Nach drei Monaten Unterbruch will Donald Trump am Samstag erstmals wieder eine grosse Wahlkampfveranstaltung in einem Hallenstadion mit Tausenden von Leuten abhalten – trotz Covid-19 und Warnungen von lokalen Gesundheitsexperten vor einem «perfekten Sturm». Das Rally in Tulsa (Oklahoma) hätte erst einen Tag zuvor, am 19. Juni, stattfinden sollen. Doch offenbar gelang es jemandem, den Präsidenten davon zu überzeugen, dass dies angesichts der Stimmung im Lande eine schlechte Idee wäre.
«Juneteenth» erinnert an den 19. Juni 1865, als die Truppen der Union nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges in Texas die letzten amerikanischen Sklaven befreiten. Die Stadt in Oklahoma wiederum war 1921 Schauplatz des «Tulsa Race Massacre», als ein weisser Mob innert zwei Tagen gegen 300 Schwarze tötete – einer Quelle zufolge «der schlimmste einzelne Fall von rassistischer Gewalt in der amerikanischen Geschichte».
Donald Trump macht keinen Hehl daraus, dass es ihn aus seinem Bunker in Washington D. C. erneut nach draussen und unter seine treuen Anhänger zieht. Joe Biden, der demokratische Präsidentschaftskandidat, agiert zurückhaltender und zieht es vor, in erster Linie online aufzutreten und Wahlspenden zu sammeln. Was sich Barack Obamas Vizepräsident angesichts jüngster Umfragewerte derzeit gut erlauben kann.
Joe Biden führt in nationalen Umfragen mit bis zu 14 Prozent Vorsprung auf Donald Trump, wobei der Abstand in Staaten, welche die Wahl im November entscheiden dürften, kleiner ist. Auch liegt Biden in wichtigen Wählersegmenten wie zum Beispiel unter Frauen oder Unabhängigen vorn. Umfrageergebnisse sind jedoch nicht mehr als Schnappschüsse und – wie die Erfahrung zeigt – mit Vorsicht zu geniessen. Ein statistisches Wahlmodell des britischen «Economist» räumt Trump eine Erfolgschance von 20 Prozent ein.
Auf jeden Fall dürften die Corona-Pandemie und die landesweiten Proteste nach der Tötung George Floyds in Minneapolis kaum dazu beigetragen haben, die Beliebtheit des Präsidenten zu steigern. Entsprechend gross ist dem Vernehmen nach die Nervosität im Weissen Haus. Zwar gibt man sich gegen aussen hin gelassen. «Der Präsident hat bisher (…) mehr erreicht als jeder andere Amtsinhaber der Geschichte», lässt ein stellvertretender Pressesprecher verlauten. Donald Trump habe dank seines resoluten Eingreifens während der Corona-Pandemie «Millionen von Menschenleben gerettet» und jüngst nach landesweiten Protesten «Ruhe und Ordnung auf unseren Strassen wiederhergestellt».
Doch intern soll es an der 1600 Pennsylvania Avenue brodeln. Ein Ziel von Donald Trumps Zorn ist angeblich Schwiegersohn Jared Kushner, der die Wahlkampforganisation des Präsidenten leitet. Wenig zu Trumps Zufriedenheit dürfte auch der Umstand beitragen, dass sich prominente Republikaner wie George W. Bush, Colin Powell, Condoleezza Rice, Mitt Romney, Cindy McCain oder Jim Mattis direkt oder indirekt von ihm abwenden. Derweil hat ein republikanischer Wähler auf Facebook anonym die Seite «Ich bereue es, 2016 für Donald Trump gestimmt zu haben» gestartet.
Nach wie vor ungebrochen aber ist die Unterstützung des Präsidenten unter den meisten Republikanern im Kongress. Auf die Frage eines Reporters, was er von Trumps Auftritt mit einer Bibel vor der St. John’s Episcopal Church in Washington D. C. halte, antwortete Rob Portman, Ohios republikanischer Senator mit Schweizer Wurzeln, er könne das nicht kommentieren, da er «für einen Lunch verspätet» sei.
Währenddessen beginnen in den USA demokratische Kreise und Trump-Gegner unter den Republikanern Szenarien zu entwerfen für den Fall, dass Donald Trump sich weigert, nach einer verlorenen Wahl am 3. November das Weisse Haus zu verlassen. Für möglich halten es die Planer auch, dass der Präsident vor dem Urnengang in grösseren Städten in wahlentscheidenden Staaten den Notstand ausruft, um so zu verhindern, dass die Wahllokale öffnen können. Oder dass Justizminister Bill Barr, ein treuer Diener seines Herrn, eine Woche vor der Wahl eine Strafuntersuchung gegen Joe Biden einleitet. Denkbar ferner, dass Donald Trump unter Hinweis auf eine besondere Lage wie zum Beispiel die Corona-Pandemie ankündigt, die Präsidentenwahl abzusagen oder zu verschieben.
Die Planer beunruhigt der Umstand, dass der Präsident jüngst wiederholt die Integrität der Briefwahl attackiert und unterstellt hat, das amerikanische Wahlsystem sei manipuliert. Auch bemühen sich Republikaner in einzelnen Staaten, die Stimmabgabe zu erschweren unter dem Vorwand, sie wollten Betrug verhindern. Dies, obwohl mehrere Studien zeigen, dass Donald Trumps Behauptungen zum Trotz Wahlbetrug in den USA nur sehr selten vorkommt.
Selbst Joe Biden hat vergangene Woche am Fernsehen ausdrücklich davor gewarnt, dass der Präsident die Wahl stehlen könnte. In Trevor Noahs Sendung «The Daily Show» sagte der demokratische Kandidat, ein fairer Wahlprozess sei seine «grösste Sorge». Er habe sich überlegt, was zu tun sei, falls Donald Trump sich weigere, am 19. Januar 2021 sein Amt aufzugeben: «Ich verspreche euch, dass ich absolut davon überzeugt bin, dass sie (das Militär) ihn eiligst aus dem Weissen Haus eskortieren werden.»
Donald Trump hingegen hat letztes Jahr in einem Interview mit dem Fernsehsender NBC beteuert, er werde den Wahlausgang 2020 «zu hundert Prozent» akzeptieren. Auch auf Fox News hat er jüngst Bedenken zerstreut, er könnte den Entscheid des amerikanischen Volkes missachten. Zwar wäre seine Wahlniederlage für das Land «eine sehr traurige Sache», sagte Trump. Er würde aber einfach «weitergehen und andere Sachen machen».
Noch bleiben viereinhalb Monate bis zur Wahl Anfang November. Bis dann kann noch viel Unvorhergesehenes passieren, zum Beispiel etwas, das sich so unvermittelt ereignet wie jüngst die Proteste nach der Tötung George Floyds – gemäss der Erkenntnis des amerikanischen Meteorologen Edward N. Lorenz, wonach der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann. Und nicht zu vergessen eine «October surprise», ein unerwarteter Vorfall kurz vor der Wahl, der den Ausgang des Urnengangs beeinflusst.
Der Begriff erinnert an das Jahr 1980, als die Republikaner in den USA fürchteten, es könnte Präsident Jimmy Carter noch kurzfristig gelingen, die 52 amerikanischen Geiseln im Iran zu befreien und Ronald Reagans Wahl im November zu vereiteln. Einer Verschwörungstheorie zufolge konspirierten damals Wahlhelfer des republikanischen Kandidaten mit den neuen Machthabern in Teheran, um eine «Oktoberüberraschung» Carters zu verhindern. Fakt ist, dass die Geiseln 20 Minuten nach Ronald Reagans Rede zum Amtsantritt freikamen. Nicht umsonst gilt Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten.