Von Gottfried Keller ist gegenwärtig landauf, landab die Rede: von seiner literarischen Bedeutung, aber auch von der Rolle, die er als politischer Denker seiner Zeit innehatte. Ob „Grüner Heinrich“, „Martin Salander“ oder „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ – ein jeder und eine jede findet in seinem Werk etwas, was ihm, was ihr besonders wichtig, besonders aktuell erscheint.
Eine kleine Schrift, zu der ich immer wieder zurückkehre, ist das „Bettagsmandat“ aus dem Jahr 1867. Als Keller, damals Staatsschreiber des Kantons Zürich, es schrieb, lag die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates gerade mal 19, der Sonderbundskrieg 20 Jahre zurück. Keller wusste also, wie prekär die Situation gewesen war, aus der die Schweiz von heute hervorging, und wie wenig selbstverständlich es war, dass sie überhaupt existierte.
Nichts war in Stein gemeisselt, nichts ein für allemal garantiert. Denn, so heisst es in dem Schreiben, das Keller zum Bettag des Jahres 1867 veröffentlichte: „Wenn der grosse Baumeister der Geschichte in unserem Bundesstaate nicht sowohl ein vollgültiges Muster als einen Versuch im kleinen, gleichsam ein kleines Baumodell aufgestellt hat, so kann derselbe Meister das Modell wieder zerschlagen, sobald es ihm nicht mehr gefällt, sobald es seinem grossen Plane nicht mehr entspricht.“
Nein, so schreibt keiner, der sich seiner Sache hundertprozentig sicher wäre. Obwohl seinem Land in innig-feuriger Liebe verbunden, war Keller sich im Klaren darüber, dass dieses Konstrukt namens Schweiz gefährdet war und jederzeit wieder auseinanderbrechen konnte, wenn es den eigenen Idealen nicht mehr entsprach.
Dieser Gedanke sei jedem ins Stammbuch geschrieben, der demnächst am 1. August vor versammelter Festgemeinde über die Schweiz und über 1291 als deren Geburtsstunde spricht. Das Land, in dem wir heute leben, ist nicht auf der Rütliwiese entstanden, sondern es ist aus den politischen und konfessionellen Wirren des 19. Jahrhunderts hervorgegangen. Es ist ein Akt des Willens und das Resultat von Kompromissen, die schwerer wiegen als alles mythische Geraune von Tyrannenmord und nächtlichem Schwur, das Schiller uns hinterlassen hat. Dass diese Idee der Schweiz, die auch Keller teilte, allen Kriegen und politischen Umwälzungen zum Trotz bis heute Bestand hat, dafür sollten wir dankbar sein. Das sollten wir am 1. August feiern im Wissen, dass die Schweiz ein Modell ist, dem Sorge zu tragen erste Pflicht sein muss.