Sein Hauptwerk „Las venas abiertas de América Latina“ ist wohl bis heute der bekannteste Essai zur Geschichte Lateinamerikas.
Es muss Anfang der neunziger Jahre gewesen sein. Er wirkte müde, erschöpft nach der Veranstaltung. Man hatte ihn wieder einmal nach Lösungen für Kuba gefragt. Wie sollte es weitergehen nach dem Ende der Sowjetunion?
Ich brachte ihn zu seinem Hotel. Unterwegs war er wortkarg. Dann blieb er auf einmal stehen und sagte, er wisse keinen Ausweg für Kuba:
„Siempre me piden soluciones. Si yo no tengo soluciones para Cuba.” Es war diese Redlichkeit, die ihn auszeichnete.
Wenn es etwas gab, das mich an Eduardo Galeano faszinierte, dann war es seine Sprache. Ich kenne keinen lateinamerikanischen Intellektuellen, der den politischen Essai und das Erzählen des Erlebten mit dieser sprachlichen Meisterschaft beherrschte. Seinen Namen kannte ich lange, bevor ich ihn persönlich zum ersten Mal traf.
1978 erschien sein schmaler Band „Dias y noches de amor y de guerra“ (Tage und Nächte von Liebe und Krieg). Das war eine Art literarisches Tagebuch. Im Prolog heisst es: „Alles was hier erzählt wird, ist geschehen. Der Autor hat es so geschrieben, wie sein Gedächtnis es behielt. Nur wenige Namen wurden geändert.“
Eine Art Heilige Schrift
Der Band enthält Anekdoten, Erinnerungen an kleine Begebenheiten in Buenos Aires und Montevideo, in Ländern Lateinamerikas oder Europas. Begegnungen mit Frauen und Männern, die ihm wichtig waren, Menschen aller sozialen Positionen: Generäle und Präsidenten, Guerrilleros und Soldaten, Arbeiter, Musiker, Intellektuelle, Kinder. Ich habe dieses kleine Buch viele Jahre lang in Lateinamerika bei mir gehabt und immer wieder gelesen. Es gibt Bücher, die man bei sich trägt, als seien sie ein Gebetbuch oder eine Art Heilige Schrift.
Es sind Miniaturen, Kompositionen in einer Sprache, die schlichter und klarer nicht sein könnte. Die Kunst Eduardo Galeanos besteht darin, dass er kleine, alltägliche Begebenheiten erzählt, welche so, wie sie da auf dem Papier stehen, plötzlich eine umwerfende Symbolkraft und Wucht entfalten. Das Buch ist aus dem Leim gegangen. Wenn ich die vergilbten Seiten aufschlage, ist da am Anfang die Flucht aus Buenos Aires nach dem Militärputsch 1976:
„In Buenos Aires habe ich ein paar Sachen verloren. Es war die Eile oder einfach Pech, niemand weiss, wo sie geblieben sind. Ich ging weg mit etwas Wäsche und ein paar Papieren. Ich beklage mich nicht. Um Dinge zu weinen angesichts soviel verlorener Personen, hiesse dem Schmerz den Respekt versagen (…) Das Gedächtnis wird behalten, was der Mühe wert ist. Das Gedächtnis weiss mehr von mir als ich; und es verliert nicht, was wert ist, bewahrt zu werden.“
In Guatemala mit den Aufständischen
„Die Nächte waren kalt im Hochland. Wir schliefen auf dem Boden und wärmten uns gegenseitig dicht einander gedrängt, um nicht umzukommen in der eisigen Kälte des Morgengrauens. Unter den Guerrilleros waren einige Indios. Auch die Soldaten waren fast alle Indios. Die Armee fing sie ab, wenn sie von den Festen kamen, und wenn sie aus ihrer Besoffenheit erwachten, hatten sie schon die Uniform an und die Waffe in der Hand. So marschierten sie dann ins Hochland, um die andern umzubringen, die für sie sterben wollten.“
Sein Hauptwerk „Die offenen Adern Lateinamerikas“ war schon 1971 erschienen. Galeano vertrat - wie André Gunder Frank, Dieter Senghaas oder andere renommierte Autoren dieser Zeit – die sogenannte Dependenztheorie. Diese sieht die Armut und den anhaltend niedrigen Entwicklungsstand der peripheren Länder begründet in dem Wirtschaftssystem, welches die Länder Lateinamerikas und Afrikas seit der Kolonialepoche festgelegt auf die Ausfuhr von Rohstoffen und Agrargütern und den Import von Industrieprodukten. Die kapitalistischen Metropolen haben dieser Theorie zufolge keinerlei Interesse daran, ein Weltwirtschaftssystem zu überwinden, welches die armen Länder in der Unterentwicklung hält. Die Theorie greift zu kurz, wie unter anderem die Entwicklung der asiatischen Tigerstaaten später zeigen sollte.
Der grosse Nachbar im Norden
Galeano setzte wie viele andere lateinamerikanische und afrikanische Intellektuelle seine Hoffnungen auf den Widerstand gegen eine ungerechte Weltwirtschaft und den Aufbau nationaler Industrien und Binnenmärkte. Sozialistische Regierungen wie Salvador Allende in Chile oder kommunistische Regime wie in Kuba wurden als ein Weg zu Befreiung aus den strukturellen Zwängen der Weltwirtschaft gesehen.
Fakt war aber, dass die USA, der grosse Nachbar im Norden, sozialistische Experimente mit einer Doppelstrategie wirkungsvoll zu verhindern suchten. John F. Kennedys Entwicklungsprojekt „Allianz für den Fortschritt“ sollte zum einen mit verstärkter Wirtschaftshilfe kommunistischer Agitation den Wind aus den Segeln nehmen, und zum andern unterstützten die USA rechtsextreme Militärregime, um linke Volksbewegungen und Guerrilla-Aufstände zu unterdrücken.
30 Auflagen
Galeanos Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und in 30 Auflagen weltweit verbreitet. In einer dieser Auflagen schrieb er 1978 im Vorwort, die wichtigsten Kommentare stammten nicht aus der Feder anerkannter Literaturkritiker, sondern von den Militärdiktaturen in Uruguay, Argentinien und Chile. Diese hätten das Buch verboten und damit seine Bedeutung anerkannt.
Galeano hatte seine journalistische Laufbahn begonnen als Chefredaktor von „Marcha“ in Uruguay, anschliessend war er Direktor von „Epoca“, - Zeitschriften für Kultur und Politik, wie sie damals überall in Lateinamerika enstanden. Nach dem Militärputsch musste er 1973 nach Buenos Aires fliehen, wo er Chefredaktor der Zeitschrift „Crisis“ wurde. Als 1976 Videla putschte, ging er nach Spanien ins Exil. Erst 1985 kehrte er nach Uruguay zurück, nachdem die Militärs die Macht abgegeben hatten.
Zeugnis davon geben, dass wir hier waren
„Tage und Nächte von Liebe und Krieg“ ist im wesentlichen eine Verarbeitung dieser Erfahrungen und eine Auseinandersetzung mit dem Lateinamerika der siebziger Jahre, einem Kontinent der Militärdiktaturen. Hat Schreiben einen Sinn? fragt Galeano am Ende des Buches:
„Da werden Zollschranken für Bücher organisiert, Scheiterhaufen für Bücher, Friedhöfe für Bücher. Damit wir uns darein fügen, ein Leben zu leben, das nicht das unsere ist, und die Erinnerung der andern als unsere eigene akzpetieren. Eine maskierte Wirklichkeit, eine von den Siegern erzählte Geschichte: Vielleicht ist Schreiben nicht mehr als der Versuch, in der Zeit der Niedertracht die Stimmen zu bewahren, die Zeugnis davon geben, dass wir hier waren und dass wir so waren, wie wir sind.“
Er habe lange gebraucht, sagt Galeano, bis er schliesslich eines Tages gemerkt habe, was beim Schreiben auf dem Spiel stand: Ihm habe der Mut gefehlt, auf den Grund seiner selbst zu gehen und sich ganz zu öffnen: „Me habian faltado huevos para llegar al fondo de mi...”
Nach dem Tod bei den andern sein
„Schreiben war gefährlich, so gefährlich wie die Liebe, wenn man sie so macht, wie es sein soll. In jener Nacht stellte ich fest, dass ich ein Jäger der Wörter sein wollte. Dazu war ich geboren. Das wäre dann meine Art, nach dem Tod noch bei den andern zu sein, und so würden die Personen und die Sachen, die ich geliebt hatte, nicht ganz sterben.“
Eduardo Galeano ist vor zwei Wochen im Alter von 74 Jahren in Montevideo an einer Krebserkrankung gestorben. Der Präsident Uruguays und die Minister wohnten dem Staatsbegräbnis bei.
- Literatur: Die Bücher von Eduardo Galeano sind auf Deutsch im Peter Hammer Verlag erschienen. Die hervorragenden Übersetzungen stammen sämtlich von Lutz Kliche.