In meiner Bibliothek stehen mehrere Bücher von Noam Chosmky. Mit dem inzwischen pensionierten Linguistik-Professor konnte ich 1979 ein Gespräch führen. Chomsky weckte damals Aufsehen, weil er als „seriöser“ Wissenschaftler in die politische Arena stieg und gegen den Vietnam-Krieg protestierte. Chomsky gehörte zu den schärfsten Kritikern „der Techniker des Apparates und der Macht“ in den USA. Die „liberale Intelligenz“, wie Chomsky die Technokraten nannte, hätte es wirksam verstanden, alle Machtfragen zu sogenannten rein technischen Problemen von Spezialisten und Experten zu reduzieren. Dem Volk, weil nicht spezialisiert, sei es nur erlaubt, bei den Wahlen ein Team von Technokraten durch ein anderes zu ersetzen.
Immer weniger kritische Geister
Als Linguist, Publizist und Aktivist veröffentlichte Chosmky mehr als einhundert Bücher. Bedeutend sind insbesondere seine medientheoretischen Arbeiten wie „Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media“. Dieses Werk hat er zusammen mit dem amerikanischen Medienanalysten Edward S. Hermann publiziert. Leider gehören Menschen wie Noam Chomsky im 21. Jahrhundert zu einer aussterbenden Art. Viele intellektuelle Mitdenker und Gefährten Chomskys sind gestorben, wie etwa der kritische US-Historiker Howard Zinn oder der palästinensische Literaturkritiker Edward Said.
Wer Dissident ist, bestimmt die Gesellschaft
2018 ist ein neues Buch über Noam Chomsky erschienen. Der bald 90-jährige Chomsky führt ein Gespräch mit dem 1991 geborenen Journalisten Emran Feroz (1). Den Interviewer und Interviewten trennen also Generationen. So ist der Kalte Krieg für Feroz bereits Geschichte, während die gleiche Periode Noam Chomsky zutiefst geprägt hat. Im Gespräch mit Feroz befasst er sich ausführlich mit dem Begriff „Dissident“. „Wie Dissidenten wahrgenommen werden, hängt von der Gesellschaft ab“, meint Chomsky.
Dazu gibt Chomsky folgendes Beispiel: Zur Zeit des Kalten Krieges war Vaclav Havel wegen seiner Weigerung, sich dem kommunistischen System unterzuordnen, inhaftiert worden. In El Salvador, wo ein heftiger Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion gewütet hatte, waren 1989 sechs führende Intellektuelle – sie hatten dem Orden der Jesuiten angehört – von einer Militärjunta ermordet worden. Das Militärregime war von den USA unterstützt und bewaffnet worden. Chomsky stellt fest: „Menschen wie Vaclav Havel werden zu Recht geehrt, doch seine Gegenstücke in unseren eigenen Breitengraden sind unbekannt geblieben.“
Weltweit anerkannt – zu Hause marginalisiert
Das hat Noam Chomsky auch ganz persönlich erfahren müssen: Als amerikanischer Dissident wurde er weltweit anerkannt, in den grossen amerikanischen Medien jedoch praktisch totgeschwiegen. Auf ein ähnliches Phänomen machte Chomsky in seinem 1967 erschienenen Buch „Amerika und die neuen Mandarine“ aufmerksam: „Wir alle wissen, dass wir vor moralischer Empörung platzen würden, wenn Russland oder China dessen schuldig wären, was wir in Vietnam getan haben.“
Chomsky war Professor am berühmten „Massachusetts Institute of Technolgy“ (MIT) in Boston. Seit 2017 wohnt er in Tucson im US-Bundesstaat Arizona. Tucson liegt nahe der mexikanischen Grenze. Hier kann Chomsky die verheerenden Folgen der amerikanischen Interventionen in den Ländern von Zentralamerika beobachten.
Es begann mit dem vom amerikanischen Geheimdienst CIA unterstützten Sturz des Reformpolitikers Jacobo Arbenz 1954 in Guatemala. Dann folgte der Bürgerkrieg in El Salvador (1980–1991), der über 70’000 Opfer gefordert hat – bei einer Bevölkerung von damals etwa 4,5 Millionen. Und heute ist Honduras das Hauptursprungsland der Migration ins „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Zur Erinnerung: Die USA hatten 2009 in Honduras einen Militärputsch unterstützt. Der gewählte Präsident wurde aus dem Amt gejagt. Es gab gefälschte Wahlen, gefolgt von einer Herrschaft des Schreckens.
Was Chomskys Kritiker sagen
Chomskys Thesen seien vorhersehbar oder zu monolithisch, behaupten seine Kritiker. Sie verweisen zum Beispiel auf den Umstand, dass es in den USA durchaus heftige Debatten zwischen einer isolationistischen und einer expansionistischen amerikanischen Aussenpolitik gebe. Die Antworten Chomskys im Gespräch mit Emram Feroz bleiben tatsächlich oft oberflächlich. Ein hartnäckiges Nachfragen des Gesprächsführers wäre wünschenswert gewesen.
Dennoch: Im neuen Buch sind bisher unbekannte Seiten aus Chomskys Leben zu erfahren. Zum Beispiel: Sein Vater, William Chomsky, stammte aus der Ukraine und war ein bekannter Gelehrter der hebräischen Sprache. In Chomskys Stammbaum gab es viele konservative Juden, andere hingegen hatten einen Hang zum Sozialismus und zur Arbeiterbewegung.
Einsatz für Minderheiten und gegen Rassimus
In der vorwiegend deutsch-irischen Nachbarschaft in Philadelphia, in der Chomsky aufgewachsen ist, gab es nur wenige jüdische Familien. Hier machte Chomsky seine ersten Erfahrungen mit dem alltäglichen Antisemitismus. Erlebnisse, die Chomsky bis heute prägen. Sie gehören ohne Zweifel zu den Gründen, warum sich Chomsky stets für Minderheiten einsetzt und vor Rassismus und Faschismus warnt.
Trotz seiner jüdischen Wurzeln pflegt Noam Chomsky ein ambivalentes Verhältnis zum jüdischen Staat. Für jene, welche die israelische Besatzungspolitik unterstützen, gilt Chomsky bis heute als „Israelhassser“ oder als „selbsthassender Jude“. Obwohl sich Noam Chomsky selbst seit jungen Jahren als nicht religiös bezeichnete, ist sein Umgang mit Religion und Religiosität von grossem Respekt und Toleranz geprägt.
Umso kritischer sieht Chomsky allerdings jene evangelikalen Christen, welche heute die US-amerikanische Politik mitbestimmen und deren fanatischer Weltherrschaftswahn in der Person von Donald Tump mittlerweile das Weisse Haus erreicht hat.
(1) Noam Chomsky, im Gespräch mit Emran Feroz: Kampf oder Untergang. Frankfurt /Main, Westend-Verlag, 2018. CHF 25.90