Wenn am Mittwochmorgen, 9. Dezember 2015 die Vereinigte Bundesversammlung die Gesamterneuerungswahl des Bundesrats vornimmt, wird es spannend: Erhält die SVP ihren seit acht Jahren geforderten zweiten Bundesratssitz, so muss sie ihre Trotzphase und das Kesseltreiben gegen den Bundesrat aufgeben. Das Volk wird dann erwarten, dass diese Volkspartei Verantwortung innerhalb der Kollegialbehörde übernimmt. Da sich die SVP zudem öffentlich zur Konkordanz bekennt, heisst das gleichzeitig, dass sie die Hand reichen muss für Lösungen. Kooperation statt Konfrontation erfordert dann allerdings eine neue mediale SVP-Botschaft: Support statt Diffamierung des Bundesrats.
Eveline Widmer-Schlumpf: Grösse bewiesen
Würden bei der Bundesratswahl Qualifikation, Charakterstärke und Dossierkenntnis der Kandidierenden eine Rolle spielen, hätten wir einen starken Bundesrat. Eigentlich sollten wir ja davon ausgehen können, die Parlamentarier honorierten solche Qualitäten. Böse Zungen behaupten allerdings, nicht wenige dieser Wahlberechtigten hätten ein anderes Ziel vor Augen.
Eveline Widmer-Schlumpf hat nach acht Jahren als Bundesrätin nochmals Grösse bewiesen: Sie trat zurück, um der Vereinigten Bundesversammlung ein peinliches Schauspiel zu ersparen. Nicht auszudenken, welch unwürdiges und abgekartetes Spektakel über TV und Radio ausgestrahlt worden wäre. Widmer-Schlumpf hat ihre Arbeit geleistet, sie hat Probleme gelöst statt verursacht, sie hat für die Schweiz gehandelt und nicht primär für eine politische Partei. Jetzt ist sie abgetreten, Chapeau! Und grossen Dank für diese Leistung! Der «Weltwoche» geht ein «ewiges» Thema verloren, oder sollte man besser sagen: ein Nebenkriegsschauplatz, um von Substanziellem abzulenken?
Die Wundertüte Konkordanz
Viel war in den letzten Monaten von Konkordanz – der Zauberformel – die Rede. In den Begriff wurde, je nach Parteibuch, ein ganzer Strauss unterschiedlicher Interpretationen hineingestopft. Nicht immer kannten wir dieses echt schweizerische System. Geburtsstunde waren jene schwierigen Jahre, als im 20. Jahrhundert Kriegs- und Krisenzeiten gebieterisch nach der Formel «alle ziehen am gleichen Strick» riefen und es gelang, alle massgeblichen Kreise im Land zu vereinen.
Seither ist die Zauberformel zum Mythos verkommen. Es sind heute dieselben Kreise, die laut nach einer Wiederbelebung der Konkordanz rufen, im Alltagsgeschäft aber Polarisierung und Konfrontation auf ihre Fahnen schreiben und ihnen unbequeme Lösungen konsequent bekämpfen. Die Zeiten heute sind eben nicht mit jenen vor 75 Jahren zu vergleichen. Zum Glück. Es ist allerdings schade, dass wir anscheinend schlechtere Zeiten brauchen, um vernünftiger zu werden.
Ende des Schweizer Sonderfalls
Die gleichen politischen Kreise, die mit Vorliebe den «Sonderfall Schweiz» bemühen, haben diesen in den letzten Jahren selbst vom Tisch gewischt. Das Mantra Konkordanz, Souveränität, Föderalismus existiert nur noch als politische Propaganda. Im europäischen Vergleich sind die SP radikaler links und die SVP strammer rechtsnationalistisch als die Mehrheit ihrer wichtigsten Schwesterparteien. Nun gibt es natürlich Stimmen, die diese Entwicklung als Vorteil bezeichnen. «Unsere Wähler erwarten das», sagen sie.
Wie Professor Daniel Bochsler (Zentrum für Demokratie Aarau), und die Professorinnen Regula Hänggli (Universität Freiburg) und Silja Häusermann (Universität Zürich) konstatieren, ist das typisch schweizerische Element politischer Stabilität durch einen parlamentarischen Aktivismus ersetzt worden, in dem allzu oft auch der Wille für Allianzen abhandengekommen ist.
Was alles nicht einfacher macht: «International steht die Schweiz institutionell im Abseits. In wichtigen Politikbereichen, etwa in der Bankenpolitik, fehlt ihr zudem eine Strategie, sodass die Akzente von aussen gesetzt werden. (…) Die entzauberte Schweizer Demokratie ist unberechenbar geworden.» (Schweizer Zeitschrift für Politikwissenschaft)
Mit den Eidgenössischen Wahlen dieses Herbstes sind die polarisierenden Kräfte im Land weiter gestärkt worden. Man kann darüber denken, was man will. Für Eric Gujer (NZZ) ist das «Rückkehr zur Normalität».
Macht der Verwaltung
Wie immer sich der Bundesrat neu zusammensetzen wird, eines ist klar: In der Machtzentrale Bundeshaus nimmt der Einfluss der Verwaltung laufend zu. Zwar erhoffen sich die Konkordanzparteien nach dem 9. Dezember verständlicherweise einen Machtzuwachs ihrer Einflusssphäre, doch sind sich Experten längst einig, dass in Tat und Wahrheit die Macht der Verwaltung laufend steigt. Der «Tages-Anzeiger» hat kürzlich bei verschiedenen Insidern nachgefragt: Tendenziell nimmt der Einfluss des Parlaments ab – trotz vermehrter Ablehnung ganzer Bundesratsvorlagen. Die Macht des Bundesrats wird als ziemlich stabil bewertet (30 bis 40 Prozent der Macht).
Zwei Gründe für diese Entwicklung, die auch vom neuen Bundesrat nur wenig zu beeinflussen sein werden, stehen im Vordergrund. Erstens: Zahl und Komplexität der Geschäfte nehmen laufend zu. Da ist die Verwaltung gegenüber Bundesrat und Parlament klar im Vorteil. Milizparlamentarier können da oft nicht mehr mithalten.
Zweitens: Der Einfluss des Auslands auf die schweizerische Politik wird immer grösser. Die Übernahme von Gesetzen und Reglementierungen mit immer engerem nationalem Gestaltungsraum (Bankgeheimnis, Bankenregulierung, Unternehmenssteuerreform als Beispiele) prägt zunehmend die Politik.
Drohung mit Parteiausschluss
Für Stirnrunzeln am Vorabend der Bundesratswahlen sorgen zwei Eigenheiten des SVP-internen Kürungsrituals. Wer das Vorschlags- und Eliminierungsprozedere genauer durchleuchtet, kann feststellen, dass schon die SVP-Statuten verfassungswidrig sind. Zu diesem Urteil kommt Philippe Mastronardi, emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen in der NZZ.
Zwar ist die SVP ein privater Verein, der seine Statuten selbst bestimmen kann. Doch gleichzeitig verletzt die SVP mit ihrem Vorgehen das passive Wahlrecht der Kandidierenden und das aktive Wahlrecht der National- und Ständeräte. Mit der Androhung des Parteiausschlusses eines nicht genehmen Kandidaten aus den eigenen Reihen will die Parteileitung selbst bestimmen, wen die Vereinigte Bundesversammlung wählen kann. Mastronardi konstatiert: «Die SVP-Statuten sind auch verfassungswidrig, da sie das Instruktionsverbot und die Wahlkompetenz der Vereinigten Bundesversammlung verletzen. Zudem verletzt die Bestimmung in den SVP-Statuten die Kompetenzordnung der Bundesverfassung. Sie ist daher auch aus diesem Grunde nichtig.»
Ein taktisches Dreierticket
Die in der Zwischenzeit abgelaufene parteiinterne Bestimmung der Kandidaten trug, entgegen der behaupteten demokratischen Offenheit, die Züge eines verschleierten zentralistischen Diktats. Zwar durften die kantonalen Parteizentralen während Wochen ihre Favoriten an die Findungskommission melden. Nach diesem Schaulaufen waren es elf Kandidaten. Nach einer ersten Sichtung der Zentrale verblieben noch sieben im Rennen. Vier waren schon mal nicht genehm, aus was für Gründen auch immer.
Die «unverbindlichen» Empfehlungen eben dieser Zentrale schlugen in der Folge der eigenen Wählerversammlung ein Dreierticket vor, auszuwählen aus den verbliebenen sieben Kandidaten. Einer aus jeder Landesgegend, hiess es – endlich denkt jemand daran, dass die Schweiz aus mehreren Sprachregionen besteht! Dass hier Männer aus dem Welschland und dem Tessin figurieren, die national wenig bekannt sind, liess schon damals durchschimmern, worum es der Fraktionsspitze tatsächlich ging. Der innere Parteizirkel hatte sich schon längst festgelegt. Das Vorgehen verrät eine ausgesprochen autoritäre Tendenz. «Hier das Volk, dort die Partei», titelte die NZZ in einem grundsätzlichen Artikel zum Verhalten der selbsternannten Volkspartei, respektive deren Spitze.
Aeschi, Parmelin, Gobbi heisst das offizielle Dreierticket. Ein Zögling Blochers, der «immer im Sinne der Landwirtschaft gestimmt hat und sogar stolzer Besitzer einer Kuh ist», wie Aeschi über sich selbst in der NZZ sagt. Ein Weinbauer aus dem Waadtland, der von sich selbst in «24 Heures» sagt: «Ich werde die Ideen der SVP im Bundesrat mit aller Kraft verteidigen.» Ein Provokateur der Lega aus dem Ticino, der in der Tessiner Zeitung verkündet: «Ich sehe mich als ein Brückenbauer über den Rösti- und den Polenta-Graben.» Ausgerechnet.
Eine verheissungsvolle Auswahl, sollte sich die Vereinigte Bundesversammlung daran halten. Toni Brunner droht schon mal: «Wer jetzt noch Spiele treibt, handelt gegen das Interesse des Landes.»