Die Geschichte, die Frank Schirrmacher in seinem neuesten Buch erzählt, beginnt tief unten in den Bunkern der amerikanischen Flugabwehr. Der Zweite Weltkrieg war zwar gewonnen, aber der nächste stand bevor. Denn der ehemalige Verbündete gegen Nazi-Deutschland war der neue Feind. Jederzeit konnte die Sowjetunion mit ihren Atomwaffen Amerika angreifen und in Grund und Boden bomben.
Wo lauert der Feind?
Wann würde sie angreifen und wo? Und vor allem: Wie sollte man erkennen, dass sie gerade jetzt angreift? Luftüberwachung erschien als das Mittel der Stunde. Bomben werden mit Flugzeugen oder Raketen transportiert. Flugzeuge wiederum füllen die Radarschirme ohne Ende. Denn Tausende bewegen sich ständig hin und her, in allen möglichen Richtungen und auf allen möglichen Routen. Wie kann man ein Flugzeug identifizieren, das mit einer tödlichen Last in feindlicher Absicht unterwegs ist?
Hochqualifizierte Spezialisten sassen metertief unter atombombensicheren Beton, starrten auf ihre grünlich flimmernden Bildschirme mit den Bewegungen von Flugkörpern – und nickten ein. Oder sie stürzten auf dem Weg in die Kantine und brachen sich ein Bein. Topfitte Leute wurden matt bis zur Unbrauchbarkeit.
Beobachten und beobachtet werden
Psychologen, Ärzte und andere Spezialisten wurden aufgeboten, um diese seltsame Art von Mattigkeit zu erklären. Sie fanden schnell heraus, dass die grünlich schimmernden Bildschirme eine hypnotische Wirkung haben. Sie lösten eine Art Trance aus. Wie der begegnen? Aus dem Ganzen müsste ein Spiel werden: Wer trickst wen aus? Wenn man ständig damit rechnet, dass der Gegner mit der am harmlosesten aussehenden Flugbewegung das ganz dicke Bombenpaket und den perfidesten Angriffsplan tarnt, dann gibt es keine Linie oder keinen Punkt mehr auf dem Monitor, der irgendwie langweilig wäre.
Das war der erste Schritt. Der zweite Schritt: Wir beobachten den Gegner, und der Gegner weiss, dass wir ihn beobachten. Was wird der Gegner tun, wenn er weiss, dass wir ihn beobachten und auch wir bei unserem Tun genau wissen, dass er uns beobachtet? Unser Handeln wird beobachtet, und da wir wissen, dass wir beobachtet werden, handeln wir so, dass wir sehen können, wie der Gegner reagiert, wenn er uns beobachtet. Und so weiter.
Der komplizierte Mensch
Das Beobachten des Beobachters des Beobachters. Der entscheidende zweite Punkt von Schirrmacher ist nun, dass das Beobachten alleine nicht reicht. Man muss ja ein Schema haben, das es einem erlaubt, das Beobachtete zu interpretieren, ihm einen Sinn zu unterlegen. Warum tut der Beobachtete das, was er tut? Hier kommt die neue fantastische Vereinfachung ins Spiel, die den westlichen Code umgeschrieben hat und womöglich den endgültigen Niedergang unserer Gesellschaft bewirkt.
Ursprünglich war der westliche Code kompliziert. Da gab es die Freiheit, da gab es Liebe, da gab es ethische Verpflichtungen wie Verantwortung, da gab es das Bestreben, dem eigenen Leben einen Sinn zu verleihen, der schwer erklärbar ist und sich schon gar nicht in Heller und Pfennig ausdrücken lässt. So betrachtet entzieht sich der Mensch der Berechenbarkeit und ist unerschöpflicher Stoff für die Kunst, die Philosophie und die Psychologie.
Die Berechenbarkeit
Aber er ist nichts für Computer. Computer müssen rechnen, sie brauchen „Berechenbares“. Computer beziehungsweise die Programme, nach denen sie ticken, wurden zum Leitmedium in Zeiten des Kalten Krieges. Wie aber liess sich der Gegner computergerecht erfassen, berechenbar machen? Ganz sicher nicht, indem man Dostojewski oder Tolstoi las. Viel einfacher waren drei ebenso simple wie naheliegende Annahmen: 1. Der Gegner will überleben. 2. Der Gegner will einen Vorteil ergattern. 3. Der Gegner will allein gewinnen, also kein Win-Win-Ergebnis. Er will den Gegner vernichten.
Frank Schirrmacher schildert, wie hochintelligente Spezialisten unterschiedlichster Disziplinen die ersten Analysen und die ersten Computerprogramme für den Sieg im Kalten Krieg geschrieben haben. Und sie hatten Erfolg. Der Osten brach zusammen. Aber auch das westliche Ich.
Physiker an der Wallstreet
Wie das wiederum ablief, geht nicht nach dem einfachen moralistischen Schema, nach dem der Sieger letzten Endes nicht besser als der Besiegte ist. Die Sache hat einen besonderen Dreh, und Schirrmacher schildert ihn. Auf der einen Seite war der Kalte Krieg die Zeit, in der sich Think Tanks wie die RAND Corporation beim Militär und der Politik unentbehrlich machen konnten und Atomphysiker in jeder Weise begehrte und gefeierte Stars waren. Aber mit dem Ende des Kalten Krieges konnten die Mohren aus den Labors gehen.
Immer mehr Forschungsprogramme fielen dem Rotstift zum Opfer, und auch die Wirtschaft kam nicht mehr so recht voran. Aber zwei Erträge sollten Wallstreet beflügeln: Die Programme der Think Tanks mit dem Menschenmodell als rationalen Egoisten und die Kreativität der Atom- und Astrophysiker, die in ihren Jobs keine Beschäftigung mehr fanden und sich fortan einen Spass daraus machen sollten, den hungrigen Händlern an der Wallstreet Programme zu verkaufen, die zu einer wundersamen Geldvermehrung beitrugen und die letzten Endes nur Physiker und Mathematiker ihrer Qualifikation annähernd nachzuvollziehen in der Lage waren.
Fatale Intelligenz
Und so kam es, dass das ursprünglich im Kalten Krieg entwickelte Modell der „Rational Choice“ zum alles beherrschenden Paradigma wurde. Es sickerte nicht nur in die Programme der Brooker von Wallstreet ein, sondern beherrscht auch die Algorithmen der Anbieter wie Amazon oder Facebook. Und so wurde aus dem „Ich“, das früher einmal Träger der Individualität, der Freiheit, der Subjektivität war, eine Plattform, auf der sich alles vermarkten lässt, einschliesslich des „Ich“.
Das ist das Resultat hochintelligenter Leute. Liest man Schirrmachers Buch etwas gegen den Strich, so kommt stellt sich die Frage: Sind es gerade die besten Köpfe, die das grösste Unglück anrichten? So, wie Schirrmacher es schildert, waren es ja gerade die besten Spezialisten ihrer Fächer, die die besten Lösungen präsentierten und damit den Weg in die Sackgassen ebneten, in denen wir heute gefangen sind. Ein weites Feld ...
Wo steht Schirrmacher?
Wieder einmal hat der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, ein Thema gesetzt. Verfolgt man die Debatten zu seinem Buch im Internet, so ist es witzig, wie Schirrmacher manchen sich für wachsam haltenden Geist verwirrt: War die FAZ nicht doch eher eine bürgerliche Zeitung? Wie passt Schirrmacher als Herausgeber noch dazu? Wie kann er eine derartig niederschmetternde Diagnose stellen, die man eher in linken Postillen erwarten würde?
Noch schlimmer: Fordert Schirrmacher gar die Verstaatlichung der Banken? Darauf angesprochen, antwortete er: „Ich war es auch nicht, der die Verstaatlichung von Banken forderte. Das waren Banker.“ - Aber das sind Spielereien und Wortgefechte. Frank Schirrmacher diagnostiziert das Hauptleiden unserer Zeit: die Entkernung des Ich. Aus dem „Ich“ wurde das blosse „EGO“. Das ist viel wichtiger.
Frank Schirrmacher, EGO. Das Spiel des Lebens, Karl Blessing Verlag, München 2013