In Nahost dreht sich alles um Israel, Hamas, die libanesische Hizbollah, Iran, allenfalls auch die jemenitischen Huthi – unberührt von all dem scheint Syrien und das Assad-Regime, direkt in der Nachbarschaft Israels und Libanons. Wie kommt das?
Syriens Regime verhält sich seit dem verhängnisvollen 7. Oktober (Terrorakt von Hamas) und dem verheerenden Gaza-Krieg auffallend still. Selbst auf israelische Luftangriffe gegen militärische Einrichtungen in Syrien, bei denen nicht nur iranische Revolutionswächter und deren Generäle getroffen wurden, sondern mehrmals auch syrische Soldaten ums Leben kamen, reagierten die syrischen Streitkräfte nicht.
Der Drogen-Export
Schlussfolgerung: Das Regime Syriens ist, nach 13 Jahren Krieg auf eigenem Territorium, mit der Selbsterhaltung so vollauf beschäftigt, dass es nach Möglichkeit vermeidet, in den Konflikt in der Region verwickelt zu werden. Devise: Augen zu und durch – und den Blick konsequent auf die Erfolge der letzten Jahre gerichtet.
Die sind tatsächlich erstaunlich: Präsident Bashar al-Assad wurde, nach Jahren der Isolation, wieder in die Gemeinschaft der Arabischen Liga aufgenommen, was bedeutet, dass er an den pompösen Treffen auf höchster Ebene wieder teilnehmen kann. Zu viel mehr allerdings hat die «Rehabilitation» innerhalb der Region nicht geführt: Die arabischen «Brudernationen» halten sich mit Investitionen für den Wiederaufbau der zerbombten Städte zurück. Sie erwarten alle, dass Syrien dem Export seiner Droge Captagon (die mehr und mehr Bereiche der nahöstlichen Gesellschaften zersetzen) ein Ende setzt, bisher allerdings vergeblich. Der Drogen-Export ist nach wie vor die Devisen-Quelle Nummer eins für Syrien; sie stillzulegen, dafür gibt es in Damaskus offenkundig keinen zwingenden Grund.
Die Harmonisierung der Beziehungen mit den arabischen «Brüdern» hat Syrien also bisher kaum etwas Handfestes gebracht. Im luftleeren Raum bewegen sich auch noch die Beziehungen mit der Türkei, auch wenn der türkische Präsident jetzt nach Möglichkeiten einer Wiederaufnahme des Dialogs mit dem Diktator in Damaskus sucht. Das tut Erdogan nicht aufgrund irgendwelcher Sympathien für Assad, sondern wegen der sich in der Türkei zuspitzenden Grundstimmung gegen die Syrien-Flüchtlinge. Da handelt es sich um rund 3,4 Millionen. Irgendwann – lieber früher als später – möchte die Türkei diese Menschen über die Grenze zurückschaffen, aber das kann sie nur, wenn sie mit Syrien wieder halbwegs normale Beziehungen hergestellt hat.
Hilfsgelder aus der Schweiz
In einer ähnlichen Zwangslage wie die Türkei befinden sich jene europäischen Länder, in denen Syrer in grosser Zahl provisorische Zuflucht gefunden haben und die sich von einer Last befreien möchten. Was dazu geführt hat, dass Ende Juli acht Aussenminister (von Österreich, Italien, Griechenland, Kroatien, Tschechien, der Slowakei, Slowenien und Zypern) forderten, «ohne Scheuklappen und Denkverbote» (so äusserte sich Kanzler Nehammer) über die Beziehungen zu Damaskus zu reflektieren. Dass man Syrien, Ablehnung des diktatorialen Systems von Präsident Assad hin oder her, nicht einfach ignorieren kann, machten bei anderer Gelegenheit aber nicht nur die Aussenminister dieser acht Länder, sondern die EU in ihrer Gesamtheit plus auch die Schweiz klar: An einer Geberkonferenz für Syrien wurden im April 7,5 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Folgen des internen Kriegs in Syrien (ausgebrochen 2011) zu lindern – die Schweiz versprach Hilfsgelder im Umfang von 60 Millionen.
Weshalb? Das EDA erklärte, die Zahl der auf humanitäre Hilfe angewiesenen Menschen in Syrien sei auf 16,7 Millionen angestiegen (7,2 Millionen Binnenflüchtlinge, über 5 Millionen in anderen Ländern, vor allem in der Türkei und im Libanon, mehr als nochmals vier Millionen auf Hilfe Angewiesene in Syrien selbst). Alle Teilnehmer der Geberkonferenz schworen hoch und heilig, man würde alles tun, um die Hilfe an die Syrerinnen und Syrer am Diktator-Regime vorbeizuschleusen – aber alle, die sich auf Erfahrungen vor Ort beriefen, sagten unmissverständlich, dass das nur Theorie sei, in der Praxis könne man nicht verhindern, dass wenigstens ein Teil der Gelder letzten Endes in den Taschen der (oft als Mafia bezeichneten) Machtgruppe um die Spitze der Herrschaftspyramide landen werde.
Ruhepol in einer chaotischen Welt
Das Assad-Regime kontrolliert derzeit etwa 60 Prozent des Territoriums des Landes, aber in diesen Regionen leben mehr als drei Viertel der rund 22 Millionen. Politische Gegner (gemäss Schätzungen zwischen 2,5 und 3 Millionen) wurden im Verlauf der Jahre in die Mini-Region um Idlib, im Nordwesten, abgedrängt – dort allerdings sehen sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass islamistische Extremisten die Herrschaft ausüben. Wer im Norden, in der Region um Aleppo, lebt, hat sich mit einer türkischen De-facto-Kontrolle abzufinden, und die Autonomie fordernden Kurden im Nordosten werden von der türkischen Luftwaffe immer wieder bombardiert. Dann befinden sich noch rund 900 US-amerikanische Soldaten im östlichen Teil Syriens – offizielle Mission ist die Bekämpfung des Terrornetzwerks des Islamischen Staats, tatsächliche Aufgabe aber viel eher, einen weiteren Terrain-Gewinn der Truppen des syrischen Regimes zu verhindern.
Mit all dem, auch mit dem faktischen Verlust von rund 40 Prozent des staatlichen Gebiets, hat sich Präsident Bashir al-Assad offenkundig abgefunden – zurücklehnen kann er sich allerdings nur dank der finanziellen und militärischen Unterstützung durch Iran, durch die libanesische Hizbollah und Russland. Seine regulären Streitkräfte kann al-Assad für die Kontrolle und notfalls die Unterdrückung von internen Gegnern in Reserve halten und sein Syrien (also die von seinen Kräften effektiv beherrschten 60 Prozent der Landesfläche) als Ruhepol in einer chaotischen Welt anpreisen.
So lange als der Nahost-Konflikt nicht explodiert, funktioniert das offenkundig. Aber sollte es zur Eskalation kommen, würde Syrien, allein schon aufgrund der geografisch exponierten Lage, ins Zentrum des Sturms geraten.