Er war der Mann, den die freie Welt in der Bedrängnis des Jahres 1940 gebraucht hat. Doch wer war Winston Churchill, dieser vielleicht farbigste Staatsmann des 20.Jahrhunderts? Die Journalistin Franziska Augstein zeichnet das Bild eines sprunghaften, mit vielen Mängeln behafteten Politikers, wird aber der Grösse dieses Mannes durchaus gerecht.
Es war viel los in dieser Woche in der Normandie – dort, wo vor achtzig Jahren am sogenannten D-Day die Truppen der westlichen Alliierten gelandet sind, um das letzte blutige Kapitel des Zweiten Weltkriegs aufzuschlagen. US-Präsident Joe Biden war da, der britische Premierminister Rishi Sunak war da, der ukrainische Präsident Selenskyj, und natürlich Frankreichs Präsident Macron, welcher der Ukraine Mirage-Kampfflugzeuge für den Kampf gegen die russische Invasion versprach. Und die letzten von insgesamt etwa 346’000 Mann, die damals bei Caen und Cherbourg unter heftigem deutschen Feuer an Land gegangen sind, nachdem Hitlers Generäle mit Erfolg über den Ort der Landung getäuscht werden konnten.
Damals, an diesem 6. Juni 1944, wäre Winston Churchill auch gerne dabei gewesen. Und mit ihm König George VI. Ihr Ausflug auf eines der D-Day-Schiffe ist schon abgemacht, als des Königs Privatsekretär, Churchills militärischer Berater, US-General Eisenhower, der die Landung leiten soll, und der britische Admiral Ramsay unisono Einspruch einlegen: Sie alle halten den Plan des Spitzen-Duos für eine tollkühn-gefährliche Idee. So legt Ramsay formell sein Veto ein, und der einsichtige König schreibt einen charmanten Brief an Churchill, der ihn zum Umdenken bewegt. In sein Tagebuch notiert der König, Churchills «Egoismus» bereite ihm Sorgen: «Er scheint sich um die Zukunft nicht zu scheren oder darum, was alles von ihm abhängt.»
«Ein fast töchterliches Verhältnis»
Seit dem 10. Mai 1940, als Churchill vom König zum Premierminister berufen worden ist, obschon er im Parlament denkbar wenig Freunde hat, hängt in der Tat viel, sehr viel von ihm ab. Sein rhetorisches Talent ist es, das ihn und seine Landsleute durch einen anfangs sehr einsamen Kampf gegen ein übermächtiges Hitlerdeutschland trägt. Es sieht nicht gut aus, als Churchill sich arbeitswütig an Downing Street 10 einnistet: Hitler und Stalin haben einen Pakt geschlossen, die USA wollen sich nicht in den europäischen Krieg einmischen, das britische Commonwealth steht allein. Was Churchill in den folgenden Jahren schafft, und wie er es schafft, das ist einzigartig. Ein Mann, scheinbar am Ende seiner politischen Karriere angelangt, setzt an zum Höhenflug seines Lebens.
Doch wer ist dieser Winston Churchill? Das ist die Frage, der sich die Journalistin Franziska Augstein in ihrer Biographie ohne falschen Respekt, aber mit grosser Einfühlsamkeit stellt. Sie hat, wie sie selber feststellt, in den Jahren ihrer Beschäftigung mit Churchill «ein fast töchterliches Verhältnis zu ihm entwickelt». Sie habe ihn studiert, «wie eine jüngere Sekretärin ihren Chef beobachtet, den Politiker Winston Churchill, der schnell einmal explodiert, aber kurz darauf um Entschuldigung bittet».
Der Imperialist und Rassist
Die Biographie beschreibt einen Politiker, der mit Geburtsjahr 1874 noch tief im 19. Jahrhundert wurzelt und der ein «politischer Romantiker» war und bleibt und der sich von der Idee eines weltumspannenden britischen Empire auch nicht zu lösen vermag, als dieses Kolonialreich schon am Zerfallen ist. Im Urteil Franziska Augsteins ist Churchill ein Imperialist, zu dessen geistigem Rüstzeug eine erhebliche Portion zeitbedingten Rassismus kommt. Doch «bevor Leser dieses Buches die Entfernung aller Statuen, Büsten und Porträts von Churchill aus öffentlichen Räumen fordern», fügt sie hinzu, «sollten sie für sich die Frage beantworten, was mehr wiegt, sein Rassismus, den er mit Generationen seiner Zeitgenossen teilte, oder seine einzigartige Rolle während des Zweiten Weltkriegs.»
Wer dem Ersteren zuneige, müsse dann konsequenterweise auch mit dem ehrenden Angedenken an Mahatma Gandhi aufräumen: «Der grosse Mann des friedlichen Widerstands vertrat nämlich ebenfalls rassistisches Denken». Schon 1982 habe eine Historikerin festgestellt, Gandhi habe Ideen einer «reinen Rasse» angehangen. Sein Ziel sei nicht «die Überwindung der Schranken» zwischen den nach ihrer Hautfarbe klassifizierten Menschen gewesen, vielmehr habe er «die Weissen» dazu bewegen wollen, «die Inder auf ihrer Seite der Trennlinie zu akzeptieren».
Grossartig darin, seine Meinung zu ändern
Es ist eine abwechslungsreiche Reise durch Höhen und Tiefen eines einzigartigen Lebens, das erst 1965, im neunzigsten Lebensjahr, an sein Ende kommt, und auf die uns Franziska Augstein mitnimmt. Ein Heldenepos ist ihr sorgfältig erarbeitetes Buch nicht. Den Grundton setzt schon das Vorwort: «Winston Churchill war grossartig. Er war grossartig darin, seine Meinung zu ändern. Er war grossartig in seiner Sprunghaftigkeit, in seiner Ungeduld und seinem Opportunismus. Er war ein guter und ein mutiger Reiter, und eine Partei war für ihn wie ein Pferd, das ihn zu seinen Posten und Positionen trug. Daher sprang er aus dem Sattel der Konservativen in den der Liberalen und wieder zurück in den der Konservativen.» Und ausgerechnet dieser opportunistische Karrierist erwirbt sich als Premierminister den Ruf unbeirrbarer Verlässlichkeit.
Im Bemühen, dieses Rätsel zu lüften, gräbt Franziska Augstein tief. Sie erzählt von der Kindheit in Blenheim Palace, von den Jahren in von Sadisten geführten Eliteschulen, von der Armee, in der Winston Churchill auf den Schlachtfeldern des Empire seine Heimat findet. Sie erzählt vom Journalismus, über den er sich als Kriegsberichterstatter einen Namen und ein Vermögen erwirbt. Sie leuchtet in die ausserordentlich dauerhafte Beziehung zu Clementine, seiner so gegensätzlichen Ehefrau, und erzählt von den Abenteuern, die Churchill immer wieder sucht. «Alles geht in Richtung Katastrophe & Zusammenbruch», schreibt er Ende Juli 1914 angesichts des nahenden Ersten Weltkriegs an seine Frau: «Ich bin animiert, bereit & fröhlich.»
Hitlers Antisemitismus stösst ihn ab
Churchill ist da schon Politiker, schwungvoll geschriebene Bücher haben ihn bekannt gemacht. Bei Gallipoli in der Türkei wird er 1915 als Chef der Marine ein militärisches Desaster anrichten und zurücktreten müssen, auch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg droht seine Karriere immer wieder im Nichts zu enden. Bis Premierminister Neville Chamberlain 1940 den Hut nimmt, nachdem seine Politik des «Appeasement», des Entgegenkommens Hitler gegenüber gescheitert ist. Während Churchill Mussolini sehr schätzt, stösst ihn Hitlers Antisemitismus ab, früh setzt er sich dafür ein, angesichts der drohenden Gefahr die britischen Streitkräfte aufzurüsten. Jetzt, im Krieg, sucht er die Nähe zum grossen Bruder USA und dessen Präsident Franklin Delano Roosevelt. Er weiss: Allein wird Grossbritannien nicht durchhalten können. Und Hitler kommt ihm entgegen, indem er die Sowjetunion angreift: Jetzt sitzt Stalin mit im Boot der angelsächsischen Mächte.
Heute, da Russland auf Kriegszug gegen die Ukraine ist, liest man das alles mit anderen Augen. Man fragt sich: Kann es gelingen, die Grossmacht im Osten zurückzudrängen? Und findet zwar keine Antwort, aber doch eine gewisse Ermutigung in der Geschichte. Denn da ist Wolodimir Selenskyj, Präsident der Ukraine, dessen Beredsamkeit und Entschlossenheit in vielem an Churchill erinnert –, den die Briten übrigens am Ende des Krieges zunächst einmal abgewählt haben, weil sie ihn nicht für fähig hielten, die enormen sozialen Probleme des hoch verschuldeten Landes anzupacken. Da war der Sprunghafte dann nicht mehr der richtige Mann.
Franziska Augstein: Winston Churchill. München: dtv, 2024, 615 Seiten