Edinburgh vibriert. Festival an Festival. Partystimmung in der einst grauen alten Stadt. Schottland hat eine hohe Dichte an Universitäten, die Brutstätten der Weltkultur geworden sind. Dies trägt zum Gedeihen des Performing Arts’ Fringe Festival bei, das einst randständig war und zum klassischen Sommerfestival mutiert ist.
Eine Million Theaterliebhaber
Heute zieht das Fringe eine Million Theaterliebhaber an. Es streut seine rund dreitausend Aufführungen – also etwa hundert jeden Tag! – in der ganzen Innenstadt, zumeist mit Ad-hoc-Bar im Freien. Fringe ist längst nicht mehr „ausgefranste“ Kultur, sondern eine Vielzahl Produktionen aus aller Welt, von Australien bis Kanada, von China bis USA. Eine Charakterisierung zwischen Ernst und Clownerie, zwischen Zirkusakrobatik und philosophischem Tanz, moderner Musik und Shakespeare für Kinder entspricht dem freien angelsächsischen Verständnis der Theaterkunst.
Poesie in experimentellem Tanz
Der Höhepunkt meiner persönlichen Blütenlese in Edinburgh war ganz klein und sehr fein. Er fand sich im 76. Internationalen Schaufenster der Choreografen, das mit Kelley Schoger aus South Paris (Maine, USA) eröffnete. Die Schreiberin-Tänzerin-Choreographin-Schauspielerin zauberte mit Texten und modernem Tanz, pastellfarbigen Videos und schnellen Lichtwechseln eine literarische Vision, die haften bleibt.
Neben ihr fiel dort David Justins polysynchrone Choregraphie für drei Tänzerinnen auf; Justin war einst Prinzipal des Birmingham Royal Ballet, heute Professor an der Universität Missouri. Leider nur an einem Abend testete der Nachfolger Nurejews und Polunins in London, Matthew Ball, seine neue Choreographie zu Vivaldis „Sommer“ aus den Vier Jahreszeiten. Im Choreographie-Schaufenster haben auch traditioneller wirkende iranisch märchenhafte und spanisch temperamentvolle Szenen Platz.
Solo in einer Schachtel
In der Summerhall nahe dem George Square gab Ridiculusmus, eine an grossen Theatern Londons, im ganzen Land und auch international tourende Truppe, drei selbst geschriebene Stücke; eines war ganz nach meinem Geschmack, ein posttraumatisches Solo in einer Schachtel unter dem Titel „Give me Your Love“. Diese Tragikomödie wird angelsächsisch treffend mit „zwischen Beckett und Monty Python“ charakterisiert.
Das passt ebenso auf den Solo-Einakter „box.“ des Amerikaners Dennis Elkins in der Surgeons’ Hall; er hat ihn ebenfalls selbst verfasst. Elkins verarbeitet darin sein Leben in und aus Schachteln, das er als Schauspieler seit dem Drogentod seines Sohnes führt; der einstige Shakespeare-Darsteller verwendet als einziges Requisit (wie Ridiculusmus) eine grosse Faltschachtel aus Karton. Die humorvolle Melancholie, mit der Elkins seinen Weg in der Box spielt, schürft tief.
Bühne frei in der Medizinischen Fakultät
Ebenso in der Surgeons’ Hall tritt ein junger Kollege Dennis Elkins’ vom gleichen New Yorker Ensemble Flying Solo, Craig MacArthur, auf. Er gibt packend mehrere Rollen in dem für ihn geschriebenen hoch konzentrierten Stück „Marrow“ von Brian Quirk über Liebe und Hass, Lust und Angst, Krankheit und Tod. MacArthur ist auch Dozent für Stimmbildung und amerikanische Dialekte. Die Surgeons’ Hall der Medizinischen Fakultät ist eine der vielen Spielstätten, mit denen Fringe-Gasttruppen Verträge abschliessen für einen intimen schwarz ausgekleideten Raum mit nicht scharf abgetrennten Bühnen, Antibühnen, Arenen.
And all the huge rest of it
Dort fällt mir auf dem South-Bridge-Trottoir die studentische Produktion aus Syracuse „The Domestic“ auf; sie wird gleich drinnen über Eck gespielt; die etwa vierzig Zuschauersitze stehen diagonal im Raum. Trotz gutem eigenem Live Rock für zwei Gitarren, Perkussion und tragenden Singstimmen hält sie nicht, was sie verspricht, weil Texte und Performance dem Ton entlang zurechtgebogen sind.
Schweizer Produktionen, oder deutsche, schaut sich der verwöhnte Zürcher nicht in Edinburgh an, weder in der Festival Hall im Universitätsviertel, noch auf der Wiese; so heisst der Stadtpark, in dem im August Zirkus und Variété gastieren und schottisches Bier gezapft wird (Weisswürste hab ich keine gesehen, dafür Haggis-Sandwiches). Auf den Meadows bleibt mir die Spucke weg im voll besetzten Chapiteau, als elf australische Akrobaten, die Circa:Humans, ihre Sprünge, Turmbauten, Salti konstant mit Abrollen über eine Schulter beenden, um nur zwischendurch zu demonstrieren, dass die übliche Landung auf beiden Füssen sehr hart ist. Sie bereichern ihr fünfviertelstündiges Programm mit mimischen Sketches, die an Witz und Poesie nichts zu wünschen übrig lassen. Der Atem stockt, wenn zwei Frauen ungeahnte Akte am Schleppseil ohne Netz eher tanzen als turnen. Auftritte der blutjungen Circa:Humans wären ein Gewinn für jeden grossen Zirkus.
Rushdie und Barnes
Büchernarren werden den Internationalen Bücherfestival unter dem Motto „Wir brauchen neue Geschichten“ in der georgianischen Neustadt nicht links liegen lassen. Da treten neben vielen Unbekannteren auch Grössen wie Salmon Rushdie und Julian Barnes mit ihren neusten Romanen, „Quichotte“ und „The Belle Epoque“, an – ein anderes Mal würde ich meine Reisedaten nach den Auftritten so ausserordentlicher Dichter richten; sie sind im Vereinigten Königreich Gassenfeger, lange im Voraus ausgebucht. – Schottland ist nicht nur Golf und Nordseeöl, Whisky und Kilt.