Mit dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland am 12. März 1938 brach für „Fritzie“ Spitzer eine Welt zusammen. Der 13. März 1938 war das Ende „des normalen Lebens“, schreibt die damals 17-jährige Wiener Krankenschwester später in ihrem Augenzeugenbericht über das Konzentrationslager Theresienstadt in der Tschechoslowakei in dem Buch „Verlorene Jahre – Vom Lager in die Freiheit“. „Es war eine Zeit, in der jeder seinen schlimmsten Lastern legal freien Lauf lassen konnte ... Man konnte sich bereichern, den Nächsten quälen und ihn selbst ungestraft ermorden. Dafür wurde man sogar gelobt und geehrt“, erinnert sich die aus einfachen Verhältnissen stammende Jüdin.
Zwar stand Spitzer nicht auf der Deportationsliste, da sie als Krankenschwester dringend benötigt wurde, aber ihre Eltern erhielten den gefürchteten Befehl zu packen. Kurz entschlossen gab die junge Frau ihren privilegierten Status auf, um die Eltern zu begleiten. Mit unbekanntem Ziel setzte sich der Zug am 2. Oktober 1942 in Bewegung. Ziel: das Lager Theresienstadt. Es war ursprünglich als „Zwischenlager“ auf dem Weg nach Auschwitz geplant. Später wurde es in ein „Modell-Lager“ umgewandelt und sogar mit einem Café ausgestattet.
Dank der vielen Intellektuellen und Künstler, die in die düstere Festung aus den Zeiten Kaiserin Maria Theresias deportiert wurden, konnten hier auch Konzerte und Kabaretts aufgeführt werden. Der Musiker Leo Strauss komponierte beispielsweise „Ein Walzertraum“ und der Schauspieler und Regisseur Kurt Gerron musste einen Propagandafilm mit dem zynischen Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ inszenieren. Er wurde noch vor Ende der Dreharbeiten nach Auschwitz verschickt und dort ermordet.
„Via Federica Spitzer, Zeugin des Holocaust“
Fritzie Spitzer, die auch im von Typhus und anderen Epidemien heimgesuchten Lager tatkräftig kranken und halbverhungerten Menschen als Krankenschwester half, hatte Glück im Unglück. Sie wurde zusammen mit ihren Eltern dank Vermittlung des Schweizer Bundesrates und Aussenministers Jean-Marie Musy, der gute Kontakte zum reichsdeutschen Innenminister Heinrich Himmler unterhielt, im Februar 1945 befreit und in die Schweiz gebracht. Damit gehörte sie zu den 147 Überlebenden von insgesamt 1300 Menschen, die zusammen mit ihr von Wien nach Theresienstadt deportiert worden waren.
Von 1946 bis zu ihrem Tod 2002 lebte sie im Tessin, in Lugano. Spitzers Engagement für andere Menschen hielt auch in der Schweiz an. Sie setzte sich immer wieder für Flüchtlinge und Kriegsopfer ein. Später berichtete sie vor allem an Mittelschulen über die Barbarei des Holocaust, um die Erinnerung daran auch in der Jugend wachzuhalten. Eine Strasse in Lugano wurde 2016 nach der unermüdlichen Helferin und unverbesserlichen Optimistin benannt. Sie heisst „Via Federica Spitzer, Zeugin des Holocaust“. Ein von der „Stiftung Federica Spitzer“ organisiertes Projekt „Lugano – offene Stadt“ gedachte jetzt der tapferen Kämpferin aus Wien, für die das humanitäre und auch kulturelle Engagement zeitlebens wichtig waren. Nach dem Vorbild von Yad Vashem in Jerusalem wurde jetzt im Park Ciani am Ufer des Luganersees der erste Schweizer „Garten der Gerechten“ eingeweiht.
Gegen Gewalt und Rassismus
Mit der Errichtung dieses Gartens ehrt Lugano auch das Andenken von vier Schweizer Persönlichkeiten, die in den „dunkelsten Stunden unserer Vergangenheit“, so der Bürgermeister Marco Borradori bei der Einweihungszeremonie, „nicht wegsahen“. Es seien „weder Heilige noch Helden“ gewesen, sondern gewöhnliche Menschen, die nicht der Gleichgültigkeit nachgaben, sondern tatkräftig gegen Gewalt, Rassismus und für die Demokratie eintraten. Der Bekannteste der vier Tessiner Geehrten dürfte Carlo Sommaruga sein, dessen Enkel Cornelio Sommaruga, früherer IKRK-Präsident, bei den diversen Feierlichkeiten zugegen war.
Der italienische Botschafter in Bern, Marco Del Panta Ridolfi, erinnerte bei der Einweihung daran, dass Benito Mussolini im November 1938 die Rassengesetze nach deutschem „Vorbild“ in Italien einführte – mit schwerwiegenden Folgen für die knapp 47’000 dort lebenden Juden. „Die Massnahmen zur Verteidigung der italienischen Rasse“ verboten z.B. Mischehen von Juden mit Christen und führten dazu, dass jüdische Mitbürger quasi über Nacht aus Verwaltung und Militär entlassen wurden und Freiberufler wie Anwälte, Ärzte oder Architekten ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten. Nichtitalienische Juden wurden ausgewiesen oder interniert. Zahlreiche jüdische Mitbürger verliessen das Land, oft in die nahe Schweiz.
Die Vergangenheit nicht aufgearbeitet
Del Panta Ridolfi erinnerte daran, dass sein Land im Gegensatz zu Deutschland seine „schmerzhafte Vergangenheit“ nicht wirklich aufgearbeitet und vieles unter den Teppich gekehrt habe. Obwohl die jüdischen Mitbürger gut assimiliert waren und „zu Italien gehörten“, habe es keine Rebellion gegen die Rassengesetze, weder aktiven noch passiven Widerstand, gegeben. Der Leiter der Stiftung Spitzer, Moreno Bernasconi, hob die positive Haltung der italienischen Schweiz und insbesondere Luganos hervor. Dank seiner langen humanitären Tradition hielt das Tessin die Grenzen offen und widersetzte sich damit der Vorgabe der damaligen Berner Bundesregierung. Diese gab aus Angst vor dem übermächtigen deutschen Nachbarn 1942 die umstrittene Devise aus: „Das Boot ist voll“.
Die Fluchtbewegung italienischer Juden in die Schweiz setzte erst verstärkt ein, nachdem Italien gegenüber den westlichen Alliierten im September 1943 kapituliert hatte. In der Folge behandelte Nazi-Deutschland den noch nicht von amerikanischen und britischen Truppen eroberten Norden praktisch wie ein besetztes Land unter dem Kommando der deutschen Wehrmacht.
Systematische Judenverfolgung
Unter der hastig gegründeten Republik von Salò, der nominell noch immer der zuvor abgesetzte und inhaftierte und danach von den Deutschen befreite Mussolini vorstand, setzte auch eine systematische Judenverfolgung in Norditalien ein. Im November 1943 erklärte die faschistische Partei die Juden zur „Feindnation“, obwohl ihr auch zahlreiche Juden und Weggefährten Mussolinis der ersten Stunde, wie Ettore Ovazza, angehört hatten. Dieser hatte Mussolini bereits 1938 nach den ersten rassistischen Kampagnen in den italienischen Medien in einem persönlichen Brief voll Bitterkeit geschrieben: „Das ist das Ende unseres Gefühls, eins zu sein mit dem italienischen Volk ... Wie viele sind Ihnen seit 1919 und bis heute mit Liebe gefolgt durch Schlachten und Kriege ... war alles nur ein Traum? Ich kann es nicht glauben.“
Im November 1943 wurde die Verhaftung und Einweisung aller Juden in KZs verfügt. 7500 Juden aus Italien landeten in deutschen KZs, nur einige hundert davon kehrten zurück. In Italien hatte Mussolini bereits ab 1940 48 Lager eingerichtet, das grösste davon in Ferramonti di Tarsia in Kalabrien. Wer dorthin kam, etwa der Wiener Komponist Kurt Sonnenfeld oder der deutsche Musiker Kurt Weil, hatte allerdings Glück im Unglück. Denn die Insassen wurden vom Wachpersonal mit grossem Respekt behandelt, wie Insassen später berichteten. Da auch hier ähnlich wie in Theresienstadt zahlreiche Künstler aus verschiedenen Nationen interniert waren, entstand trotz aller Entbehrungen ein reges Kulturleben mit Musik und Konzerten. Die 60 Insassen, die diese Zeit nicht überlebten, starben alle offenbar eines natürlichen Todes.
Der Musik, die in Ferramonti entstanden war, widmete Lugano zum Abschluss des Gedenkjahres einen beeindruckenden Konzertabend im neuen Kulturzentrum LAC als „Gelegenheit und Warnung vor allen Formen der Verfolgung damals wie heute und einer Würdigung an die Charakterstärke, den Mut, die Kreativität und der Würde der Verfolgten“.