Die Bilder, die die Kreml-kritische Tageszeitung «Nowaja Gaseta» am Montagabend auf ihrer Webseite verbreitet, müssen manchem alten Russland-Kenner ein Schmunzeln entlocken: Da protestieren auf dem traditionsreichen Moskauer Puschkin-Platz tatsächlich Anhänger der russischen Kommunisten mit roten Fahnen, auf denen das Hammer- und-Sichel-Symbol prangt, gegen Wahlmanipulationen bei der Duma-Wahl.
Der KP-Kandidat Michail Taranzow erklärt laut dem Bericht der Zeitung, dass er bei der Auszählung der Wahlzettel 35 Prozent der Stimmen bekommen habe und damit den ersten Platz in seinem Wahlkreis gewonnen habe. Dann aber seien später die elektronisch abgegebenen Stimmen hinzugezählt worden, und da sei er plötzlich auf Platz 2 abgerutscht. Er sei nicht bereit, dieses Ergebnis zu akzeptieren, und er verlange eine Wiederholung des Wahlgangs, rief der der KP-Vertreter aus.
Die Rolle der «System-Opposition»
Die Demonstration empörter Kommunisten gegen Wahlmanipulationen des Kreml-Apparates entbehren deshalb nicht einer ironischen Komponente, als diese Partei ja in Russland rund siebzig Jahre lang die Macht absolut kontrolliert hat und während ihrer Herrschaft jede kritische Regung in der Gesellschaft und jeden Ansatz von Protest gegen das leninistische Einparteiensystem gnadenlos unterdrückt hatte. Auch hat die Kommunistische Partei nach dem Kollaps der Sowjetunion und seit Putins Aufstieg an die Kremlspitze vor über zwanzig Jahren in allen wesentlichen Fragen immer brav mit der Putin-Partei gestimmt. Sie hat sich unter Führung ihres inzwischen vergreisten Vorsitzenden Gennadi Sjuganow auch nie ernsthaft von den Verbrechen ihres Säulenheiligen Stalin distanziert.
Die KP zählt denn auch zusammen mit den Nationalliberalen des Ultranationalen Schirinowski und andern kleineren Parteien zur sogenannten Systemopposition, die zwar bei Gelegenheit gerne rhetorisch gegen den Apparat des Kremls vom Leder zieht, sich im Übrigen aber dank lukrativen Privilegien aus dem staatlichen Füllhorn bequem in den bestehenden Machtverhältnissen eingerichtet hat.
Deshalb ist auch nicht damit zu rechnen, dass die Proteste von Kommunisten auf dem Moskauer Puschkin-Platz gegen Wahlmanipulation irgendwelche Wirkung haben könnten. Sie werden von den mehrheitlich an diesem Wahlkampf ohnehin desinteressierten Russen wohl eher als folkloristisches Ritual wahrgenommen. Ausserdem können sie von den Putin-Propagandisten im In- und Ausland als Beweis dafür zitiert werden, dass Opposition und Protest auch im heutigen Russland durchaus toleriert werde.
«Sowjetisches» Ergebnis in Tschetschenien
Dass es bei dieser Duma-Wahl zu Fälschungen und Manipulationen insbesondere im Zusammenhang bei der Auszählung von elektronisch abgegebenen Stimmen gekommen ist, wird natürlich keineswegs nur aus den Reihen der Putin-frommen Kommunisten behauptet. Die russische Nichtregierungsorganisation Golos (Stimme), die unter restriktiven Bedingungen immer noch tätig bleibt, hat unzählige Regelverstösse aus den Wahllokalen im ganzen Land gemeldet. Doch die Behörden haben diese Einwände bisher pauschal als unglaubwürdige Fabrikationen abgetan.
Am offiziellen Wahlergebnis dieser Duma-Wahl wird auf jeden Fall nicht mehr gerüttelt werden – Proteste und Einsprachen hin oder her. Gemäss diesem Ergebnis hat die Putin-Partei Einiges Russland 49,9 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen. Das sind zwar gut vier Prozent weniger als bei der letzten Wahl vor fünf Jahren, doch wegen der Besonderheiten des Wahlsystems behält die Kreml-Partei ihre bisherige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die Kommunisten brachten es auf 19,8 Prozent und die Nationalliberalen Schirinowskis auf 7,5 Prozent. Zwei weitere Parteien werden in der Duma vertreten sein: Gerechtes Russland und Neue Leute mit 7,5 und 5,3 Prozent Stimmenanteil.
Die Stimmbeteiligung wird offiziell mit 51,98 Prozent angegeben. Aus Tschetschenien, wo der von Putin protegierte Machthaber Kadyrow ein blutbeflecktes Regime betreibt, wird eine Wahlbeteiligung von 93 Prozent gemeldet, der Stimmenanteil für die Kreml-Partei Einiges Russland soll dort 96 Prozent betragen – Zahlen, wie sie einst während der sowjetischen Einparteienherrschaft im ganzen Lande üblich waren.
Nawalnys «Smart Vote» funktioniert nicht
Entscheidend für das Zustandekommen der im Vergleich zum bisherigen Status quo überaus «stabilen» Ergebnisse dieser Duma-Wahl waren indessen weniger die gemeldeten oder kritisierten Verfälschungen während des dreitägigen Wahlganges. Viel einschneidender waren die aufwendigen Manipulationen und Willkürmassnahmen im Vorfeld der Stimmabgaben. Viele oppositionelle Kandidaten waren von den kremlhörigen Behörden gar nicht zu den Wahlen zugelassen worden. Die Hauptfigur der regimekritischen Strömungen, Alexei Nawalny, sollte schon im vergangenen Jahr durch eine Vergiftungsaktion von Geheimdienstagenten ausgeschaltet werden.
Als dies misslang, wurde er nach seiner Heimkehr von einem Spitalaufenthalt in Deutschland in einem grotesken Gerichtsverfahren zu mehr als zwei Jahren Lagerhaft verurteilt. Seine Organisation ist inzwischen zerschlagen, und unzählige seiner Anhänger sind verhaftet worden. Zu Beginn des Jahres waren in russischen Städten noch Hunderttausende von Nawalny-Sympathisanten auf die Strasse gezogen. Nawalnys Empfehlung, der Kreml-Partei durch sogenanntes Smart Vote einen Denkzettel zu erteilen, scheint vom Regime durch Einschüchterungen und technische Gegenmassnahmen wirksam durchkreuzt worden zu sein.
Durch «Kluges Wählen» sollten die Wähler konzentriert für jene zugelassenen Duma-Kandidaten stimmen, die nicht der Putin-Partei angehörten. Via Internet-Apps sollten die Bürger in jedem Wahlkreis entsprechende Wahlempfehlungen beziehen. Doch Technologieunternehmen wie Google und Apple hatten die dazugehörigen Apps in Russland kurz vor den Wahlen gelöscht – angeblich wegen des massiven Drucks der Behörden, die dem russischen Personal dieser Firmen mit Strafverfahren gedroht haben sollen. Dieses Kapitel, bei dem die genannten Firmen keine gute Figur machen, müsste noch genauer durchleuchtet werden.
Traut Putin dem Wahlvolk?
Wie immer man diese Duma-Wahl dreht und wendet, sie bestätigt, was man schon vorher wusste: Putin sitzt fest im Sattel, auch wenn er sich wegen Corona-Infizierungen in seinem personellen Umfeld in Quarantäne zurückgezogen hat. Sein von ihm absolut beherrschter Machtapparat hat Russland fest im Griff. Seine wichtigsten Wahlkampfinstrumente sind die flächendeckende Propaganda des Staatsfernsehens sowie ein vielschichtiges System von Einschüchterungen, Willkür und materiellen Belohnungen für Angepasste. Dennoch gibt es wenig Zweifel, dass eine Mehrheit unter den Russen auch mit weniger Druck von oben für Putin und sein System stimmen würden.
Der 68-jährige Kremlchef, der nach einer Verfassungsänderung noch weitere 15 Jahre an der Macht bleiben könnte, und sein Apparat scheinen dieser freiwilligen Zustimmung selber nicht recht zu trauen. Sonst hätten sie diese Duma-Wahl kaum mit so aufwendigen Manipulationen durchgepaukt.