Es würde die vierte Grosse Koalition in der Nachkriegsgeschichte sein. Aber erst noch müssen die SPD-Mitglieder zustimmen. Ausgang offen.
Schwüre
Nun ist also doch exakt das eingetreten, was nach dem vernichtenden Votum der Wähler bei der Neubestimmung zum Deutschen Bundestag im vergangenen Herbst keiner – aber auch wirklich keiner – der Betroffenen wollte: die Neuauflage der so genannten Grossen Koalition aus CDU, CSU und SPD.
Regelrechte Schwüre wurden abgelegt. Vor allem auf Seiten der vom Stimmvolk besonders gebeutelten Sozialdemokraten. „Nie mehr“ in ein Bündnis mit Christdemokraten und -sozialen, skandierte die gesamte Parteispitze. Schon gar nicht in eines mit Angela Merkel an den Schalthebeln. Und Martin Schulz, der vor ziemlich genau 12 Monaten wie ein Heilsbringer von den Genossen angebetete Vorsitzende, schmetterte auf allen öffentlichen und medialen (Talk-)Marktplätzen: „Ich werde nie in ein Kabinett Merkel eintreten!“
Adenauers „Geschwätz von gestern“
Oft ist, vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Aussagen, während der vergangenen Wochen an den berühmten Satz des ersten Bundeskanzlers der Nachkriegszeit, Konrad Adenauer, erinnert worden: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern!“ Vergleiche, das weiss man, hinken oft. Und ausserdem, das Zitat ist nahezu sieben Jahrzehnte alt. Die Zeiten haben sich verändert und mit ihnen ebenfalls die Menschen – nicht zuletzt in ihrem Verhältnis zur Politik und in ihrem Vertrauen in die Politiker. Viele fühlen sich überfordert. Auch, und vielleicht gerade, von den sich besonders seit Ende der 80er Jahre überschlagenden Ereignissen um uns herum und weltweit. Das begann mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Ende der Spaltung Europas, der internationalen Finanzkrise und der schlingernden EU sowie der nicht einmal im Ansatz bewältigten Problematik des Zustroms von hunderttausenden Kriegsflüchtlingen und Asylsuchenden.
Was das mit dem jetzt endlich zustande gekommenen Koalitionsvertrag zu tun hat? Die Antwort findet sich in der alten Weisheit, wonach alles mit allem zusammenhängt. Denn das Schicksal dieser (neudeutsch sprachlich zu „GroKo“ eingedampften) Grossen Koalition – übrigens: der kleinsten bisher überhaupt – hängt sprichwörtlich am seidenen Faden. Vordergründig mit dem Begriff „Parteidemokratie“ versehen, tatsächlich jedoch aus Angst vor einem möglichen Zorn der „Basis“, hat die SPD-Führung das letzte Wort den „Genossen draussen im Land“ überlassen. Demnach werden in den kommenden Wochen exakt 463’723 Mitglieder die Entscheidung über die nächste Regierung in Berlin zu treffen haben. Und vieles deutet darauf hin, dass es ein knappes Ergebnis geben wird. Die SPD ist praktisch gespalten – auch, aber keineswegs nur, was die Generationen angeht. Die eine Hälfte sieht die ruhmreiche Partei August Bebels und Willy Brandts im weiteren Schatten der Merkel-Union noch tiefer in die Unter-20-Prozent-Bedeutungslosigkeit rutschen, die andere fühlt sich traditionell zuvorderst dem Gemeinwohl verpflichtet.
Gefühl gegen Realismus
Diese Ausgangslage gilt es, sich bei der Analyse des jetzt ausgehandelten Vertragsentwurfs vor Augen zu halten. Gut, Angela Merkel als CDU-Vorsitzende und Horst Seehofer als CSU-Chef müssen nicht durch das Fegefeuer einer Mitgliederbefragung. Aber, wenn es dem Unionsvolk und dessen diversen Repräsentanten in den Kommunen und Ländern nicht bloss noch um den politischen Machterhalt geht, müsste jetzt eigentlich mehr als nur Gegrummel zu vernehmen sein, vielmehr müsste ein mittleres Protestgeheul ausbrechen. Denn es wird nicht leicht sein, die „schwarze“ Gefolgschaft davon zu überzeugen, dass man als „Sieger“ aus den Verhandlungsgefechten hervorgegangen sei – oder wenigstens ein Unentschieden erreicht habe. Wer sich, mit der notwendigen Distanz, das Tableau anschaut, sieht ganz besonders auf der Personalseite ein deutliches Übergewicht bei der SPD.
Umso mehr stellt sich deshalb die Frage, wovon sich bei der Abstimmung die Genossen stärker werden leiten lassen – von dem gefühlsbestimmten „Nie wieder Grosse Koalition“ oder doch von einem aus Realismus erwachsenen Optimismus, dass erstens aus der Regierungsverantwortung heraus entscheidend mehr bewegt werden kann als auf den Oppositionsstühlen. Und dass dies, zweitens, am Ende – hoffentlich – dann doch von den Wählern wieder belohnt werde. Man werde „verhandeln, bis es quietscht“, hatte die neu ernannte Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles den Genossen kürzlich auf dem Bonner Sonderparteitag angekündigt. Und, wie es aussieht, hat sie Wort gehalten.
Krötenschlucken bei CDU und CSU
Man kann es allerdings auch so sehen: Bei den Unionsparteien CDU und CSU muss die Angst vor einem totalen Machtverlust immens gewesen sein. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der FDP und den Grünen hätte sich Angela Merkel ein weiteres Fiasko auf keinen Fall leisten können. Um das zu vermeiden, waren die Parteigranden ganz offensichtlich bereit, sogar dicke Kröten zu schlucken. Okay, dass man der gerupften SPD genauso viele Ministerien (sechs) zugestand wie den Christdemokraten, kann unter „normal“ abgebucht werden. Aber drei davon sind absolute „Schlüsselressorts“: Aussen, Finanzen und Soziales sowie dazu Familie, Justiz und Umwelt. Das bringt einiges auf die Prestige-Waage, wobei die CDU vermutlich am stärksten der Verlust des Finanzministeriums schmerzen dürfte. Wer dort auf dem Thron sitzt, hat nach der Kanzlerin die einflussreichste Position im Kabinett inne; sein (oder ihr) Veto bei kostenintensiven Entscheidungen darf nicht überstimmt werden.
Obwohl schon seit längerem darüber gemunkelt wurde, ist es dennoch ziemlich bemerkenswert, dass CSU-Chef und Noch-Ministerpräsident von Bayern, Horst Seehofer, tatsächlich in Merkels Kabinett eintritt. Gut, er bekommt von der CDU das bislang von Thomas de Maiziere geführte und ohne Zweifel bedeutende Innenministerium. Aber ist das nicht dennoch ein Abstieg für jemanden, der seine künftige Chefin bislang fast nach Belieben vorführen konnte? Beinahe wie eine Figur aus der Augsburger Puppenkiste? Legt man bei der Ressortgewichtung die traditionelle Messlatte an, so bleiben Merkel und den Christdemokraten neben dem Kanzleramt der Bereich Verteidigung und Wirtschaft als Ressort-Schwergewichte. Klar, die Bildung sollte nicht gering geschätzt werden. Mehr noch: Richtig bewertet und mit Inhalt gefüllt, liegt hier sogar eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben.
Doch ob das so kommt, befindet sich genauso im Ungewissen wie eine Antwort auf die Frage, was die Möchtegern-Koalitionäre denn wirklich unter dem Stichwort Digitalisierung verstehen. Ist es lediglich eine Investition im technischen Bereich, wie etwa eine schnellere Umsetzung der Glasfaser-Technologie? Oder gehört nicht vielmehr genauso dringend die gesellschafts- und sozialpolitische Entwicklung des Arbeitsmarkts unter den Bedingungen der neuen Informationstechnologien dazu? Antworten darauf lässt das Koalitionspapier vermissen.
Merkel und die politische Zukunft
Die Bundestagswahl im vergangenen September und das Geschachere um die künftige Regierung in Deutschland haben auf den politischen Feldern der Republik spürbare, kräftige Beben ausgelöst. Immerhin – sollte die SPD-Basis am Ende wirklich dem neuen/alten, schwarz-roten Bündnis den Segen erteilen, wäre zunächst einmal der Stuhl der Bundeskanzlerin gerettet. Ob Angela Merkel freilich wirklich – wie von ihr vor der Wahl angekündigt – die volle Legislaturperiode im Amt bleiben wird, hängt sicher nicht allein von ihr ab. Wenn sie klug ist (und das ist sie zweifellos), wird sie sich bereits Gedanken gemacht haben, wer für die Nachfolge rechtzeitig aufgebaut werden könnte. Wirklich aufdrängen tut sich bislang erkennbar noch niemand. Aber fraglos gibt es für jeden eine Alternative. Auch in der Politik.
Diese Frage immerhin hat die bayerische Unionsschwester CSU mittlerweile geklärt. Horst Seehofer tritt als Landesvater ab, sobald in Berlin die neue Regierung steht. Und der Franke Markus Söder folgt nach. Dies freilich ist nur die Hälfte der anstehenden Aufgabe. Denn in der deutschen Alpenrepublik finden im Herbst Landtagswahlen statt. Und die über Jahrzehnte sieggewohnte CSU muss sich darauf einstellen, dass ihre Werte deutlich sinken werden. Vielleicht nicht ganz so drastisch wie beim Urnengang für den Bundestag. Aber doch so, dass die absolute Mehrheit in München verpasst wird und die Christsozialen sich auch dort nach einem Partner umsehen müssen. Ungewissheiten also, wohin man im Moment blickt.
Schulz: Die Zukunft hinter sich
Und Martin Schulz, der SPD-Vorsitzende? Der Mann, den die Genossen vor ziemlich genau einem Jahr wie einen Heilsbringer empfingen, dem sie zujubelten und sogar zuzutrauen schienen, über Wasser laufen zu können? Es wird für ihn nicht leicht werden, seiner bisherigen Gefolgschaft zu erklären, wie frühere Schwüre ins Gegenteil gekehrt werden: „Auf keinen Fall eine erneute GroKo“ – und dann eben doch. „Auf keinen Fall Minister unter Angela Merkel“ – und dann (als Chef im Aussenressort) eben doch. Der Druck der Verhältnisse? Das mag in einem politikwissenschaftlichen Seminar überbezeugen. Aber in einer Partei, deren Seele ohnehin wund ist?
Inzwischen hat Martin Schulz auch angekündigt, dass er den SPD-Vorsitz abgeben wird. Andrea Nahles soll seine Nachfolgerin werden. Mit anderen Worten: Der als Senkrechtstarter auf der innenpolitischen Bühne erschienene Ex-Präsident des Europäischen Parlaments dürfte seine politische Zukunft hinter sich haben. Und das heisst, es gibt in diesem Polit-Scrabble zumindest eine siegreiche Figur: Andrea Nahles.
Ob die ins Miniformat geschrumpfte Neuauflage der Grossen Koalition wirklich stabil sein wird, steht in den Sternen. Nicht umsonst sprechen nicht wenige Beobachter bereits von einer „Ehe mit Trennungsansage“. Doch für Andrea Nahles, der ehrgeizigen Frau aus der Eifel, hat sich – so oder so – das ganze Theater ausgezahlt. Es müsste schon sehr merkwürdig zugehen, wenn nicht schon in Kürze ihr Porträt im Berliner Erich-Ollenhauer-Haus in der von Kurt Schumacher über Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, Gerhard Schröder bis Sigmar Gabriel reichenden Galerie der SPD-Parteichefs hängen würde.