Am 22. Dezember 1481 schlossen die acht Alten Orte der Eidgenossenschaft das Stanser Verkommnis. Dem Abkommen vorausgegangen war ein erbitterter Streit. «Bruder Klaus hat wohl gewirkt.» Heute sind es genau 541 Jahre her. Eine Erinnerung.
«Wo Geld kommt, geht Gott.» Der Gedanke wird dem russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski zugeschrieben. Vielleicht ist es auch der Frieden, der geht. Mindestens bei der berühmten Burgunderbeute nach den drei eidgenössischen Siegen über Karl den Kühnen 1476/77 war es so. «Und kam vil geltz in das lant», heisst es in der «Chronik der Stadt Zürich» lapidar. Bereits der Berner Chronist Diebold Schilling der Ältere verachtete das «boess und verfluechte roupguot»; das Raubgut habe die bestehende Ordnung verändert.1 Und Unfrieden gebracht.
Geld und Gold verstärken die korrosiven Kräfte
Die Burgunderbeute sprengt jeden Rahmen, schreibt der Historiker Kurt Messmer.2 Dazu zählen unter anderem 400 Kanonen, 800 Gewehre und 300 Tonnen Schiesspulver – und eben dieses «roupguot». Geld und Gold generieren Neid und Zwietracht – zu allen Zeiten. Und verstärken die korrosiven Kräfte.
Das erlebt auch das wacklige Geflecht der Acht Alten Orte. Dieses komplizierte Konstrukt von Städten und Ländern ist aus dem kleinen Kern der Urschweizer Talschaften entstanden, dieser embryonalen Urform unseres Landes am Ausgang des Mittelalters. Der lockere Staatenbund hat noch keinen Namen; über lange Zeit wird er schlicht Eidgenossenschaft genannt. Der Zusammenhalt ist immer wieder bedroht. Von aussen wie von innen. Und im Innern noch häufiger. Im Bürgerkrieg zwischen den Innerschweizern und den Zürchern 1436–1450 kommt es sogar zu Seeschlachten auf dem Zürichsee.
Am Rande eines Bruderkrieges
Der Streit um die Burgunderbeute nach 1477 führt zu zwei Separatbündnissen zwischen den Städten und den Landorten und zu einem «Saubannerzug» aus der Innerschweiz Richtung Genf: Eine Kriegerbande von 1700 jungen Haudegen will auf ihrem Raubzug eine alte Kriegsschuld einfordern. Das Misstrauen unter den Bündnispartnern wächst und mit ihm die Gefahr des Auseinanderbrechens. Der innere Zusammenhalt erodiert. Die beiden Parteien sind bereit, gegeneinander Krieg zu führen. Wieder droht ein Waffengang zwischen Eidgenossen.
Mehrere Tagsatzungen versuchen zu schlichten. Es ist ein zähes Ringen. Die beiden Bündnisse sollen aufgelöst und die Städte Freiburg und Solothurn neu in die Eidgenossenschaft aufgenommen werden. Das aber verstärkt im losen Bund das Gewicht der Städte. Am 30. November 1481 ist man sich endlich einig. Doch die drei Urschweizer Landorte Uri, Schwyz und Unterwalden leisten Widerstand.
Das «Stanser Verkommnis» als elementarer Grundlagentext
Erst der «eidgenössische Gesandtenkongress» zu Stans vom 18. bis 22. Dezember 1481 bringt den Durchbruch. «Aus göttlichem Mund» sei der entscheidende Rat gekommen, heisst es. Es sind die versöhnlichen Ratschläge des angesehenen Einsiedlers Niklaus von Flüe, die den Ausschlag geben. Das Abkommen wird in letzter Minute unterzeichnet. Bruder Klaus selber ist nicht persönlich anwesend. Der Stanser Pfarrer Heimo Amgrund überbringt die mündliche Botschaft des Eremiten aus dem Ranft; im Wortlaut kennen wir sie nicht. Darum ist sein Einfluss auch nicht ganz klar, quellenmässig aber ist sein Mitwirken belegt.3 Die Städte Freiburg und Solothurn treten dem Bund bei, allerdings mit weniger Rechten. Das Geflecht hält. Nicht umsonst bezeichnet der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli Niklaus von Flüe als den «Frieder» der Eigenossen. Ein Mediator, so würde die heutige Zeit vielleicht sagen.
Bruder Klaus‘ Wirken ist wichtig und nachhaltig. Mit seinem Tatsachensinn und seiner Vision kittet und einigt er den ungesicherten Staatenbund. Die Einleitung zum Vertrag lese sich «wie eine frei wiedergegebene Predigt» des Eremiten, schreibt Messmer. Das «Stanser Verkommnis» von 1481 bleibt bis 1798 der einzige Text, der die Verfassungsstruktur der ganzen Eidgenossenschaft festhält4: eine Urkunde mit acht Siegeln, gültig für zehn Orte. Der Kontrakt von lediglich einer Seite gilt über 300 Jahre – bis zum Einmarsch französischer Revolutionstruppen und dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft.
Eine demokratische Grundregel: sich gegenseitig achten
Ein Jahr nach der Übereinkunft lässt Bruder Klaus einen Brief an den Rat von Bern senden. Selber kann der Klausner aus der tiefen Schlucht im Melchtal nicht schreiben. Er bedankt sich für eine Gabe an seine Stiftung. Und aus Liebe, so fügt er bei, sage er noch etwas mehr. Im Originalbrief heisst es dann: «Darum sönd ir luogen, dz ir enandren ghorsam syend.» Darum sollt ihr euch bemühen, einander gehorsam zu sein. Das tönt untertänig und für heutige Ohren unverständlich.
Doch der Ausdruck «ghorsam» stammt vom Wort «horchen» und meint: aufmerksam auf etwas hören, einander zuhören. Darauf verweist der Schriftsteller Peter von Matt. Und er fügt bei: Niklaus von Flües Zuruf im Berner Brief «ist also ein politisches Programm. Er zielt auf die politische Kommunikation», auf gegenseitige Achtung.5 Und als zweite Grundregel demokratischer Politik heisst es bei Bruder Klaus: «Darumb so sönd ir luogen, dz ir uf frid stellend.» Darum sollt ihr bemüht sein, alles auf Frieden auszurichten.6 Zwei ewig gültige Prinzipien.
Bruder Klaus’ Versöhnungskultur
Die Schweiz – ein Maximum an Komplexität auf einem Minimum an Raum, so könnte man sagen. Unser Land ist vielleicht so etwas wie die Wirklichkeit des Unmöglichen: ein Konstrukt mit vielfältigen räumlichen, sprachlichen und konfessionellen Lebensrealitäten und Mentalitäten, ein Land mit vielen Bruchfugen und zentrifugalen Tendenzen, aber mit einer gegenseitig überlappenden Solidarität und einer Kompromisskultur – und darum bis heute ein Ganzes. Zusammengehalten von einer Versöhnungskultur, wie sie Bruder Klaus verkörpert hat. Der Kompromiss als Kunst des Möglichen.
[1] Burgunderkriege, in: Historisches Lexikon der Schweiz HLS: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008881/2011-03-17/ [konsultiert: 21.12.2022]
[2] Kurt Messmer, Stans 1481, vielleicht sind wir das, in: Blog des Landesmuseums: Stans 1481, vielleicht sind das wir – Blog zur Schweizer Geschichte - Schweizerisches Nationalmuseum [konsultiert: 21.12.2022]. Eine lesenswerte Blogskizze des freischaffenden Historikers Kurt Messmer.
[3] Ernst Walder (1994), Das Stanser Verkommnis. Ein Kapitel eidgenössischer Geschichte. Stans: Historischer Verein Nidwalden, S.51,
[4] Thomas Maissen (2010), Geschichte der Schweiz. Baden: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, S. 62.
[5] Peter von Matt, Bruder Klaus und die Selbstfindung der Schweiz. Rede an der Gedenkfeier am 30. April 2017 auf dem Landenberg in Sarnen. Msc. unpubl., S. 7.
[6] Ebda, S. 9.