Mit ihrem paschtunischen Ethno-Nationalismus verhindern die Taliban die Entwicklung in Afghanistan. Inkompetente Regierung und Verwaltung sowie der Ausschluss der Frauen aus Bildung und Wirtschaft ruinieren das Land. Zudem macht der IS den Taliban die Macht streitig.
Der Paschtunistan-Platz in Kabul ist zum dritten Jahrestag der Machtübernahme der Taliban in der afghanischen Hauptstadt festlich mit Lichterketten und Fahnen des Emirats geschmückt. Die Medien versuchen, ein Bild von Normalität und Fröhlichkeit zu verbreiten. Doch jüngste Bombenanschläge in der IS-Provinz Khurasan wie jetzt im schiitischen Stadtteil Dascht-e Bartschi in Westkabul erinnern daran, dass die ethno-nationalistische Herrschaft der Taliban höchst umstritten ist.
Für den Jahrestag haben die Behörden, auch in Erinnerung an frühere verheerende Anschläge des IS, die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Sie rühmen sich zwar, das Reisen im Land sicherer gemacht zu haben (was nur bedingt den Tatsachen entspricht), müssen aber einräumen, dass der IS und lokale Rebellengruppen weiterhin aktiv sind.
Drei Jahre nach der Kapitulation der afghanischen Zentralregierung in Kabul und der Machtübergabe an das Talibanregime ist die Lage im Land prekär. Das betrifft nicht nur die Zivilbevölkerung, sondern auch die Organisationen, die trotz aller Hindernisse versuchen, Hilfe ins Land zu bringen. Wie prekär die Lage ist, zeigt sich aktuell an den Folgen des Klimawandels, der Afghanistan besonders hart trifft. Die Überschwemmungen der letzten Wochen und Monate haben weite Teile des Landes vor allem im Osten und Südosten in Mitleidenschaft gezogen, zahlreiche Dörfer wurden durch die Wassermassen und Erdrutsche zerstört. Die lokalen Verwaltungen sind überfordert und die wenigen Hilfsorganisationen, die vor Ort tätig werden können, haben kaum Möglichkeiten, den Menschen effektiv zu helfen.
Eine gescheiterte Gesellschaft
Die Situation ist aber nicht nur wegen der aktuellen Herausforderungen durch den Klimawandel und die damit einhergehenden Ressourcenkonflikte prekär. Sie ist es vor allem deshalb, weil es dem Taliban-Regime nicht gelingt und nicht gelingen kann, ein gemeinsames Gesellschaftsverständnis unter den Afghanen zuzulassen.
Die Herrschaftsordnung der Taliban widerspricht wichtigen Prinzipien ziviler Gesellschaftsbildung. Dazu gehören die Schaffung einer Ordnung, in der möglichst viele gesellschaftliche Gruppen einbezogen und in ihren jeweiligen Interessen repräsentiert sind: die gleichberechtigte Integration von Frauen in das öffentliche Leben und in die Arbeitswelt; die Schaffung breiter Bildung mit einem Fächerkanon, in dem das gesamte Spektrum der Wissenswelten repräsentiert ist; und nicht zuletzt braucht es wirtschaftliche Prosperität auf der Basis von Chancengleichheit. Politisch setzte dies ein Mindestmass an Rechtsstaatlichkeit und Rechtsgleichheit, politische Grundfreiheiten und die Organisation des Staates auch als Solidargemeinschaft voraus.
Das gesellschaftspolitische Experiment der republikanischen Herrschaft 1973–1992 hatte deutlich gemacht, dass die politische Diktatur einer sozialistischen Staatsordnung, mit der die Formierung der Gesellschaft als politischer Willensakt des Staates geplant und durchgesetzt werden sollte, schon im Ansatz gescheitert war. Der Teil der Bevölkerung, der sich in einem modernen Sinn als Gesellschaft verstand, beschränkte sich auf die staatstragende Nomenklatura und ihre Verbündeten. Dieser modernisierte Teil umfasste in Afghanistan nie mehr als 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung und beschränkte sich mit wenigen Ausnahmen auf die Hauptstadtregion Kabul.
In den Jahren der Republik stieg der Anteil der Bevölkerung Kabuls an der Gesamtbevölkerung des Landes von 4,7 auf 14,0 Prozent. In den Ordnungsvorstellungen der Paschtunen hatte diese staatstragende Elite eine eigene Ethnizität ausgebildet, die sie zu einem mächtigen Konkurrenten der Paschtunen machte, auch wenn ihre führenden Köpfe paschtunischer Herkunft waren. Doch die Taliban kehrten diesen Prozess um und förderten die politische Macht in den paschtunischen Provinzstädten, wodurch die soziale Basis der alten Nomenklatura erodierte. Heute beträgt der Anteil der Kabuler Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Afghanistans knapp zehn Prozent.
Das paschtunische Afghanentum
Dabei wäre es für Afghanistan allein schon angesichts der sozialen Desintegration durch die ausgeprägte Binnen- und Auslandsflucht – fast zehn Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen – zwingend notwendig, gute Voraussetzungen für das Gelingen eines gesellschaftlichen Aufbauprozesses zu schaffen. Genau hier versagt das Talibanregime. Die Gründe dafür sind vielfältig. Entscheidend dürfte sein, dass der religiöse Ethno-Nationalismus, als dessen Träger sich die Taliban verstehen, keinen politischen Gesellschaftsbegriff zulässt, sondern die Bevölkerung als Untertanen einer sozialmoralischen Ordnung begreift. Diese wird durch eine islamisch-puritanisch «gereinigte» Version der paschtunischen Sittenordnung, das «Paschtunwali», gestaltet.
Die Vergemeinschaftung wird zudem ethno-nationalistisch gesteuert. Der seit dem 16. Jahrhundert gebräuchliche und um 1800 in die politische Sprache aufgenommene Begriff «Afghane» und die Landesbezeichnung «Afghanistan» verweisen auf die Siedlungsgebiete der Paschtunen, die in der Vormoderne als «Afghanen» bezeichnet wurden. Der Prozess der Staatsbildung unter den Paschtunen im 18. Jahrhundert schuf zum ersten Mal die Vorstellung einer paschtunischen Vorherrschaft über andere Gemeinschaften in der damals «Khurasan» genannten Landschaft.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde aus der Herrschaft der Durrani-Paschtunen das «Emirat Afghanistan». Damit wurden die Paschtunen zur Titularnation und zur staatstragenden Gemeinschaft. Als «Afghanen» galten aber fortan formal alle Untertanen des Emirats bzw. später des Königreichs. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass das Paschtunische, das seit dem 16. Jahrhundert verschriftlicht wurde und sich allmählich zu einer eigenständigen Literatursprache entwickelte, im interethnischen Verkehr weiterhin vom Persischen (Dari) überlagert wurde und die Paschtunen vor allem in Kabul ihr «Afghanentum» auch in persischer Sprache zum Ausdruck brachten.
Die Sittenordnung, die oft einfach als «Afghaniyat», also «Afghanentum» bezeichnet wird, bildet den Kern des paschtunischen Ethno-Nationalismus. Die Taliban, die sich als islamische Erneuerer dieses Afghanentums verstehen und zu diesem Zweck den Islam «paschtunisch» interpretieren, verfolgen daher keine Politik, die es der Bevölkerung des Staates ermöglichen würde, sich zu einer Gesellschaft im modernen Sinn zusammenzuschliessen. Die Umdeutung des «Afghanentums» in eine «islamische» Ordnung hat die Funktion, diese eigentlich ethnisch gemeinte Sittenordnung mit einer transethnisch verbrämten Identität zu versehen und ihr damit die soziale und kulturelle Hegemonie auch über Nichtpaschtunen zu sichern.
Ultrareligiöse Gegenmacht
Die Herrschaft der Taliban ist damit im Kern antisozial und antipolitisch. Selbst innerhalb der paschtunischen Gemeinschaften, die etwa 40 bis 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, gibt es eine Hierarchisierung, die die Verteilung von Ämtern und Privilegien regelt. Die daraus resultierende Proteststimmung machen sich vor allem die ultrareligiösen Militanten des Islamischen Staates Provinz Khurasan (ISPK) zunutze, die seit 2015 im Osten des Landes aktiv sind und seit einigen Jahren erfolgreich Anhänger unter paschtunischen Randgruppen, aber auch unter tadschikischen und usbekischen Gruppierungen rekrutieren. Insgesamt sollen derzeit 23 bewaffnete Gruppen in Afghanistan aktiv sein. Hinzu kommen lokale kriminelle Gruppierungen, die beispielsweise versuchen, die immer noch wichtige Mohnproduktion zu kontrollieren.
Der Anschlag des IS auf den Flughafen von Kabul am 26. August 2021 zeigt, dass der IS den Taliban die Zentralgewalt in Afghanistan streitig macht. Inzwischen kann der IS in einigen Distrikten im Osten des Landes sogar lokale Herrschaften vorweisen, von denen aus er sein transnationales Rekrutierungsnetzwerk steuert. Zwar findet der IS in Afghanistan nicht die gleiche Resonanz wie 2014 bis 2016 in Syrien, doch zeichnet sich eine Verlagerung seiner Machtzentren von Syrien nach Afghanistan ab. Die gesellschaftsfeindliche Politik der Taliban begünstigt die Bildung sozialer Nischen des IS.
Krisen ohne Prosperität
Die Phase einer gewissen wirtschaftlichen Prosperität begann 2002 und endete 2014. Seit 2020 sinkt das Brutto-Inlandprodukt dramatisch, was sich im Ausmass der Verarmung der Bevölkerung widerspiegelt. Die Überzeugung der Taliban, dass für das Funktionieren der staatlichen Verwaltung die islamisch interpretierte paschtunische Sittenordnung Vorrang hat, trägt wesentlich dazu bei, dass Verwaltungs- und Entscheidungsprozesse verzögert werden oder aufgrund fachlicher Inkompetenz gänzlich scheitern. In der Folge entsteht neben einer wachsenden Schattenwirtschaft eine Art Schattenverwaltung, in der lokale und regionale Akteure das Sagen haben.
Der Bankensektor funktioniert nach wie vor nicht; die Folge ist eine Schattenwirtschaft, die die Situation etwas stabilisiert hat. Dies hängt auch damit zusammen, dass ausländische Investoren, vor allem aus China, Russland, Iran und Pakistan, auf die Erschliessung von Bodenschätzen und die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion setzen. China hat kürzlich die Finanzierung von drei grossen Staudammprojekten in der Provinz Kunar bestätigt. Nach dem dramatischen Konjunktureinbruch 2021/22 hat sich die Wirtschaft auf ein Nullwachstum eingependelt.
Die Herrschaft der Taliban verhindert jegliche gesellschaftliche Entwicklung. Auf Ansätze reagieren die Taliban mit verstärkter Repression. Im ersten Halbjahr 2024 wurden über 230 Menschen von den Taliban oder ihren Schergen willkürlich getötet, über 600 sind «verschwunden». Die Bildung von Mädchen wurde weiter eingeschränkt. Im ersten Halbjahr 2024 wurden weitere 13 Schulen geschlossen, die Mädchen über die fünfte Klasse hinaus unterrichtet hatten. Damit ist fast flächendeckend durchgesetzt, dass Mädchen nur bis zum elften Altersjahr Schulen besuchen können. Gleichzeitig rühmen sich die Taliban, Dutzende neuer religiöser Schulen in den Provinzen gegründet zu haben. Aber auch die afghanische Wirtschaft funktioniert nicht ohne Frauen: Noch immer beschäftigen fast 50 Prozent der afghanischen Arbeitgeber legal oder überwiegend illegal Frauen.
Dauerhaftes Provisorium
Das Emirat ist eine Machtexekutive der mehrheitlich paschtunischen Taliban. Sie firmiert noch unter der Bezeichnung «Provisorische Regierung». Faktisch ist sie ein Organ des inneren Kreises der Taliban um den in Kandahar residierenden Emir Mullah Haibatullah Akhundzada. Auch drei Jahre nach ihrer Machtübernahme lassen die Taliban die Afghanen im Unklaren über die künftige politische Ordnung des Emirats. Einer inklusiven Repräsentation der wichtigsten Ethnien (neben den Paschtunen die Dari sprechenden Tadschiken und Hazara sowie die Usbeken und Belutschen) haben die Taliban eine klare Absage erteilt.
Im Grunde haben sie Afghanistan zu einem Paschtunistan umdefiniert. Da dies aber fast zwangsläufig auch einen Irredentismus in Bezug auf die paschtunischen Siedlungsgebiete in Pakistan nach sich zieht, schwelt ein afghanisch-pakistanischer Grenzkonflikt, der nur schwer unter Kontrolle zu bringen ist. Nicht minder explosiv ist der Konflikt um Wasserrechte und Flüchtlinge an der iranisch-afghanischen Grenze.
Dennoch: Drei Jahre nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan sitzen die Taliban immer noch fest im Sattel. Sie gewinnen sogar an Legitimität, weil Russland, China, Pakistan und die zentralasiatischen Republiken die Taliban aus strategischen Gründen auf die politische Bühne heben. Zudem ist es ihnen bisher gelungen, einen gesellschaftlichen Formierungsprozess zu verhindern, der ihre Macht gefährden könnte. Der soziale und kulturelle Wandel wird aber auch in Afghanistan seine Spuren hinterlassen und den Anachronismus der Talibanherrschaft offenbaren.