Die Auslandsabteilung der Hamas in Doha hat dieser Tage gezielt Gerüchte gestreut, wonach die Hamas bereit sei, sich der PLO anzuschliessen. Wie der aussenpolitische Sprecher der Hamas, Mousa Abu Marzouk (Musa Abu Marzuq), in Doha mitteilte, würde dies die Anerkennung Israels einschliessen.
Sollte es sich dabei nicht nur um die Meinung eines einzelnen Hamas-Funktionärs handeln, könnte dies als Versuch gewertet werden, durch gezielt gestreute Gerüchte die Möglichkeit eines strategischen Richtungswechsels der Hamas zu testen.
Die Hamas hat sich bisher nie der PLO untergeordnet und nur 2006/7 kurzzeitig in der Regierung der Autonomiebehörde mit ihr zusammengearbeitet. Am 9. September 1993 hatte Jassir Arafat im Namen der PLO Israel und dessen Recht auf ein Leben in Frieden und Sicherheit anerkannt und sich zu Verhandlungen über einen dauerhaften Frieden bereit erklärt. Zwar sind in der PLO auch Organisationen vertreten, die wie die PFLP weiterhin an dem alten Ziel der PLO festhalten, einen palästinensischen Nationalstaat auf dem gesamten Territorium des ehemaligen britischen Mandatsgebietes zu errichten. Für die Formulierung der offiziellen Politik der PLO gegenüber Israel spielt diese Minderheitsmeinung jedoch keine Rolle.
Strategiewechsel?
Der Strategiewechsel, den die Auslandsorganisation der Hamas hier zu erproben scheint, dient in erster Linie der Legitimation der Hamas als politischer Organisation unter dem Dach der PLO. Als Teilorganisation der PLO wähnt sie sich weniger angreifbar, beansprucht sicherlich aufgrund ihrer politischen Stärke eine Art Richtlinienkompetenz und träumt vielleicht sogar davon, eines Tages den Vorsitz zu erben.
Mit diesem Schritt, sollte er tatsächlich gewagt werden, versucht die Auslandsorganisation der Hamas das Überleben des gesamten Verbands als politische Organisation zu sichern. Dies deutet darauf hin, dass die Auslandsorganisation den militärischen Auseinandersetzungen in Gaza keine Zukunft mehr gibt und daher die politische Initiative zurückgewinnen möchte, um durch ein Abkommen die Möglichkeit des politischen Überlebens zu schaffen.
Ein Abkommen zu Gaza
Vorbild könnte das so genannte Karfreitagsabkommen sein, mit dem Grossbritannien und Irland am 10. April 1998 den militärischen Konflikt in Nordirland beendeten. Wesentliche Bestandteile dieses Abkommens waren die freiwillige Entwaffnung der Milizen, die mögliche Freilassung inhaftierter Milizenmitglieder aus britischen Gefängnissen und die Konstituierung der Milizen als politische Parteien in Nordirland. Das Besondere an diesem Abkommen war, dass die Milizen selbst das Abkommen nicht unterzeichneten, sondern sich den Unterzeichnerparteien Grossbritannien und Irland unterstellten. In Analogie dazu würde dies bedeuten, dass zwischen der PLO und Israel ein Abkommen über Gaza geschlossen wird, dem sich die Hamas als politische Vereinigung unterwirft. Hamas wäre also kein Verhandlungspartner und würde auch nicht durch Verhandlungen legalisiert. Dennoch hätte Hamas als Mitglied der PLO massgeblichen Einfluss auf die Ausgestaltung eines solchen Abkommens. Für Israel bestünde die Schwierigkeit, ein Abkommen mit der PLO mit der Begründung auszuschliessen, dass Hamas in der PLO präsent bliebe. Wenn aber arabische Staaten als Garantiemächte für die PLO aufträten, könnte versucht werden, diese Stimmen der Hamas zu neutralisieren.
Die PLO könnte schon deshalb ein Interesse an einer solchen Idee haben, weil damit die Aussicht verbunden wäre, die politische Kontrolle über Gaza zurückzugewinnen, einen Konkurrenten auszuschalten und gleichzeitig die Legitimität der PLO als staatliche Organisation Palästinas zu erhöhen.
Trübe Aussichten
Natürlich ist nicht zu erwarten, dass die gegenwärtige israelische Regierung bereit wäre, mit der PLO über Gaza zu verhandeln. Dennoch erscheint eine solche Verhandlungsstruktur erfolgversprechend, da sie in Analogie zum Nordirlandkonflikt externe Verhandlungspartner in die Rolle der internen Konfliktgegner treten lässt und den Konfliktgegnern die Möglichkeit eröffnet, als politische Akteure in einer Nachkriegsordnung aufzutreten. In Analogie zum Karfreitagsabkommen würde dies noch nicht einmal bedeuten, dass die Hamas in die PLO eintritt, sondern es würde ausreichen, dass Hamas die PLO als Interessenvertreter anerkennt.
Genau hier zeigt sich aber die Diskrepanz zwischen der politischen Strategie der Auslandsorganisation der Hamas und den Interessen ihrer militärischen Einheiten, die in Gaza und teilweise in der Westbank kämpfen. Glaubt man der Propaganda der Hamas in Gaza, so hält die militärische Führung weiterhin an ihrer Strategie fest, die israelischen Truppen in Form eines Guerillakrieges so zu zermürben, dass eine weitere Mobilisierung in der Westbank und gegebenenfalls der Hizbullah im Libanon in greifbare Nähe rückt. Die Hamas in Gaza führt einen ideologischen Krieg.
Sollte Abu Marsuks Initiative mehr als ein taktisches Gerücht sein, würde dies einen Machtkampf innerhalb der Hamas wahrscheinlicher machen. Es stellt sich aber auch die Frage, ob eine politische Lösung überhaupt noch mit der gesellschaftlichen Realität in Gaza in Einklang zu bringen ist, wobei noch einmal kurz in Erinnerung gerufen werden muss, was Hamas in Gaza bedeutet.
Hamas als Parastaat
Die Hamas definiert in ihren Gründungsdokumenten keine bestimmte Staatsvorstellung. Sie betont lediglich ihren Anspruch, durch «Befreiung» einen «vollständig souveränen Staat» auf dem gesamten Territorium Palästinas zu errichten. Nach ihrer Vorstellung muss das Land befreit werden, damit die angestammte Bevölkerung aus der Diaspora zurückkehren kann.
Die Hamas definiert Palästina als «islamisches Land», spricht aber nicht von der Errichtung eines «islamischen Staates». Das würde auch kaum passen, denn im Kern vertritt die Hamas eine ultranationalistische Ideologie: Die nationale Wiedergeburt Palästinas sei nicht nur ein historischer Wille des Islam, sondern auch nur durch eine religiös-moralische Gesellschaftsordnung möglich, die im Islam «fundamentalisiert» sei. Das heisst, hier noch ganz in der Tradition der Muslimbruderschaft, die «islamische Gesellschaft» ist das ordnungspolitische Ziel, nicht ein «islamischer Staat». Auch in der Charta der Hamas von 1988 ist davon die Rede, dass in Palästina «ein Staat des Islam» «wiedererrichtet» werden soll (Art. 2.9).
Dies zeigt, dass Hamas den Islam weitgehend als Nation umgedeutet hat, allerdings nur insofern, als Palästina die tragende Idee dieses Staates sein soll. Dies unterscheidet Hamas beispielsweise von der 1953 gegründeten ultranationalistischen Islamischen Befreiungspartei (HuT), die den Islam selbst zur Nation erklärt, deren staatlicher Ausdruck das Kalifat sein soll. Als Solidaritätsnetzwerk ist der Hamas die normative Auslegung des gesellschaftlichen Zusammenlebens weitaus wichtiger als die Definition staatlicher Gewalt und Institutionen. Daher wird das islamische Recht als interne gesellschaftliche Ordnung nur beiläufig erwähnt.
Die religiös-nationalistische Symbolik hat nach 2017 an Bedeutung gewonnen. Sie ermöglichte es der Hamas, eine temporäre Zweistaatenlösung (in den Grenzen von 1967) zu akzeptieren, zwischen Judentum und Zionismus zu differenzieren und auf eine Legitimierung durch die Bezugnahme auf die Muslimbruderschaft zu verzichten. Im Gegenzug hat die Hamas ihren Anspruch auf Parastaatlichkeit verstärkt. Letztlich will Hamas ihre politische Ordnung in Gaza auf eine staatliche Ordnung für ganz Palästina übertragen.
Solidaritätsnetzwerk
Hamas war also ein Parastaat, der sich nicht auf die soziale Ordnung einer Gesamtgesellschaft stützte, sondern seine Macht auf ein Solidaritätsnetzwerk gründete. Dieses Solidaritätsnetzwerk basiert auf der Grundidee, dass Hamas Solidaritätsleistungen gegenüber Teilen der Bevölkerung garantiert, sofern diese Hamas gegenüber Loyalität zeigen. Dabei ist Hamas nicht zu Solidaritätsleistungen gegenüber der Gesamtbevölkerung verpflichtet, sondern nur gegenüber denjenigen, die sich der Organisation und ihrer sozialmoralischen Ordnung unterwerfen. Die Zugehörigkeit zum Solidaritätsnetzwerk der Hamas beruht also auf einer immer wiederkehrenden, oft sogar ritualisierten Loyalitätsbekundung.
Nun ist die Hamas militärisch in ähnlicher Weise als Netzwerk oder besser als Geflecht organisiert. Das erlaubt ihr, auch dann militärisch zu agieren, wenn die Kommandozentralen von der israelischen Armee ausgeschaltet werden. Je mehr es der israelischen Armee jedoch gelingt, die militärischen Kommunikationswege zwischen den einzelnen Knotenpunkten des Netzwerks zu unterbrechen, desto schwächer wird die Position der Hamas in ihrem Solidaritätsnetzwerk. Denn ohne militärische Exekutive kann die Hamas die der Bevölkerung versprochenen Solidaritätsleistungen nicht mehr garantieren.
Die lebensweltliche Situation in Gaza ist in den letzten Wochen so katastrophal geworden, dass das Solidaritätsnetzwerk der Hamas nicht mehr in der Lage ist, den sozialen Zusammenhalt der Menschen vor Ort zu schützen und zu gestalten. Auch der Solidaritätsaustausch, also der Tausch von Solidarität gegen Loyalität, funktioniert nicht mehr, inzwischen gelingt es gut organisierten autonomen Netzwerken, mit ihren bewaffneten Truppen das soziale Vakuum zu füllen, das der Krieg hinterlassen hat. Berüchtigt sind vor allem Banden, die sich als Verwandtschaftsbünde verstehen, zum Teil sogar die Strukturen der UNWRA korrumpiert haben und immer häufiger Hilfsgütertransporte «übernehmen» und auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Offenbar haben sie sogar Geiseln für sich selbst ausgehandelt.
Eine Strategie für Gaza
Der faktische Zusammenbruch des Solidaritätsnetzwerks der Hamas, der mit der Erosion der militärischen Strukturen der Hamas einhergeht, stellt die mögliche Umsetzung eines Gaza-Abkommens zwischen Israel und der PLO in Frage. Israel hat es versäumt, parallel zur Kriegsführung politische Strukturen in Gaza aufrechtzuerhalten oder aufzubauen, die dem Land wieder eine soziale Ordnung für die gesamte Bevölkerung geben würden. Gaza braucht daher auch eine politische Strategie, durch die die Bevölkerung von Gaza das Vertrauen in eine gesamtgesellschaftliche Ordnung zurückgewinnt und sich nicht länger der Hegemonie von Solidaritätsnetzwerken und deren Ideologien unterwirft.