Sein Hinweis auf den einstigen Kalten Krieg zwischen dem Westen und der Sowjetunion dient dazu, den Ernst der Lage im Nahen Osten zu unterstreichen und die Gefahren anzudeuten, die sich daraus auch weltweit ergeben könnten.
Es gibt gleich drei Kalte Kriege
Doch wie alle historischen Analogien ist auch diese unvollständig und ungenau. In Wirklichkeit gibt es im Nahen Osten schon heute (und teilweise schon seit Jahrzehnten) drei Kalte Kriege sowie zurzeit einen heissen. Von diesen vier Kriegen kann man sagen, dass sie sich gegenseitig überschneiden und beeinflussen.
Israel-Palästina
Es gibt erstens den Jahrhundert-Krieg zwischen dem Zionismus und dem Arabertum, später zwischen Israel und den Palästinensern. Dieser Konflikt wurde mehrmals neu aufgefrischt, zuletzt im Jahre 2000, als die Israeli klar machten, dass sie nicht nur Israel, sondern auch die Besetzten Gebiete als ihren Einfluss- und Machtbereich beanspruchten. Sie machten klar, dass sie diese Territorien - unter gewaltsamer Niederhaltung der einheimischen Bevölkerung - besiedeln und dauernd behalten wollen.
Sunniten –Schiiten
Es gibt zweitens den Krieg zwischen den Sunniten und den Schiiten. Er ist in seinen Ursprüngen uralt, man kann die Schlacht von Kerbela von 680 nach Christus als seinen Anfangspunkt setzen. Neu entbrannt ist er zuletzt wegen der Blindheit der Amerikaner. Sie hatten 2005 mit ihrem Eingreifen im Irak einen sunnitisch-schiitschen Bürgerkrieg ausgelöst, der bis heute nachwirkt.
Israel-Iran
Es gibt drittens die Kriegsdrohungen Israels gegen Iran. Dabei geht es vor allem um das iranische Atomprogramm und um die Frage, ob Iran die Nicht-Proliferationsverträge verletzt oder nicht. Doch die Ursprünge dieser Spannungen sind in der unilateralen atomaren Aufrüstung Israels zu suchen. Diese Aufrüstung fand in den späten Fünfzigerjahren zunächst mit französischer und später mit amerikanischer Hilfe statt. Dies führte zu einem israelischen Nuklear-Monopol im Nahen Osten, das Israel nun mit allen Mitteln, auch kriegerischen, zu erhalten gedenkt, während Iran es möglicherweise zu brechen versucht, was aber nicht völlig erwiesen ist.
Die Konflikte kreuzen sich
Der israelisch-palästinensische Konflikt und die israelisch-iranischen Spannungen haben einen inneren Zusammenhang und kreuzen sich in Israel. Dagegen spielt die sunnitisch-schiitische Krise sich auf vielen Ebenen ab: zwischen Iran und dessen schiitischen und alawitischen Verbündeten auf der einen und Saudi-Arabien und dessen sunnitischen Verbündeten und Sympathisanten auf der andern Seite. Doch auch innerhalb einzelner Staaten bricht dieser Konflikt aus: im Irak, in Libanon, Jemen, Bahrain, Saudi-Arabien, Iran (in Bezug auf Belutschistan und den dortigen sunnitischen Widerstand gegen Iran) und über den Nahen Osten hinaus, in Pakistan und Afghanistan.
Verbunden mit der Israel-Frage
Obwohl dieser dritte Kalte Krieg (der sunnitisch-schiitische) Israel nicht direkt betrifft, hat er doch Einfluss auf Israel, weil die schiitisch-iranische Front sich gegen Israel richtet. Iran kämpft primär mit politischen, propagandistischen und gelegentlich mit terroristischen Mitteln. Die Israeli gehen mit politischen und kriegerischen Mitteln vor (wie in Libanon 2009). Ferner kämpfen sie mit nicht eingestandenen Mord- und Terroraktionen (Iran, Morde an Wissenschaftlern). Iran scheint neuerdings mit Mordversuchen an israelischen Diplomaten zu antworten.
Der syrische Bruderkrieg
Der heisse Bürgerkrieg, der vor elf Monaten in Syrien begonnen hat, ist vor dem schiitisch-sunnitischen Hintergrund zu sehen. Er hat weniger zu tun mit den arabisch-israelischen oder iranisch-israelischen Spannungen. Doch weil die syrische Regierung sehr eng mit Iran verbündet ist (angesichts der westlichen Sanktionsversuche ist diese Stütze für Damaskus wichtiger denn je zuvor) und weil Syrien für Iran das Bindeglied darstellt, das Teheran erlaubt, auf Israel Druck auszuüben (via seinen Klienten Hizbollah in Libanon), ist auch der heisse syrische Krieg in den Gesamtkomplex der drei sich überkreuzenden nahöstlichen Kalten Kriege eingebunden.
Gefahrenpotential
Man muss diese komplexe Gesamtlage im Nahen Osten im Auge behalten, wenn man die Gefährlichkeit der gegenwärtigen Spannungen zu bewerten versucht. Es handelt sich eben nicht nur um einen Konflikt, sondern um mehrere, die sich überschneiden und deren Ausgang noch völlig offen ist. Gerade weil sie zusammenspielen, bergen sie ein immenses, kaum noch messbares Gefahrenpotential.
Die Dynamik in Syrien und in Iran
Gegenwärtig besteht Explosionsgefahr im inner-syrischen heissen Krieg, der vorläufig noch in syrischen Grenzen gehalten wird, sich aber leicht über diese hinaus zu einem Stellvertreter-Krieg zwischen der sunnitischen und der schiitischen Front entwickeln könnte.
Doch noch viel grössere Gefahren drohen, falls die iranisch-israelischen Spannungen zu einem heissen Krieg führen sollten. Die Waffen, die dort zur Anwendung kämen, drohen mit noch grösseren Verheerungen als in Syrien. Die Israeli würden die neueste Waffentechnologie aus den USA erhalten und einsetzen. Die Iraner würden darauf mit "verbrannter Erde", "asymmetrischer Kriegsführung" und "Sperrung der Meerwege" antworten.
Der Stellvertreterkrieg, den eine israelische Kriegsaktion auslösen würde, hätte weltweite Auswirkungen: Die USA würden auf Seiten Israels wirken; Iran würde in der schiitischen, in der gesamten Islamischen Welt und in China und Russland Hilfe suchen und diese in mehr oder weniger eingeschränktem Masse erhalten.
Die zeitlichen Dimensionen
Syrien treibt relativ rasch dem kritischen Höhepunkt zu. Die Regierung Asads weiss, dass die Zeit auf längere Frist gegen sie wirkt. Sie ist darauf angewiesen, ihre heute noch weit überlegene Armee so rücksichtslos gegen die grosse Mehrzahl der eigenen Bevölkerung einzusetzen, dass sie noch auf einen "Sieg" hoffen kann, bevor eine kritische Zahl von Überläufern die Armee zu lähmen beginnt und bevor die westlichen Boykottmassnahmen die syrische Wirtschaft so stark beschädigen, dass Armee und Sicherheitskräfte nicht mehr bezahlt werden können.
Ein möglicher Sieg ohne Dauer
Dass dieser Sieg wohl ein Pyrrhus-Sieg wäre, falls er errungen würde, wollen die Asad-Regierung und die alawitische Minderheit, die diese Regierung hauptsächlich trägt, nicht zur Kenntnis nehmen. Die Gefahren, denen sie sich ausgesetzt glauben, falls sie den Krieg verlören, verstellen ihnen den Blick auf die entfernteren Folgen.
Aus diesen Gründen hat man zu erwarten, dass Asad in der unmittelbaren Gegenwart alles, was er seinen Gegnern antun kann, antut. Es ist nicht undenkbar, dass es ihm dadurch innerhalb der nächsten Monate möglicherweise gelingen könnte, in seinem Land Grabesruhe zu schaffen und die Bewegung des syrischen Volkes niederzuschlagen, etwa so, wie die russische Armee Tschetschenien zerschlug (1999-2002). Wohlgemeinte Erklärungen der Mehrheit aller Völker der Welt werden nichts daran ändern.
Möglich wäre aber auch ein Krieg bis zum Zusammenbruch des gegenwärtigen syrischen Staates und ein Neuanfang in dessen Ruinen. Wobei es freilich ein kaum zu erhoffender Glücksfall wäre, dass dieser Neuanfang zu einem funktionsfähigen demokratischen Regime führen könnte. Dies wäre schwierig bis unmöglich, und zwar wegen der vorausgehenden Zerstörung aller Strukturen und wegen des Hasses der Überlebenden aus den verschiedenen Volksgruppen aufeinander.
Es ist denkbar, dass dieser heisse Krieg innerhalb Syriens auf den syrischen Schauplatz beschränkt bleiben könnte. Obwohl zweifellos die drei verschiedenen kalten Kriege der Region auf ihn einwirken werden und ihn möglicherweise, wie dies im libanesischen Bürgerkrieg (1975 bis 1991), der Fall war, über viele Jahre hinweg beeinflussen können.
Gewichtsverschiebung in Nahost?
Die Gefahren, die drohen, falls Israel, wie es ständig andeutet, Iran angreifen sollte, sind sehr viel grösser. Die strategischen Einsätze sind von weltweiter Bedeutung wegen des Erdöls und seinem Transportweg aus dem Persischen/Arabischen Golf.
Ein Glücksfall wäre, falls es den Israeli gelingen sollte, die Atomanlagen Irans weitgehend zu zerstören, ohne dass der Krieg ausgeweitet würde auf eine Auseinandersetzung Irans mit den lokalen Verbündeten der USA und den USA selbst. Wenn jedoch dieser Glücksfall eintreten sollte, begänne Iran höchstwahrscheinlich sofort mit dem Wiederaufbau seiner Atomanlagen und wäre in wenigen Jahren wieder soweit wie heute.
Ein Dauerkrieg könnte dies verhindern, würde jedoch wahrscheinlich längerfristig zu einer allgemeinen Gewichtsverschiebung in der Nahost-Region führen. Statt unter amerikanisch-israelischer Hegemonie könnte die ganze Region leicht unter chinesischer enden.
Iranische Hartnäckigkeit
In den letzten Wochen haben die Spannungen zwischen Israel und Iran stark zugenommen. Die USA versuchen für den Augenblick, die Israeli von einem Überfall auf Iran abzuhalten. Sie haben die Sanktionen gegen Iran nach Kräften verstärkt und erklären den Israeli, es gelte nun abzuwarten, dass die Sanktionen wirkten.
Doch gleichzeitig werden auch in Amerika immer mehr Stimmen laut, die bezweifeln, dass diese Sanktionen Iran wirklich von seinem gewählten Kurs in der Atomfrage abbringen könnten. Es gibt keinerlei Hinweise dafür, sondern im Gegenteil immer mehr Anzeichen iranischer Hartnäckigkeit und iranischen Durchhaltewillens. Dazu gehören die jüngsten Ankündigungen Ahmadinejads von gesteigerten Anreicherungsaktivitäten.
“Zeichen iranischer Kriegsbereitschaft“
Zu den Aktionen, die Israel gegen den Iran durchführt, gehören die Ermordung von Wissenschaftlern, die Einsetzung des Stuxnet-Computerwurms, die Aufhetzung von Minderheiten gegen Teheran (Belutschen, Kurden, iranische Araber sowie der „grüne“ inner-iranische Widerstand). Diese Aktionen beantwortet der Iran mit Gegendrohungen und militärischen Demonstrationen, die dann von der amerikanisch-israelischen Seite schnell als Zeichen iranischer Kriegsbereitschaft gewertet werden.
Die iranischen Drohungen über eine mögliche "Sperrung des Golfes" gehören in dieses Kapitel. Die USA beantworteten sie, indem sie zweimal amerikanische Flugzeugträger durch die Enge von Hormuz entsandte. Auch die jüngste "Fahrt einer iranischen Kriegsflotte" durch den Suez-Kanal ins Mittelmeer ist eine politische Geste. Die iranische Flotte besteht nur aus einem Kriegsschiff und einem Transportschiff. Sie soll in einen syrischen Hafen einfahren und von dort aus "operieren". Doch diese bescheidenen Dimensionen hinderten den israelischen Aussenminister, Avigdor Lieberman, einen notorischen Scharfmacher, nicht daran, von einer "Herausforderung" zu sprechen, gegen die seiner Ansicht nach "der Westen nun endlich zu reagieren“ habe.
Der Einfluss der amerikanischen Wahlen
Das Gesamtbild kann man so schildern: die Amerikaner versuchen zurzeit, die Israeli von gefährlichen Handlungen abzuhalten. Sie tun dies, indem sie erklären, vielleicht täten die Sanktionen ihre Wirkung und indem sie gleichzeitig auch den Israeli immer wieder versichern, sie stünden auf alle Fälle an ihrer Seite. Sogar „im Gleichschritt“ wie Obama kürzlich erklärte.
Dies hat zur Folge, dass die USA, wenn, wie zu vermuten ist, die Wirkung der Sanktionen ausbleiben sollte, dem Drängen der Israeli auf "Aktion" umso argumentloser gegenüberstehen werden, als "ihre Politik" nicht zum Ziele geführt hat und die Israeli dann darauf drängen werden, die ihrige anzuwenden.
Natürlich wird auch das Ergebnis der amerikanischen Wahlen bei der Auslösung eines möglichen Iran-Krieges eine Rolle spielen. Die Wahlen in Amerika könnten den Zeitpunkt eines möglichen israelischen Schlages beeinflussen: Zuschlagen, während Obama gegen die Republikaner kämpft? Oder später auf die zu erwartende Sympathie von möglichen republikanischen Wahlsiegern bauen?
Die Folgen liegen im Dunkel
Die Folgen eines Krieges, wenn er einmal beginnt, sind nie absehbar. Irak bot den letzten Beweis dieses allgemeingültigen Satzes. Doch in diesem Fall spielendie andern, anders gelagerten Konflikte im Nahen Osten mit eine Rolle. Sie machen weitere Ausweitungen und Komplikationen von möglicherweise verheerenden Ausmassen besonders wahrscheinlich.