Von der Covid-19-Front werden wieder steigende Fallzahlen gemeldet. Führende Epidemiologen kritisieren, der Bundesrat habe bei den jüngsten Lockerungsentscheiden zu viele Schleusen aufs Mal geöffnet. Daher könne man die Wirkungen der einzelnen Aufhebungen nicht überprüfen. Eine der Wirkungen jedoch – sie ist indirekter Art und zudem ausdrücklich nicht beabsichtigt – lässt sich am Schweizer Alltag unschwer ablesen: Es macht sich Sorglosigkeit breit. Trotz der dringenden Empfehlung von Behörden und Fachleuten trägt in öffentlichen Verkehrsmitteln kaum jemand eine Schutzmaske. Und wo es zu dichten Menschenansammlungen kommt, drängen sich die Leute fröhlich und ungeschützt. Es macht den Eindruck, als sei soeben hochoffiziell die endgültige Überwindung der Corona-Gefahr verkündet worden.
Verkündet wird von Regierenden aller Stufen seit kurzem allerdings etwas anderes, nämlich: Die Leute würden jetzt keine Einschränkungen mehr hinnehmen wollen und deshalb könne man solche – wie etwa eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr – auf gar keinen Fall anordnen. Und das sei auch gut so, denn die Bürgerinnen und Bürger seien ja schliesslich zur Eigenverantwortung fähig. Die Fähigkeit und Bereitschaft hierzu, so lassen die Magistraten gerne durchblicken, sei nämlich sozusagen eine schweizerische Eigenschaft.
Tatsächlich? Das Ausmass der praktizierten Eigenverantwortung liegt im ÖV im einstelligen Prozentbereich. Bei ausgelassenen Club- und Partybesuchern herrscht im Crowd-Modus vollends die herbeigewünschte «Normalität» – mit der Folge eines ersten nachgewiesenen Superspreader-Falls.
Zum Stichwort Eigenverantwortung sei an einen Glaubenskrieg erinnert, der die Schweiz vor vier Jahrzehnten erhitzte. Es ging um das Obligatorium für die Benützung der Sicherheitsgurte im Auto. Ab 1974 mussten die Autos mit Dreipunkt-Gurten ausgerüstet sein, doch benutzt wurden sie nur ausnahmsweise. Dies, obschon Untersuchungen weltweit nachwiesen, dass die Zahl der Unfalltoten im Auto mit dem Tragen von Gurten halbiert wird. 1979 kam die gesetzliche Vorschrift, sie beim Fahren anzulegen. Dagegen wurde das Referendum ergriffen, es gab einen erbitterten Abstimmungskampf. Mit einem hauchdünnen Mehr von 50,5 Prozent wurde 1981 das Gurtenobligatorium angenommen. Seither sind die Diskussionen verstummt. Die Gurten sind weithin anerkannt als wichtigstes Sicherheitselement im Auto.
Mit der Eigenverantwortung verhält es sich offenbar folgendermassen: Man praktiziert sie, wenn sie für alle gilt. Bei den Sicherheitsgurten war das noch arg knapp. Ein Maskenobligarorium im ÖV wird laut Umfragen jedoch deutlich befürwortet. Daraus lässt sich unschwer ein Appell an die Regierung ablesen: Befehlt es uns! Sobald es allgemeine Pflicht ist, werden wir unsere Eigenverantwortung wahrnehmen.