Anfang März schickte Andrés Manuel López Obrador einen Brief an den Papst und an den spanischen König Felipe VI. In dem Schreiben fordert der mexikanische Präsident Spanien wie auch den Vatikan auf, sich für die Verbrechen zu entschuldigen, die von Hernán Cortés und seinen Leuten bei der Eroberung von Mexiko begangen worden seien. Die Conquista, so López Obrador, sei ein furchtbarer Übergriff gewesen, ein „schrecklich gewalttätiges und schmerzhaftes Ereignis“.
Alarmstimmung
Der spanische Staat müsse seine historische Verantwortung für diese Vergehen einräumen und die gebührenden Entschuldigungen oder politischen Entschädigungen anbieten. Wörtlich: „Mexico desea que el Estado español admita su responsabilidad histórica por esas ofensas y ofrezca las disculpas o resarcimientos politicos que convengan.”
Der Brief schlug in Spanien ein wie eine Bombe. Die spanische Regierung wies das Ansinnen des mexikanischen Präsidenten schroff zurück und stellte klar, ein Ereignis, das vor 500 Jahren stattgefunden habe, könne nicht mit heutigen Massstäben beurteilt werden. „Unsere beiden Völker wussten ihre gemeinsame Vergangenheit stets ohne Zorn und mit einer konstruktiven Perspektive zu lesen.“
Von finanziellen Entschädigungen war zwar nicht die Rede, doch in Spanien leuchteten bei dem Wort „Entschädigungen“ offenbar alle Alarmlampen auf. Die Forderung nach Vergangenheitsbewältigung sei schön und gut, war der offizielle Tenor, Schuldzuweisungen an den spanischen Staat aber völliger Unsinn. Man werde auch von Frankreich keine Entschuldigung verlangen für die Verbrechen, die Napoleons Soldaten in Spanien begangen haben, liess sich der Aussenminister vernehmen, und das sei erst 200 Jahre her.
Seitdem ist Feuer im Dach der bilateralen Diplomatie, und die sozialen Medien wurden zum Durchlauferhitzer für einen erneuten Streit über die „leyenda negra“, die schwarze Legende, die spanische Nationalisten stets erkennen wollen, wenn es um Grausamkeiten der Conquista geht. Ein Streit, der zum Ritual geworden ist, und an allen Jahrestagen wieder aufflammt, die mit der „Entdeckung Amerikas“ zu tun haben.
López Obrador hatte zu seinem Amtsantritt im vergangenen Dezember Delegationen der vielen indigenen Völker Mexikos eingeladen und war demonstrativ mit ihnen bei seiner Antrittsrede aufgetreten. Für die Übergabe eines weissen Holzkreuzes kniete der Präsident vor den Delegationen nieder, eine Geste, die in den Medien als historisch wahrgenommen wurde.
Ein gut gemeinter Brief zur falschen Zeit
López Obrador will sich innenpolitisch als Verteidiger der nativen Ethnien profilieren, und so ist sein aussenpolitischer Vorstoss wahrscheinlich zu erklären. Dieser kommt jedoch zu einem Zeitpunkt, der nicht ungünstiger sein könnte. In Spanien finden am 28. April Wahlen statt, und die sozialdemokratische Regierung von Pedro Sánchez muss sich gegen das konservativ-nationalistische Lager durchsetzen. Sánchez wird, selbst wenn seine PSOE als stärkste Kraft abschneiden würde, auf eine Koalition mit einer der rechtsgerichteten Parteien angewiesen sein, wenn er weiter regieren will. Er wird den Teufel tun, die Conquista offiziell als Verbrechen zu akzeptieren, für welches das heutige Spanien verantwortlich wäre. Denn das wäre das sicherste Mittel, unentschlossene Wähler massenhaft ins konservative und rechtspopulistische Lager zu treiben.
Kritische Stimmen in Mexiko fragten López Obrador, warum er sich mit Spanien anlege und nicht mit dem aggressiven Nachbarn im Norden. „Warum verlangt López Obrador nicht Entschuldigung von den USA, die Mexiko im 19. Jahrhundert mehr als die Hälfte seines Territoriums geraubt haben?“ fragt der mexikanische Historiker Alejandro Rosas.
López Obrador hat genug intellektuellen Background, um zu wissen, in welches Wespennest er gestochen hat. Die „Leyenda negra“ ist ein explosives Thema, das Spanien seit jeher in zwei Lager teilt. Und dies wohl weitgehend entlang der Frontlinien des bis heute unbewältigten Traumas des spanischen Bürgerkrieges. Schon 1992, zum 500. Jahrestag der Landung des Christóbal Colón an amerikanischer Küste, gab es einen erbitterten Streit um die Deutung des Ereignisses.
Nationalistische Kreise haben stets die These vertreten, die Conquista sei zwar militärische Unterwerfung der amerikanischen Völker gewesen, gleichzeitig aber auch ein Segen christlicher Missionierung und eine fruchtbare Verschmelzung verschiedener Kulturen. Die spanischen Conquistadoren hätten native Völker befreit, die von grossen Imperien – wie jenem der Azteken – auf grausame Weise unterjocht und versklavt worden seien.
Demgegenüber berief sich die Linke stets auf die zahlreich dokumentierte Tatsache, dass die Conquista eine Katastrophe für die Ureinwohner des Kontinents war. Nach übereinstimmenden Schätzungen der Historiker wurden die indigenen Völker innerhalb weniger Jahrzehnte zu etwa 90 Prozent ausgerottet. Ein grosser Teil dieser Dezimierung ging auf Krankheitserreger zurück, gegen die die Nativen keine Antikörper entwickelten. Bereits Hernán Cortés erwähnt in seinen Briefen an König Karl V Epidemien wie Pocken und Masern. Aber auch Zwangsarbeit, horrende Steuerlasten, Kriege und Repression trugen zu der Dezimierung bei.
Cortés träumte von einer „friedlichen Entwicklung“
Wer die Chronisten der Conquista sorgfältig liest, wird aber auch andere Aspekte feststellen.
Hernán Cortés bittet in seinem zweiten Brief an Karl V., man möge ihm „religiöse Personen guten Lebenswandels“ schicken, um die Einheimischen zu taufen, die bereit seien den „heiligen katholischen Glauben“ anzunehmen. Er, Cortés, sehe es als seine Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass spanische Siedler und Einheimische sich friedlich entwickelten und eine gesicherte Zukunft hätten: „Como a mí me convenga buscar toda la buena orden que sea posible para que estas tierras se pueblen, y los españoles pobladores y los naturales de ellas se conserven y perpetúen.”
Im Gegensatz zu der vorwiegend angelsächsisch-französischen Kolonialisierung im Norden war die spanische Eroberung im Süden vom ersten Moment an gekennzeichnet durch die biologische Verschmelzung von Nativen und Invasoren. Cortés selbst hatte einen Sohn mit seiner Dometscherin Marina (Malinche), die den Spaniern als Sklavin geschenkt worden war. Die Spanier lebten mit indigenen Frauen zusammen unter der Bedingung, dass sie sich taufen liessen. Und dies war offizielle Politik der spanischen Krone.
Im weiter nördlichen Teil des Kontinents dagegen war die Heirat zwischen europäischen Einwanderern und Nativen verpönt und sozial geächtet. Nur Trapper und andere Freibeuter praktizierten sie am Rande der Gesellschaft, zum Beispiel in den Rückzugsgebieten der Piraten oder später bei der Landnahme im Westen.
Das spanische Königspaar hatte wohl sehr früh erkannt, dass Spanien nicht genügend Aussiedler hatte, um den neu entdeckten Kontinent mit seinen Millionen von Nativen zu beherrschen. Die Förderung der ehelichen Vereinigung von Spaniern und nativen Frauen diente also sicher nicht nur dem Ziel der christlichen Missionierung, sondern war auch gezielte Siedlungspolitik. Die umfangreiche Gesetzessammlung der „Leyes de Indias“ zeugt von dem Bemühen der Monarchie, die Kolonialisierung in geordnete Bahnen zu lenken und die nativen Bevölkerungen vor Ausbeutung zu schützen. In der Praxis wurde dieses Ziel bekanntlich kaum erreicht .
Menschenrechte rückwirkend ins 16. Jahrhundert?
López Obrador hat auf Twitter ein Video verbreitet, auf dem er mit seiner Frau, der Historikerin Beatriz Gutiérrez Müller, vor den Maya-Ruinen von Centla steht, wo 1519 die erste Schlacht zwischen den Spaniern und einem nativen Volk stattfand. Es habe Massaker gegeben, sagt der Präsident: „Verstösse gegen alles, was heute als Menschrechte gilt.“
Der Apell an die „Menschenrechte“ offenbart den grossen Irrtum, dem López Obrador unterliegt. Er tappt in die Falle einer grob undialektischen Betrachtung der Geschichte. Das Konzept der Menschenrechte, wie es unter anderem von den Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt und formuliert wurde, existierte weder im Altertum noch im Mittelalter, noch in den ersten Jahrzehnten nach Kolumbus, die als Beginn der globalisierten Moderne gelten.
Im 16. Jahrhundert gab es in Europa weder für Sklaven, noch für Leibeigene, Frauen oder Kinder gleiche oder universelle Rechte. In den USA herrschte Sklaverei offiziell bis zum Ende des Sezessionskrieges 1865. Aber noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Bürgerrechte für Schwarze nicht umgesetzt, und die Folgen der Rassentrennung führen bis heute zu Konflikten.
Auch das „Völkerrecht“, wie es sich vom 18. bis zum 20. Jahrhundert im europäischen Gedankengut entwickelte, war de facto ein Recht der europäischen Imperialmächte. Für die unterworfenen Völker der Kolonien galt nie Völkerrecht.
Es mutet daher immer von neuem bizarr an, wenn wohlmeinende Intellektuelle oder Vorkämpfer für politische Korrektheit einen Cristóbal Colón oder einen Hernán Cortés für Menschenrechtsverletzungen um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert verurteilen wollen. Man stellt den Cortés von 1519 auf die moralische Stufe eines „Robbenkillers“ und übersieht dabei, dass noch vor nicht allzu langer Zeit in Europa Hexen hingerichtet und „Hottentotten“ wie exotische Tiere im Zoo ausgestellt wurden.
Säuberung der Geschichte
Wenn man moralische Konzepte von 2019 auf das Jahr 1519 anwendet, ist dies der Suche nach historischer Wahrheit nicht förderlich. Denn diese Suche ist ein nie abgeschlossener Prozess. Die Forschung wird stets von neuem historische Ereignisse auf Grund des quellenkundlich Belegbaren zu diskutieren haben. Urteile über Dinge des 16. Jahrhunderts haben dem Zeitgeist und den Moralvorstellungen jener Zeit Rechnung zu tragen.
Wo das nicht Praxis der Wahrheitsfindung ist, gelangt man schnell zu totalitären Verrücktheiten. Dann wird zum Beispiel die Forderung laut, Gemälde früherer Jahrhunderte aus den Museen zu entfernen, weil die Darstellung von Gewalt-Szenen aus der griechischen Mythologie gegen die Sensibilität politischer Aktivisten verstossen. In Berlin sollen Strassen umbenannt, historische Statuen entfernt werden, um dem Bedürfnis nach politischer Korrektheit Geltung zu verschaffen.
Eine grosse Säuberung der Geschichte, so könnte man es nennen. Vieldeutigkeit und Widersprüche werden abgeschafft. Es kommt einem vor, wie wenn eine Gesellschaft, die orientierungslos im Nebel der Fake News herumstolpert, nach Fixpunkten sucht, die handfeste Wahrheiten bieten. Man findet sie preiswert in einer Vergangenheit, in der die Guten vermeintlich noch richtig gut und die Bösen vermeintlich noch richtig böse waren. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer nennt es „die Vereindeutigung der Welt“. Wir könnten Ambiguität und Ambivalenz nicht mehr ertragen, konstatiert er.
Die Suche nach historischer Wahrheit fällt nicht in die Kompetenz von Regierungen und Parlamenten, sondern ist Aufgabe der Historikerinnen und Historiker. Nur diese sind in der Lage, ein enorm komplexes Ereignis wie den Zusammenstoss der spanischen Eroberer mit den einheimischen Bevölkerungen Amerikas zu erforschen. Und wenn die Wissenschaft ihren Job so gut macht wie zum Beispiel ein Tzvetan Todorov in seiner Sudie „Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen“, dann muss der Präsident von Mexiko keine Briefe mehr nach Madrid schicken. Und auch keine an den Papst in Rom.