In einer Atmosphäre der Ungewissheit tagte in der vergangenen Woche der Expertenrat, jenes Verfassungsorgan, das den Revolutionsführer bestimmt. Die Wahl eines neuen Führers stand zwar noch nicht zur Diskussion, doch die Weichen für die Zeit nach Khamenei sind schon gestellt.
Steht der Iran bald vor der Wahl der Wahlen, wird das höchste Organ der Islamischen Republik schon in diesem Jahr einen Nachfolger für den iranischen Revolutionsführer Ali Khamenei (im Bild) wählen müssen? Diese Frage überschattete die Sitzung des Expertenrates, einer Versammlung von 73 greisen Klerikern, die am vergangenen Dienstag in Teheran zusammenkamen. Dieses von der Öffentlichkeit kaum beachtete Verfassungsorgan, das alle acht Jahre gewählt wird und nur zweimal im Jahr zusammentritt, hat die Aufgabe, am Tage X einen neuen Führer zu wählen.
Diesen Tag der Tage hat es in der Islamischen Republik nur einmal gegeben, vor 28 Jahren, als Republikgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini starb. Die Wahl eines neuen Führers stand beim jüngsten Treffen des greisen Gremiums nicht auf der Tagesordnung. Dafür aber die ausserordentliche Neuwahl eines Präsidenten des Expertenrates selbst; sein alter Präsident Reza Mahdawi Kani war vor fünf Monaten gestorben. Doch auch diese Wahl wurde diesmal zu einem Politikum ersten Ranges, einem Kräftemessen für die Zeit nach Khamenei. Denn sie fand in einer Atmosphäre der Ungewissheit über Khameneis Gesundheit statt.
Verschwiegene Krankheit, hilflose Reaktionen
Zwei Wochen vor der Sitzung des Expertenrats hatte die französische Tageszeitung Figaro gemeldet, der 75-jährige Khamenei sei sterbenskrank, Krebsmetastasen hätten sich in seinem Körper ausgebreitet, er falle oft ins Koma und habe nach Ansicht der Mediziner höchstens noch zwei Jahre zu leben. Eine überprüfbare Quelle für diese Meldung nannte Figaro nicht. Trotzdem verbreitete sich die Nachricht samt den dazugehörigen Analysen und Spekulationen rasch auf zahlreichen Webseiten. Als Beweis für die rapide Verschlechterung von Khameneis Gesundheit veröffentlichte der ehemalige iranische Staatspräsident Bani Sadr auf seiner Webseite vier kurze Audiodateien, die zeigen sollten, wie schwächlich und kränklich der Führer bei seinen Auftritten wirkt.
Für die staatlichen Medien jedoch war weder dies ein Thema noch die Gedankenspiele, wer bald die Geschicke des Iran bestimmen würde. Während zwei Wochen lang die Machtastrologen der Islamischen Republik über den Nachfolgekampf, über die kommende Person und ihre Politik debattierten, veröffentlichten die radikalen Medien alte Ansprachen Khameneis über wichtige innen- und aussenpolitische Themen. Doch dieses demonstrative Schweigen zur eigentlichen Kernfrage war kontraproduktiv, es nährte und mehrte weitere Spekulationen - zumal sich Khamenei seit seiner Operation im vergangenen September immer weniger und kürzer in der Öffentlichkeit zeigt. Es verging nach dem Figaro-Bericht eine Woche - eine gefühlte Ewigkeit -, bis Sadegh Kharrazi, ein einflussreicher Verwandter Khameneis, die Zeitungsmeldung nebulös dementierte, und es verging wieder eine Woche, bis der Ayatollah eine Audienz gab, in der er über die Umwelt redete. Endlich ein deutliches und unverfälschtes Lebenszeichen. Das war zwei Tage vor der Sitzung des Expertenrats.
Wer soll das Land führen?
Der Führer lebt und führt, aber wie lange noch, und wer und was sollen ihm folgen? Über diese Gedankenspiele kann man aus iranischen Medien, mal zwischen den Zeilen, mal offen, viel erfahren. Eine Woche vor dem Treffen des Expertenrats brachte Ex-Präsident Rafsandjani in einem Interview die alte Idee eines Führungsrates, bestehend aus drei oder fünf Ayatollahs, wieder ins Gespräch.
Seine Gegner schossen umgehend zurück, in der Islamischen Republik gelte das Prinzip der „Herrschaft des Gelehrten“, was nur mit einer einzigen Person möglich sei. Einmannbetrieb oder kollektive Führung? Wie ein Gespenst schwebte diese Frage durch das Parlamentsgebäude aus der Schah-Zeit, in dem sich die Mitglieder des Expertenrates am vergangenen Dienstag trafen. Diese Experten tragen alle den Titel eines Ayatollahs, sie fungieren in ihren Wahlbezirken als Vertreter der Zentralmacht, sind entweder Freitagsprediger oder Richter oder sogar Provinzgouverneure. Auch Hassan Rouhani, der heutige Staatspräsident, gehörte einst diesem nach der Verfassung höchsten Organ der Republik an.
Das letzte Wort haben die Revolutionsgarden
Um den Vorsitz des Rates konkurrierten bei der Wahl der gemässigte Expräsident Hashemi Rafsandjani und der Erzkonservative Mohammad Yazdi, zwei alte Rivalen, beide jenseits des achtzigsten Lebensjahrs. Vordergründig kämpften sie um den Präsidentenstuhl des Gremiums, doch in Wirklichkeit ging es um den Weg der Islamischen Republik nach Khameneis Tod. Wer soll nach ihm an der Spitze des Gottesstaates stehen? Ein einziger Ayatollah oder ein Rat der Gelehrten, wie es Rafsandjani vorschwebt? Es sind nicht die greisen Ayatollahs allein, die über eine solche schicksalhafte Frage entscheiden. Um jegliche Missverständnisse auszuräumen, kündigten die Medien eine Woche vor der Versammlung des Expertenrates an, General Mohammad Ali Djafari, Oberkommandeur der Revolutionsgarden, werde Hauptgastredner der Sitzung sein. Djafari kam, sprach und beseitigte alle Unklarheiten: „Für die Verteidigung der Werte der Islamischen Republik im Inneren und den Export der Revolution nach Aussen sind wir zuständig, den künftigen Weg werden die Revolutionsgarden bestimmen“, machte er deutlich.
Damit war klar, wohin die Reise geht: Für Ex-Präsident Rafsandjani endete die Wahl mit einer Niederlage, für ihn stimmten nur 24 Mitglieder. „Für den Moment X muss ich nicht unbedingt Präsident des Rates sein. Ich kann auch als einfaches Mitglied viel erreichen“, beruhigte Rafsandjani danach seine Anhänger. Und: In einem Jahr wird ganz turnusgemäss ein neuer Expertenrat gewählt. Ob dann der 82-jährige Rafsandjani noch dazugehören wird, steht aber in den Sternen.