Auf der faktischen Ebene war die Annexion der Krim bislang wahrlich eine «drôle de guerre», ein seltsamer Krieg. Keine Schiessereien, keine Bombardements, keine Drohnenangriffe, keine Massaker. Ein paar schweigsame Soldaten ohne Hoheitsabzeichen umstellten ukrainische Militärkasernen, marschierten dann rein, und als Höhepunkt der Kampfhandlungen setzte es vielleicht mal eine Ohrfeige. Auch die Sachbeschädigungen hielten sich in Grenzen; ein Eingangstor wurde von einem Panzer plattgefahren, vom einzigen U-Boot der ukrainischen Flotte wurde das Hoheitszeichen weggespitzt.
Krieg in den Köpfen
Noch komischer verlaufen die ideologischen und gedanklichen Kampflinien. Bis Anfang der 90er-Jahre wurde jeder fichiert und ausgegrenzt, der auch nur Verständnis für die Handlungen der Sowjetunion öffentlich äusserte, oder es hiess schlicht: «Moskau einfach!»
Inzwischen werden solche zweifelhaften Zeitgenossen höchstens noch als «Putin-Versteher» denunziert, als Pazifisten, die nicht einsehen wollen, dass der irre Iwan das Völkerrecht bricht und die «Weltgemeinschaft» ganz fest zusammenstehen muss, um das mit Sanktionen und Säbelgerassel zu beantworten. Dass niemand so recht weiss, woraus dieses Völkerrecht eigentlich besteht, wo es kodifiziert ist und welche Gerichte darüber befinden könnten, spielt wie immer in populistischen Luftkämpfen keine Rolle.
Sicher, es gibt den Internationalen Gerichtshof. Aber man schaue sich mal dessen Urteile der letzten Jahrzehnte an! Die Ukraine hat bislang dort keine Klage eingereicht. Wohl auch deswegen nicht, weil auch der beklagte Staat damit einverstanden sein müsste, sich einem allfälligen Urteil zu unterwerfen.
Aber am lustigsten ist, dass sich viele Wirtschaftsführer ein Ticket «Moskau retour» kaufen. Denn Geschäume und Getobe ist das eine, Geschäft ist das andere. Während dem Diktator im Kreml «Grenzen gesetzt» werden müssen, weil er «in einer anderen Welt lebt» (Angela Merkel), leben Geschäftsleute überraschenderweise in der Geschäftswelt.
Früher und heute
Während früher die einzige Niederlassung einer sowjetischen Bank in Zürich von der Bundespolizei strikt observiert wurde, die jeden Besucher fotografierte, identifizierte und auf die Liste der potenziellen Staatsfeinde eintrug, damit «Moskaus Fünfte Kolonne» im Ernstfall ausgeschaltet werden konnte, geniessen russische Oligarchen von Vekselberg abwärts heute Ansehen, Prestige und Einfluss. Niemand käme auf die Idee, ihre Schweizer Zuträger oder Mitarbeiter als Staatsfeinde zu sehen oder von ihnen kontrollierte eidgenössische Firmen auf eine schwarze Liste zu setzen.
Aber wenn beispielsweise der deutsche Siemens-Chef eine lange geplante Geschäftsreise nach Moskau antritt, weil er sich um die 800 Millionen Euro kümmern will, die sein Konzern in Russland investiert hat, dann versteht er wohl, wie es früher «Moskau-Verstehern» so erging. Vor allem, wenn er noch die vielleicht nicht ganz glückliche Formulierung wählt, dass es momentan ein paar «vorübergehende Turbulenzen» gebe, die aber doch den ordentlichen Gang der Geschäfte nicht weiter berührten. Die Gesamtinvestitionen ausländischen Kapitals betragen übrigens 18 Prozent des russischen Bruttoinlandprodukts, wenn man dem staatlichen Amt für Statistik trauen kann.
Hoch lebe die Globalisierung
Hier die angeblich freie und kapitalistische Welt, dort die Wirtschaftsgemeinschaft COMECON. Handelsbeziehungen nahe null. Das waren noch übersichtliche Zeiten. Moskau braucht westliche Technologie, gar einen Kredit in harter Währung? Lachhaft. Und welches Raunen ging durch die Reihen, als ausgerechnet der kalte Krieger Franz-Josef Strauss selig höchstpersönlich einen Milliardenkredit an die absaufende DDR einfädelte. Aber der schlaue Fuchs wusste schon damals: Bier ist Bier, Politik ist Politik, und Geschäft ist Geschäft.
Wie schon am Beispiel China vorexerziert, man erinnert sich noch an die «gelbe Gefahr», sind Menschenrechte, Demokratie und die Abneigung gegen kommunistische Diktaturen das eine. Chancen, Märkte, Konsumenten und Profite das andere. Nun hat Russland nicht den wirtschaftlichen Stellenwert wie China. Aber dringend benötigte Rohstoffe.
Das sieht auch Bundeskanzlerin Merkel ein. Zum Fenster hinaus droht sie mit einer möglichen Neuordnung der deutschen Energiepolitik, im Klartext weniger Abhängigkeit von russischem Erdgas und Öl. Gleichzeitig hat sie nichts gegen Milliardeninvestitionen russischer Oligarchen und des Staatskonzerns Gazprom in den deutschen Energieversorger RWE oder die BASF-Tochter Wintershall. Lang lebe die Globalisierung.
Dummes Geschwätz
In aller Freiheit, die dem deutschen Überstaatsmann Helmut Schmidt sein biblisches Alter gibt, bezeichnet er deshalb völlig zu Recht alle finsteren Drohungen mit Sanktionen oder gar das Heraufbeschwören einer «Kriegsgefahr», wie sich sein Parteikollege, der im Wahlkampf stehende Präsident des EU-Parlaments Martin Schulz, nicht entblödet an die Wand zu malen, als «dummes Geschwätz».
Denn die einzige Gefahr, die für die «Weltgemeinschaft» tatsächlich existiert, besteht darin, dass wie vor hundert Jahren eine lokal begrenzte Krise durch ein Zusammenspiel von Überforderung, Unverantwortlichkeit, Automatismen, Kurzsichtigkeit und einem Übermass an dummem Geschwätz ausser Kontrolle gerät – und zum ersten Mal eine Kriegsgefahr von Russland ausgehen könnte, das in den letzten zwei Jahrhunderten vier Mal vom Westen überfallen wurde. Zuerst von Napoleon, dann im Ersten Weltkrieg, anschliessend als Reaktion auf die Russische Revolution und schliesslich von Hitler.