„Wer sich nur über die eigene Kultur definiert, hat keine Kultur“, lautet einer der Schlüsselsätze dieses philosophischen Essays. Denn zur Kultur gehören die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Horizonts und die Fähigkeit, andere Perspektiven als die eigenen zumindest für möglich zu halten. Denn "die Welt ist grösser als der eigene Horizont." Das heisst aber nicht, dass in dieser unser Verständnis übersteigenden Welt alle ethischen Werte beliebig sind.
Wie soll es aber möglich sein, die Relativität des eigenen Standpunkts anzuerkennen und zugleich Werte mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu vertreten? Um diese Frage zu untersuchen, bedarf es eines philosophischen Blickwinkels. Philosophisch heisst, dass Begriffe, Werte und Ansprüche auf ihre Geltung hin analysiert werden. Der Physiker und Philosoph Eduard Kaeser beherrscht dieses Metier meisterhaft.
Das europäische Drama
So fragt er, mit welchem Recht wir von der universellen Geltung der Menschenrechte ausgehen. Sind sie nicht eine Frucht der europäischen Aufklärung? Setzen sie nicht die europäische Philosophie voraus, die die unveräusserliche Freiheit und Würde des Menschen gegen kirchliche und staatliche Herrschaft zu Geltung brachte?
Es ist also ein europäisches Drama, aus dem unsere Weltsicht und unser Werteschema hervorgegangen sind. Aus der Perspektive anderer Kulturen relativieren sich damit unsere Wertmassstäbe radikal. Müssen wir also im Sinne eines globalen multikulturellen Zusammenlebens unseren eigenen Anspruch auf die Unverletzlichkeit der Menschenwürde zurücknehmen?
Kultur und Mensch: zweierlei
Kaeser ist nicht dieser Meinung. Dazu macht er eine wichtige Unterscheidung. Alle Menschen leben in bestimmten Kulturen, aber es sei falsch und irreführend, sie aus den Kulturen heraus zu definieren. Er erläutert diesen „kulturalistischen Fehlschluss“ an der Frage, was denn das „Wesen“ eines Schweizers ausmache. Ein Bundesrat habe einmal gesagt: Ein Schweizer ist genau, pünktlich und kein Blender. Demnach wäre dies das kulturell geformte unabänderliche Wesen der Schweizer. Wer dem nicht entspricht, wäre also kein "richtiger Schweizer".
Menschen aber sind nicht mit ihrer Kultur identisch, und Kulturen verändern sich. Einen Menschen allein über seine Kultur zu definieren, ihn also mit dieser Kultur gleichzusetzen, ist eine Art der Stigmatisierung. Entgegen vielfältiger Meinung ist es für Kaeser auch nicht sinnvoll, in jeder Kultur einen Wert in sich zu sehen, der nicht kritisiert und verändert werden kann. Ganz im Gegenteil gehört es zur Entwicklung der Menschen, sich auch gegen einzelne Merkmale ihrer Kultur zu stellen und diese zu verändern.
Fragwürdige Toleranz
Das ändert aber nichts an der Tatsache der vielen Kulturen, die in der Welt mehr oder weniger friedlich nebeneinander existieren. Und dort, wo sie unmittelbar aufeinander stossen, kommt es zu Konflikten: „Nähe spaltet“. Aber es wäre ganz falsch, die Lösung in einem „Konsens“ zu suchen. Konsens ist eher unwahrscheinlich, und „Toleranz“ im Sinne einer blossen Duldung bricht, wenn es ernst wird, als haltlose Fassade zusammen und weicht elementarer Aggression.
Um diesen Irrwegen zu entgehen, plädiert Eduard Kaeser für „Zivilisiertheit“. Damit meint er, dass wir uns unseres eigenen begrenzten Horizonts bewusst sind. Wir sind immer auch Fremde, wie die anderen Fremde sind. Man muss die Werte der anderen nicht teilen, um mit ihnen zivilisiert umzugehen. Diese „Zivilisiertheit“ kann im praktischen Umgang die Augen dafür öffnen, dass Kulturen lediglich „Optionen“ sind, aus denen der Einzelne auswählt. Diese Unterscheidung ist essentiell. Denn wenn wir den anderen aus seiner vermeintlichen Kultur heraus definieren, legen wir ihn auf Merkmale fest, die er möglicherweise gar nicht hat.
Die Würde der Frau
Diese Unterscheidung zwischen dem konkreten Menschen und den Kulturen, die ihn – als Optionen – prägen, ermöglicht es nun, die Begrenztheit des eigenen Horizontes anzuerkennen und zugleich auf den Menschenrechten zu bestehen. „Wir wollen z. B. eine Fatwa wie jene gegen Salman Rushdie als terroristischen Akt oder die Tötung Theo van Goghs als kriminell bezeichnen dürfen, auch wenn man die Reaktion eines strenggläubigen Muslims verstehen kann, der durch seine Erziehung das Beleidigungsverbot des Propheten über die Meinungsfreiheit stellt.“
Das leuchtet aus der Sicht unserer Kultur ein, aber wie lässt sich dieser Standpunkt unter dem Gesichtspunkt vertreten, dass wir doch nur aus unserem „Horizont“ heraus argumentieren? Das geht eben nur mittels der Unterscheidung zwischen den Kulturen und den in ihnen lebenden Menschen, die durch die jeweiligen Kulturen eben nicht vollständig determiniert sind. So schreibt Kaeser, dass der Begriff der Würde der Frau nicht vollständig im soziokulturellen Milieu des Isalm aufgeht, sondern eine „über diese lokal-traditionelle Prägung hinausgehende Bedeutung“ hat.
„Liberalismus den Liberalen, Kannibalismus den Kannibalen“
Diese Argument mag bemüht wirken, und Kaeser schreibt selbst, dass der Appell, sich zugunsten universaler Geltungsansprüche aus den Normen der eigenen Kultur herauszulösen, blass wirken kann: „Kein Argument zwingt einen Menschen dazu, diesen Appell zu hören, geschweige denn, ihm Folge zu leisten. Der säkulare und liberale Staat hat, anders gesagt, ein Begründungsdefizit. Damit müssen wir leben lernen.“
Doch ist umgekehrt ein kulturrelativistischer Ansatz nicht ganz so elegant, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Kaeser verweist in diesem Zusammenhang auf ein Aperçu des Sozialphilosophen Martin Hollis: „Liberalismus den Liberalen und Kannibalismus den Kannibalen.“ Aber anders als die universelle Gültigkeit der Naturgesetze lassen sich unsere zentralen Wertvorstellungen nicht „von oben“ aus allgemeinen Prinzipien ableiten. Vielmehr müsse dies „von unten“ geschehen, „aus der alltäglichen Praxis von Menschen in heutigen heterogenen Gesellschaften“.
Die Versehrbarkeit des Körpers
In seinem Plädoyer für eine „interkulturelle Zivilisiertheit“ beschäftigt sich Kaeser im zweiten Teil seines Essays auch mit den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Glaube und Wissen und der religiös unterfütterten Moral und der säkularen Gesellschaft. Man darf ja nicht vergessen, dass es auch in den westlichen Gesellschaften eine Kluft zwischen religiösen Traditionen und säkularen Anschauungen gibt. Auch hier gelingen Kaeser immer wieder kluge Analysen und luzide Schlaglichter auf die Debatten, wie sie etwa vom Papst angestossen werden.
Und am Ende steht ein Argument, das seinen ganzen Versuch, den Menschenrechtsgedanken als universell zu erweisen, aus einer ganz anderen Sichtweise beleuchtet und ihn hell aufscheinen lässt. Es geht um eine unbestreitbare transkulturelle Universalität, nämlich unsere Körperlichkeit: „Die Versehrbarkeit des Körpers ist ein universelles moralisches Phänomen.“
Unverzichtbare Ethik-Lektüre
Dabei falle auf, dass diejenigen, die andere Menschen quälen und ermorden, sich immer bemüssigt fühlen, ihr Tun zu rechtfertigen. „Ihre Argumentation verrät eine paradoxe Form des Universalismus. Unrecht will in der Regel begründet sein. Heisst das aber nicht, dass es selbstverständlicher ist, dem Anderen kein Unrecht anzutun ...?“
Daraus schliesst Kaeser, dass es jenseits der rationalen Argumentation einen „grundlosen“ Rest gebe, „nenne man ihn nun moralischen Sinn, moralisches Gefühl oder moralische Intuition. Moral ist ìnkarniert`“.
Dieser Band in der ohnehin anregenden Reflexe-Reihe vom Schwabe Verlag verdient es, in die Listen unverzichtbarer Ethik-Lektüre an Schulen und Universitäten aufgenommen zu werden.
Eduard Kaeser, Multikuluiralismus revisited. Ein philosophischer Essay, Schwabe-reflexe, 137 Seiten, Basel 2012