Darf man im Alter nicht auch spielen? Zumal, wenn einem die Gegenwart unerfreulich, ja unerträglich wird? Das tat Richard Strauss, als er 1940–1941 seine letzte Oper «Capriccio» komponierte. Eine raffiniert ironische Rückbesinnung auf das, was an einer Oper das Wichtigste sein könnte: der Text oder die Musik? Oder gar die theatralische Einrichtung?
Seit der Entstehung der Oper als eine dramatische Gattung, begleitet und getragen von Musik, war das Verhältnis zwischen Wortpoesie und Tonkunst ein heiss debattiertes. Eine Musik, die die Bedeutung und Schönheit der Worte übertönt und zudeckt, sodass diese unverständlich werden, konnte nicht die Lösung sein. Eine sprachliche Priorität, welche die Musik allein zur szenisch auflockernden Bereicherung des Wahrnehmungshintergrunds degradierte, war wohl auch nicht die optimale Variante. Was sollte in einer geglückten Oper also unbedingt Vorrang haben?
Wir wissen: Es gibt Opern mit penibel anspruchslos dummen Libretti und packender, alle Textschwächen unbedeutend erscheinen lassender Musik. Und es gibt andererseits genial poetisch-dramatische Texte, die unter einfallslos dahinplätschernder Musik schnell wieder aus dem Repertoire der Opernbühnen verschwunden sind und – in heutiger Betrachtung – zu Recht dem Vergessen anheimfallen. Das Ideal einer Oper scheint also zu sein: eine dramatisch-poetisch formulierte Geschichte, getragen von einer hinreissend komponierten und interpretierten Musik, inszeniert in einer Art, in der Text und Musik in gleicher Weise einander fördern und erhöhen.
Die Streitfrage über das Primat zwischen Wort und Ton in der Oper wird im 18. Jahrhundert explizit, als der Komponist Antonio Salieri auf einen Text seines Landsmannes Giovanni Battista Casti mit dem Titel «Prima la musica e poi le parole» die Antwort zu geben schien. Das kann natürlich ein viel von sich haltender Dichter nicht einfach hinnehmen und diese ihm zugemutete Dienerfunktion unwidersprochen schlucken. Da kommt einem die Antwort des Philosophen Immanuel Kant in den Sinn, der auf die Behauptung eines Gottesgelehrten, die Theologie habe die Herrin, Philosophie deren Dienerin zu sein, entgegnete: Es mache aber einen grossen Unterschied, ob die Dienerin die Licht und Sicht spendende Kerze der Vernunft der Herrin voraus oder ihr nur «die Schleppe hinterher trage». Vergessen wir nicht: Für viele Komponisten wurde die Lektüre eines poetisch überzeugenden Textes erst zur Initialzündung und Inspiration für ihre darauf entstehende Komposition.
Die Variante des 20. Jahrhunderts
Die Idee für diesen Stoff über das Primat von Wort oder Musik hatte Richard Strauss von Stefan Zweig erhalten, der der Librettist seiner 1935 in Dresden uraufgeführten Oper «Die schweigsame Frau» gewesen war. Inzwischen herrschten in Deutschland die Nationalsozialisten mit ihrem sich immer mehr radikalisierenden menschenverachtenden Rassenwahn. Richard Strauss, der als mittlerweile Weltruhm geniessender Komponist 1933 sich in eindeutig politischer Naivität und grossbürgerlich opportunistischem Mitläufertum von Hitler und seinen Kohorten als Präsident der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer hatte einspannen lassen, musste sich nach neuen Textlieferanten umschauen. Ein Jude als Librettist: nunmehr undenkbar!
Stefan Zweig hatte sich auch als «österreichischer Jude» bereits 1934 ins Exil nach London begeben, nachdem man seine Bücher seit 1933 in Deutschland verbrannte und sein Name danach auf die Liste verbotener Autoren gesetzt worden war. Strauss bat zunächst den Librettisten Josef Gregor, die Aufgabe zu übernehmen. Er bemerkte aber bald, dass dessen Fähigkeiten seinen Erwartungen ganz und gar nicht entsprachen und übernahm dann eine Weile selbst die Aufgabe des Schreibers. Aus der Patsche half ihm schliesslich der mit ihm befreundete, scharfsinnig-witzige, literarisch hochgebildete Dirigent Clemens Krauss, der Ende Januar 1940 ihm auch ein Libretto ganz nach seinem Gusto liefern konnte mit dem Titel «Capriccio».
Strauss machte sich in den Jahren 1940–41 auch gleich an die Vertonung. Die Première von «Capriccio» fand am 28. Oktober 1942 in München statt. Dieses «Konversationsstück für Musik», so einzigartig es in seinem Raffinement und meisterlichem Spätstil von Richard Strauss auch sein mag: Man kann es heute schwerlich losgetrennt von den damaligen Zeitumständen hören. Am 20. Januar 1942 fand die sogenannte «Wannseekonferenz» unter der Leitung von SS-Obergruppenführer Heydrich statt, auf der die Deportation und Vernichtung aller europäischen Juden geplant wurde. Am 23. Februar nahm sich der Anreger dieses Opernsujets, Stefan Zweig, in Petropolis bei Rio de Janeiro das Leben, weil er und seine zweite Frau Charlotte nach dem Verlust der «geistigen Heimat Europa» im Exil nicht weiterleben wollten. Ein Jahr nach der Première von «Capriccio» sollte 1943 auch das ganze Münchner Nationaltheater durch die Bomben der Alliierten in Schutt und Asche gelegt werden.
Darum kann man dieses heitere Spiel und diese Flucht aus der eigenen Realität in die Zeit des Ancien Régimes nicht hören, ohne die schweren Begleitschatten der Entstehungszeit mit im Auge zu haben. Nach der Bombardierung der Münchner Oper soll Strauss resignierend notiert haben: «Der Brand des Münchner Hoftheaters (…), wo mir am Ende des Lebens 10 Straussinscenierungen Erfüllung kühnster Autorenträume brachten – es war die grösste Katastrophe, die je in mein Leben eingebrochen ist, dafür gibt es keinen Trost.»
Altersinspiration vom Feinsten
Dies gesagt, muss man aber zugeben: «Capriccio» gehört – zusammen mit den «Metamorphosen» und den «Vier letzten Liedern» – zu den wahren Höhepunkten in der Spätphase des an Erfolgsgeschichten reichen Lebens des Erzmusikanten aus Garmisch. Strauss hatte eine wahre Spürnase für Drama auf der Bühne einerseits, für sinnliche Verzauberung durch Musik und Tanz andererseits. In dieser seiner letzten Oper gilt dies vom Streichsextett als Salonmusik an deren Eingang bis zur grossartigen Schlussszene mit der Gräfin Madeleine, die einen Horror vor Entscheidungen hat, die man am Ende als «trivial» taxieren könnte, sogar und vor allem in Liebesangelegenheiten.
Die Handlung dieser 13 pausenlos hintereinander folgenden Szenen ist rasch erzählt. Die schöne Gräfin, eine reiche Witwe, wird von zwei Verehrern angebetet, dem Musiker Flamand und dem Dichter Olivier. Sie soll sich nun entscheiden, welchem von ihnen sie ihre Zuneigung und den Vorzug in ihrer Liebe schenkt. Weitere wichtige Figuren sind der Bruder der Gräfin, ein Abenteurer, der einer Schauspielerin nachsteigt. Dazu ein Theaterdirektor namens La Roche, der eine verborgene Huldigung an den grossen Regisseur und Intendanten Max Reinhardt ist, und die Anwesenden darüber in eindeutiger Weise aufklärt, wer auf einer Theater- oder Opernbühne definitiv die Entscheidungen trifft.
Zu den köstlichen Nebenfiguren im Geschehen – es spielt sich alles in einem feudalen Rokoko-Schloss in der Nähe von Paris ab – gehören reich karikierte Gestalten wie eine italienische Sopranistin und ein italienischer Tenor, dazu der Souffleur des Schlosstheaters, ein Monsieur Taupe, übersetzt: ein Herr Maulwurf, der unter dem sichtbaren Teil der Welt werkelt und wirkt und vor allem, wenn er präsent sein sollte, vor sich hin schläft. Wir merken schon: Es handelt sich um eine Oper über das Wesen der Oper, mit höchst vergnüglichen Divertissements, mit einem «Lach-Ensemble» und einem «Streit-Ensemble» und ebenso mit einigen in Opern der vollendeten Art erforderlichen Tanzeinlagen. Gäbe es diese Oper nicht schon längst, man müsste sie sogleich wieder neu erfinden!
Ein Sonett im Mittelpunkt
Während zweieinhalb Stunden wird zwischen den Protagonisten aus je unterschiedlicher Sicht um die Frage gerungen, ob Musik den Zauber eines Gedichtes zerstöre, oder aber erst zum Leuchten bringe. Im Zentrum dieses «Für und Wider» steht ein Gedicht – de facto nicht vom anwesenden Poeten Olivier, sondern vom Klassiker Pierre de Ronsard aus dessen «Amours» (1552).
In diesem Huldigungsgedicht auf seine Geliebte sagt der Dichter – hier in freier Wiedergabe: Nichts anderes würde in seinem Herzen so lodern und brennen wie die Liebe zu der von ihm verehrten Dame. Selbst wenn Venus aus dem Himmel heruntersteigen würde: nur die Augen seiner Geliebten, Zustimmung oder Verweigerung signalisierend, würden über sein Leben oder seinen Tod entscheiden. Würde er auch über fünfmalhunderttausend Jahre leben: Kein anderes Wesen werde je über ihn Gewalt bekommen. Sein Blut müsste durch andere Adern fliessen als seine eigenen, denn voll bis zum Überfliessen seien diese durch die Liebe allein zur Geliebten. Eine fremde Liebe werde in ihm niemals Raum und Halt finden. – Eine Verstiegenheit erster Güte für einen Künstler!
In der Schlussszene der Oper ist es die Gräfin selbst, die das Gedicht rezitierend singt und deutet: Es sei ein vergebliches Mühen, Worte und Töne trennen zu wollen. «Geheimnis der Stunde – eine Kunst durch die andere erlöst!» Die Gräfin befragt ihren eigenen Spiegel, wie sie sich entscheiden soll. Doch dieser gibt keine Antwort. Muss sie am Ende zwischen zwei Feuern verbrennen? Die Frage, bleibt offen, ob sie sich je für den Dichter oder den Musiker entscheiden kann und wird. Die letzten Worte der Oper gehören dem Haushofmeister: «Frau Gräfin, das Souper ist serviert.» Vielleicht behauptet am Ende jeder leidenschaftlichen Liebe die Alltagstrivialität ihr Recht.
Wir hören hier den Schluss der Oper in einer Aufnahme, die im Jahr 1960 erschien und unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch die exquisiteste Solistenschar versammelte, die damals für eine deutschsprachige Oper aufzutreiben war. Die Rolle der Gräfin ist hier von Elisabeth Schwarzkopf unwiederholbar und stilprägend für alle Zukunft interpretiert. Dem Auftritt der Gräfin geht die beliebte «Mondlichtmusik» voraus. Die Stimme des Haushofmeisters gehört Karl Schmitt-Walter.