Ein Halbwüchsiger klaut den Feriengästen in einer noblen weissen Arena die Skiausrüstungen, um mit deren Weiterverkauf für sich und seine ältere Schwester den Unterhalt ihres Lebens als abgebranntes Paar zu bestreiten. Ursula Meier gelingt mit dieser zwar ungewöhnlichen, aber einfachen Geschichte ein grossartiger Film. Er hat an der Berlinale – unter dem Titel „L’Enfant d’en Haut“ – zu Recht einen Silbernen Bären gewonnen. Nach dem Dokumentarfilm „Die Sprinterin“ und dem Spielfilmerstling „Home“ ist der 41-jährigen Genfer Regisseurin endgültig der Durchbruch zur Spitze des schweizerischen Filmschaffens gelungen.
Verzicht aufs Moralisieren
Ursula Meier schöpft aus einer eigentlich simplen Story sämtliche dramatischen und komödiantischen Möglichkeiten der Vertiefung und Überhöhung. Sie erzählt mit fabulierender Lust. Und verblüfft zunächst mit der spannend-sachlichen Schilderung der Diebestouren. Der 12-jährige Simon stiehlt planmässig, abgebrüht und frech wie ein Profi und verkauft die teuren Skier, Brillen und Windjacken wie ein ehrbarer Geschäftsmann. Wer ihm auf die Schliche kommt, prallt auf eine so köstliche wie wirksame Abwehr aus gespielter Unschuld oder dreister Ehrlichkeit.
Damit ist eine erste Qualität des Films angetönt, nämlich der konsequente Verzicht aufs Moralisieren. Ob Simon clever Beutelager organisiert und seinen Handel kühl berechnend ankurbelt, ob seine Schwester Louise von einem Liebhaber zum nächsten lottert oder sturzbetrunken am Boden liegt, ob die beiden mit knüppeldicken Lügen Mitleid schinden: in keiner Szene auch nur eine flüsternde Stimme, die jemandem ins Gewissen reden will.
Faszinierende Deutungsfülle
Dem Zuschauer wird alle Freiheit der Interpretation bewahrt. Er kann den Film als Sozialdrama lesen, als Gaunerkomödie, als tragische Suche nach menschlicher Wärme, als Fürsprache für mehr Gerechtigkeit oder als Parabel einer aus den Fugen geratenen Welt. Dieser Reichtum an Deutungen, jede für sich plausibel, ist die zweite Qualität des Films.
Die dritte ergibt sich aus der schauspielerischen Leistung bis zu den Nebenrollen. Léa Seydoux als Louise und Kacey Mottet Klein als Simon brillieren mit ihrer Ausdruckskraft zwischen Übermut und Jammer, zwischen Wildheit und Niedergeschlagenheit. Ursula Meier führt ihre Darstellerinnen und Darsteller präzis und phantasievoll, Agnès Godard bringt sie – und die Winterlandschaft – packend ins Bild. Das von der Regisseurin und Antoine Jaccoud verfasste Drehbuch sitzt, auch mit den witzigen und immer wieder kalten und rauhen Dialogen.
Faszinierende Deutungsfülle
Ursula Meier beherrscht als vierte Qualität ihres Films die überraschenden Drehungen und Wendungen. Die Handlungsorte wechseln hin und her vom Tal der Armut zum Berg des Reichtums. Die Seilbahn mit Simon als jeweils einzigem Passagier verbindet mehrdeutig Oben und Unten. Unerwartet löst der Handlungsverlauf ein Rätseln aus über die wahren persönlichen Beziehungen. Wir reiben uns verwirrt die Augen. Zu den raffinierten Umschwüngen passt das fehlende Happy-End. Der Zuschauer muss den Ausgang selber finden.
Kurz: die von Ruth Waldburger und Denis Freyd verantwortete schweizerisch-französische Koproduktion ist ein Erlebnis, das kaum je ein Durchatmen erlaubt.