Vor 25 Jahren (genauer: 26) bahnte sich eine ganz üble Chronik an. 1989 erliess der um sein politisches Gesicht bemühte greise muslimische Theokrat Ayatollah Khomeini ein Todesurteil gegen den Schriftsteller Salman Rushdie, in dem er erklärte: „Der Autor des Buches mit dem Titel ‚Die Satanischen Verse’ – das in Gegnerschaft zum Islam, dem Propheten und dem Koran zusammengestellt, gedruckt und veröffentlicht wurde – und alle an seiner Veröffentlichung Beteiligten, die sich seines Inhaltes bewusst waren, werden zum Tode verurteilt. Ich fordere alle eifrigen Muslime auf, ihn schnell zu exekutieren.“
Assassinen des Geistes
Viele Menschen im Westen lernten wohl zum ersten Mal die konkrete Bedeutung des Wortes „Fatwa“ kennen. Das Terrorpotenzial eines Erlasses im Namen Gottes. Nicht nur Bücher brannten. Das „Delikt“ der Veröffentlichung musste auch anders gesühnt werden. Buchläden wurden angegriffen, Brandbomben in Verlagsbüros geworfen, Übersetzer und Verleger niedergestochen, angeschossen oder gar ermordet. In allen Fällen fiel der Verdacht auf „eifrige Muslime“, oft mit iranischen Botschaften als Operationsbasis. Rushdie selbst entging mehreren Attentatsversuchen. Seither steckt dieser Erlass als Pfahl in unserem Fleisch. Denn man kann den Fall Rushdie je nach kulturellem Hintergrund radikal unterschiedlich deuten. Für gläubige Muslime stellt er eine Gotteslästerung dar, für moderne Europäer hingegen eine „Rechtslästerung“. Das heisst, es widerspricht unserem säkularen Rechtsempfinden, wenn das geistliche Oberhaupt eines fremden Staates öffentlich zur Ermordung eines Schriftstellers aufruft, der – wohlgemerkt in einem Werk der Fiktion – angeblich den Propheten beleidigt haben soll. Der verstorbene streitbare Journalist und Literaturkritiker Christopher Hitchens sprach damals von den „Assassinen des Geistes“, in Anspielung auf die für ihre politischen Morde berüchtigte islamische Sekte aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Gemeuchelt werde die Rede- und Meinungsfreiheit, so Hitchens, der Wesenskern der Moderne.
„Irgendwie“ selber schuld
Kaum hatten sich die Neuigkeiten über das Blutbad bei „Charlie Hebdo“ verbreitet, meldeten sich auch schon Stimmen zu Wort, die darin ein vom Magazin selbst provoziertes Schicksal sahen. Die amerikanische katholische „Liga für religiöse und bürgerliche Rechte“, die sich auch schon von einem Jesus-Song der Popnudel Lady Gaga erzürnen liess, titelte in einen Kommentar „Muslime haben Grund, wütend zu sein“: „Das Töten als Antwort auf eine Beleidigung – mag sie noch so grob sein – ist eindeutig zu verurteilen. Deshalb kann das, was in Paris geschah, nicht toleriert werden. Aber ebensowenig sollten wir die Art von Intoleranz dulden, welche diese brutale Tat provoziert hat“. [1] Ein kleines Meisterstück der Rabulistik: Eine Tat wird zuerst „eindeutig“ verurteilt, ihre Begründung aber aufgrund eines mehrdeutigen Toleranzbegriffs (Karikaturen sind „intolerant“?) wenn nicht gerade legitimiert, so doch „verständlich“ gemacht. Ein linkes Magazin bezeichnet „Charlie Hebdo“ rundheraus als „rassistisch“.[2] Grundtenor bei beiden: „irgendwie“ halt doch selber schuld. Die „Ja, aber“-Haltung ist seit den dänischen Mohammed-Karikaturen endemisch. Gerade in der Politik, dem Expertentum des Lavierens.
Ehrenrührigkeit in einer multikulturellen Gesellschaft
Das Terrain ist äusserst glitschig. „Charlie Hebdo“ legt es ja auf Provokation an und brüstet sich mit einem Vielfrontenkrieg der Beleidigungen. Stéphane Charbonnier etwa war gewiss nicht zimperlich. Auf die Frage, warum er Muslime beleidige, antwortete er 2012: „Weil mir Mohammed nicht heilig ist“. Fürwahr eine egozentrische und arrogante Logik: Mit dem, was MIR nicht heilig ist, darf ich umgehen, wie ich will, zumindest im strafrechtlich gesetzten Rahmen. Nun ist ja Beleidigung durchaus eine strafrechtlich relevante Tat. Im Zentrum steht die Ehrenrührigkeit. Die italienische Schauspielerin Sabina Guzzanti machte vor ein paar Jahren an einer Versammlung von Schwulen einen Witz über Benedikt XVI.: „In 20 Jahren wird der Papst dort sein, wo er hingehört – in der Hölle, gequält von grossen teuflischen Schwuchteln, und zwar von sehr aktiven, nicht passiven.“ Frau Guzzanti musste sich wegen „Ehrverletzung der heiligen und unantastbaren Person“ des Papstes verantworten. Über den Geschmack dieser Art von Humor lässt sich streiten. Und Vulgarität kennt kein Mass, deshalb auch keine Grenzen. Wie reagiert man auf vulgäre Beleidigungen? Man ignoriert sie im besten Fall. Im schlimmsten Fall beleidigt, schlägt oder schiesst man zurück - die Wildwest-Regel der Regellosigkeit.
Interkultureller Anstand
Der Mensch formt seine Identität oft aus einem tiefen Glauben, dessen Inhalte zu kritisieren oder zu diffamieren ipso facto eine Beleidigung der Person darstellen können. Das gilt auch für Vorurteile. Gewissen Rassisten sitzen sie ja geradezu in den Eingeweiden. Ein anderes Problem ist die Frage, ob denn tatsächlich eine Karikatur, ein Witz, ein Teddybär mit dem Namen des Propheten immer gleich als „Beleidigung“ anzusehen sind. Inwieweit sich hier das Personenstrafrecht einmischen kann und soll, ist zugegebener Weise ein delikates juristisches Problem. Aber macht man nun auf diese Weise die Ehre – einen kulturell schwer belasteten Begriff - zur Strafrechtssache, baut man den kulturellen Konflikt gleich mit ins Gerichtsurteil ein. Und das etabliert ein Paradox in modernen multikulturellen Gesellschaften: Meinungsäusserungsfreiheit ist gut, aber sie muss um der Diversität willen eingeschränkt werden. Wenn man allerdings akzeptiert, dass gewisse Dinge nicht gesagt werden dürfen, akzeptiert man auch bestimmte Formen der Macht als unantastbar. Als sich Galilei das Recht herausnahm, zu behaupten, die Erde drehe sich um die Sonne, sah er sich mit der Macht der Kirche konfrontiert. Wenn Freiheit etwas bedeutet, so George Orwell sinngemäss, dann dies, dass wir das Recht haben, Dinge zu sagen, die andere nicht hören wollen. Man kann dieses Recht indes überstrapazieren. Wir müssen deshalb ein neues Gleichgewicht finden. Und das heisst, dass der demokratische Alltag in einer gemischten Gesellschaft eine neue Tugend verlangt: jene des interkulturellen Anstands.
Das Problem als innerislamisches
Nun werden die Opfer von „Charlie Hebdo“ als Märtyrer der Meinungsfreiheit gefeiert. Hat man vergessen, dass in vielen islamischen Ländern Autorinnen, Satiriker, Cartoonisten, Aktivistinnen ihr Leben täglich aufs Spiel setzen mit ihren witzigen Manifestationen des freien Willens: wenn sie sich für politische Rechte und Demokratie gegen religiöse und zivile Potentaten einsetzen; diskriminierende Glaubensvorschriften und Basphemiegesetze bekämpfen. Wie etwa der pakistanische Cartoonist Sabir Nazar, der unter ständig wachsenden Einschränkungen arbeitet;[3] die Bangladeshi-Autorin Taslima Nasreen, die unter Todesandrohungen ihr Land verliess;[4] der iranische Blogger Soheil Arabi, gegen den das Todesurteil verhängt wurde, weil er auf Facebook „den Propheten beleidigt“ habe;[5] oder Raif Badawi, den das saudiarabische Regime jüngst zu 1000 Peitschenhieben wegen seiner prodemokratischen Bloggeraktivität verurteilt hat.[6] Das gleiche Regime nota bene, das die Blutttat von Paris verurteilte. Notorische Bigotterie.
Die Polarisierungsfalle
Es gibt also nicht bloss westliche Karikaturisten und Kritiker des Islam. Das Problem ist ohnehin nicht der Islam ist, sondern die reaktionäre Vereinnahmung eines Religionsstifters zum Zwecke der Vormachtsstellung innerhalb der Religionsgemeinschaft. Das Problem ist, mit andern Worten, ein innerislamisches. Gerade das Zeitalter des Internets macht es immer augenscheinlicher, dass sich in islamischen Gesellschaften neue Generationen von Muslimen regen, die nichts am Hut haben mit einer rückständigen, oft verlogenen und unterdrückerischen Auslegung einer der Hauptreligionen der Menschheit: ein Riesenpotenzial der Emanzipation. Diese Generationen haben durchaus ein Interesse an einer säkularen Gesellschaft, an liberalen Prinzipien, an universellen Menschenrechten – in ihrer eigenen Kultur. Es kommt zudem einer impliziten Beleidigung des Islam gleich, wenn man annimmt, nur „Aufklärung“ im westlichen Sinn befähige zur kritischen Auslegung von heiligen Texten, zur Anpassung überlieferter Werte an heutige Verhältnisse, zur Überbrückung kultureller Klüfte.
Die Kulturentmischer, die jetzt mit den Kriegsrufen „Abendland“ oder „Aufklärung“ gegen eine „Islamisierung“ mobilisieren, haben wahrscheinlich weder vom Islam noch von der Aufklärung eine Ahnung. Sie sind Karikaturen ihrer selbst. Und in diesem Sinne gleichen sich die extremistischen Spaltpilze auf beiden Seiten. Hüten wir uns davor, dass sie uns in die Polarisierungsfalle treiben. Es ist ihnen schon ein gutes Stück weit gelungen.
[1 http://www.catholicleague.org/muslims-right-angry/
[2] https://www.jacobinmag.com/2015/01/charlie-hebdo-islamophobia/
[3] http://www.pri.org/stories/2014-06-20/pakistani-cartoonist-tries-keep-his-craft-face-rising-restrictions
[4] http://www.bbc.com/news/world-asia-india-28307267
[5] http://www.huffingtonpost.co.uk/2014/12/03/iranian-blogger-soheil-arabi_n_6261904.html
[6] http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-01/blogger-raif-badawi-ausgepeitscht-saudi-arabien