisher vermieden, aufeinander zu schiessen. Hingegen kam es am 23. Mai zu einem kurzen sechstägigen »Krieg« in Sanaa zwischen den Regierungstruppen und bewaffneten Stammeseinheiten, die zu den Gefolgsleuten der oben erwähnten al-Ahmar-Familie gehören, das heisst zu den Hasched-Stämmen.
Es war der Präsident, der seinen Truppen befahl, gegen das Lager des Hasched-Oberhauptes und seine Leibgarde in der Hauptstadt vorzugehen. Vielleicht weil er glaubte, diese Gegner seien militärisch leichter zu besiegen als die Panzer seines Halbbruders. Doch der Präsident konnte sich nicht durchsetzen. Die Gefechte dauerten sechs Tage lang. Die Hasched-Milizen belagerten mehrere wichtige Regierungszentren und besetzten einige davon.
Ein Waffenstillstand wurde daraufhin am 29. Mai ausgehandelt. Er sieht vor, dass die Hasched-Kämpfer die Regierungsgebäude räumen, die sie erstürmt hatten. Im Gegenzug soll der Präsident seine Truppen aus den Stellungen abziehen, die sie rund um das Hasched-Lager bezogen hatten. Ob und wieweit diese Vereinbarung erfüllt werden, ist noch offen, da keine Seite der anderen soweit traut, dass sie die ersten Entflechtungsschritte unternehmen will. Es soll über 80 Tote gegeben haben.
Vergebliche Kompromisssuche
Verhandlungen über den Rücktritt des Präsidenten wurden in zwei Anläufen, im April und im Mai, von einer Vermittlergruppe geführt, zu denen die Saudi, die Amerikaner und die Erdöl-Kleinstaaten des Entwicklungsrates am Golf gehören. Sie schienen Erfolg zu haben, doch scheiterten sie im letzten Augenblick am Widerstand des Präsidenten.
Er praktizierte eine Hinhaltestrategie, indem er sich zuerst kollaborationswillig zeigte, wohl um Zeit zu gewinnen, doch am Ende beide Vermittlungsversuche zurückwies.
Die Unterhändler versuchten, seinen »baldigen« Rücktritt gegen künftige Immunität vor gerichtlichen Verfolgungen einzuhandeln. Auch sein Sohn und seine Neffen hätten von ihren militärischen Posten zurücktreten müssen. Dies scheint der entscheidende Punkt gewesen zu sein, den der Präsident nicht annehmen wollte. Er soll nicht eingesehen haben, warum die Söhne der Ahmar-Familie ihre Positionen und Ämter hätten behalten sollten, während die seinigen hätten abtreten müssen. Als es zur Unterschrift des zweiten ausgehandelten Vertrages kam, liess der Präsident die Unterhändler durch bewaffnete Banden seiner Anhänger und Sicherheitsleute in den Botschaften der Golfstaaten "belagern", von denen aus sie gewirkt hatten. Er erklärte dann, die Unterschrift könne nur in seinem Palast stattfinden. Doch den Vermittlern war es verwehrt, in den Palast zu kommen. Sie wurden schliesslich in Armeehelikoptern zum Flughafen gebracht.
Die Protestbewegung war ausgeschlossen
Diese Verhandlungen wurden nicht mit Vertretern der Protestbewegung geführt, sondern mit Hasched-Politikern – also den politischen Gegenspielern des Präsidenten. Wären sie erfolgreich verlaufen, hätten sie zwar das Machtgefüge in Jemen verändert, jedoch unter Ausschluss der Protestbewegung. Was wohl den saudischen Zielen entsprochen hätte.
Die Politik im alten Stil wäre weitergegangen. Die Protestbewegung protestierte daher auch gegen die Verhandlungen. Sie betonte, sie weiche nicht von ihren Grundforderungen ab: dem sofortigen Rücktritt des Präsidenten und seiner Familienangehörigen sowie einer Anklage gegen sie wegen Machtmissbrauchs und Korruption. Gleichzeitig unterstrich die Protestbewegung energisch, sie wolle nur mit friedlichen Mitteln agieren. In ihrem Protestlager auf dem »Platz des Wechsels« in Sanaa liess sie alle Zelte und Buden der eigenen Anhänger nach Waffen durchsuchen.
Erneute Gewalt in Taez
Kaum war der Waffenstillstand in Sanaa geschlossen, gab der Präsident den Befehl, gegen die Demonstranten der Protestbewegung in Taez, der zweiten Stadt des Landes, vorzugehen. Polizeitruppen beschossen in der Nacht auf den 29. Mai den Hauptplatz, den sogenannten "Befreiungsplatz«, den die Demonstranten zu einer permanenten Bühne ihrer Aktivitäten gemacht hatten.
Die Sicherheitsleute schossen scharf, blockierten die Ausgangsstrassen des Platzes und zündeten sämtliche Zelte und Bühnen an, die dort von der Protestbewegung errichtet worden waren. Mindestens 28 Menschen starben. Doch die Stadt Taez scheint sich nach wie vor unter Kontrolle der Protestbewegung zu befinden. Auch in Taez gibt es Offiziere und Soldaten der regulären Armee, die sich von Präsident Saleh losgesagt haben und die Protestbewegung zu schützen suchen.
Angebliche Qa'eda Kämpfer in Zinjibar
Am 29. Mai wurde in Sanaa gemeldet, Bewaffnete, die nach Angaben der Regierung zur Qa'eda gehörten, seien am 27. Mai zum zweiten Mal in die Stadt Zinjibar eingedrungen und hätten dort erneut den Sicherheitstruppen der Regierung in der Nähe des Gefängnisses Kämpfe geliefert. Die Regierungstruppen hätten sich aus Zinjibar zurückgezogen. In den Kämpfen seien mindestens 21 Soldaten und Zivilisten getötet worden. Doch die Opposition erklärt, die Angreifer seien gar nicht al-Qa'eda-Kämpfer. Der Präsident behaupte dies bloss, um das Interesse der Amerikaner zu wecken. Zahlreiche Jemeniten flüchteten jetzt ins nahe gelegene Aden. Die Stadt Zinjibar wurde am 29. Mai von jemenitischen Flugzeugen und von Artillerie bombardiert.
Die Armee spaltet sich weiter
Neun Generäle riefen in einem Manifest, das als Communiqué No.1 bezeichnet wurde, die Soldaten der Armee und der Präsidialgarde (die vom Sohn des Präsidenten kommandiert wird) dazu auf, ihre Einheiten zu verlassen und sich den Gegnern des Präsidenten anzuschliessen.
Die Armeespitzen versuchen offenbar, möglichst grosse Teile der Truppen durch Überredung auf ihre Seite zu bringen. So soll eine bewaffnete Konfrontation unter Armee-Angehörigen vermieden werden.
Doch das Land muss auch mit der Präsenz der bewaffneten Stämme rechnen, deren Macht immer mehr zur Geltung kommt, je mehr die reguläre Armee sich spaltet. Diese Entwicklung dient auch den Houthis im Norden und den südlichen Separatisten sowie den Autonomie-Politikern im Süden. Auch die kleinen Aktivistengruppen von al-Qa'eda können von der Schwächung der Armee profitieren. Doch ihnen steht, ausser der Armee, auch die bewaffnete Macht der Stämme gegenüber. Wahrscheinlich wird sie dafür sorgen, dass al-Qa'eda ihre Macht nicht allzu weit ausdehnen kann.
Nachtrag, 1. Juni
Der Waffenstillstand zwischen der Regierung und den Hasched-Stammeskämpfern in Sanaa ist zusammengebrochen. Die Kämpfe brachen neu aus, und die Stammesleute scheinen das Übergewicht zu besitzen. Sie haben weitere zentrale Regierungssitze erobert und besetzt; genannt werden das Oberhaus des Parlamentes und das Innenministerium, sowie auch die strategische Strasse, die von der Hauptstadt zum Flughafen führt. Einer ihrer Sprecher erklärte, die Hasched-Kräfte würden all jene Stellungen und Gebäude besetzen, von denen aus sie bedroht würden.
Ein Regierungssprecher erklärte die Erfolge der Gegner damit, dass diesmal Tanks eingesetzt worden seien, obwohl die Stammesleute keine solchen besässen. Damit spielte er auf die Möglichkeit an, dass die Tanks des aufständischen Tankgenerals, Ali Mohsen, in die Kämpfe eingegriffen haben könnten. Es gab Berichte, nach denen das Hauptquartier Ali Mohsens von den Regierungstruppen beschossen worden sei, doch die Regierung dementierte dies. Wie auch immer, offenbar machen die Feinde des Präsidenten in der Hauptstadt selbst Geländegewinne.