In Afghanistan zieht der Frühling ein, und damit beginnt das neue Schuljahr. Doch Mädchen über zwölf Jahre dürfen nicht zur Schule. Ein fataler Fehlentscheid.
Kurz nach ihrer erneuten Machtergreifung verfügten die radikalislamistischen Taliban, dass Mädchen nur sechs Jahre zur Schule gehen dürfen. Auf internationalen Druck hin wurde diese Verfügung aufgehoben – allerdings nur für zwei Tage. Am 21. März 2022 verboten die Taliban den über 12-jährigen Mädchen erneut jeglichen Schulbesuch. Betroffen sind etwa sechs Millionen Mädchen.
Man war sich in Kabul bewusst, dass dieser Entscheid einen internationalen Sturm der Entrüstung auslösen würde. Deshalb erklärte man, das Verbot sei nur vorübergehend. Die Schulen würden für alle Mädchen wieder geöffnet, sobald «die Grundsätze des islamischen Rechts und der afghanischen Kultur gewährleistet seien». Diese Phrasen lösten sich schnell in Luft auf. Jetzt also beginnt ein weiteres Schuljahr, ohne dass Mädchen die Sekundarschule besuchen dürfen.
Frauen dürfen keinen Beruf ausüben
Der Entscheid erstaunt nicht. Denn seit ihrer erneuten Machtergreifung schränkten die Taliban die Rechte der Frauen ein. Frauen in Kabul dürfen keinen Beruf ausüben. Die medizinische Versorgung für Mädchen und Frauen wurde radikal eingeschränkt. Kranken Frauen wird der Zugang zu Arztpraxen und Spitälern fast unmöglich gemacht. Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren hatten, bleibt nur das Betteln in den Strassen.
«Wo Frauen unterdrückt werden, herrscht Armut.»
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Gemäss Uno-Angaben lebt die Hälfte der 38 Millionen Afghanen und Afghaninnen unter der Armutsgrenze. Laut Unicef sind 30 Millionen auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Über eine Million Kleinkinder leidet an schwerster Unterernährung.
In Kreisen von Entwicklungsorganisationen gilt längst der Grundsatz: Je besser es den Frauen geht, desto besser geht es der Gesellschaft – dem ganzen Land. Oder umgekehrt: Wo Frauen unterdrückt werden, herrscht Armut. Den alten, bärtigen afghanischen Männern mit ihrem verschrobenen, uralten frauenfeindlichen Weltbild scheint das egal zu sein. Die Kosten dafür nehmen sie in Kauf.
Es bräuchte die Hände aller
Afghanistan liegt nach jahrzehntelangen Kriegen wirtschaftlich am Boden. Um einen wirtschaftlichen Schub auszulösen, bräuchte es die Hände aller – auch jene der Frauen. Männer allein können keine Wirtschaft auf Touren bringen. Doch das Aussperren der Frauen vom Wirtschaftsprozess wird dazu führen, dass sich das Land nicht weiterentwickeln kann.
Dazu kommt: Im Oktober 2001 (nach den Bin-Laden-Anschlägen von 9/11) hatte ein westliches Militärbündnis unter Führung der USA die Macht in Kabul übernommen. Das brachte dem Land zwar weder die versprochene Demokratie, noch Frieden, noch «Verwestlichung». Aber immerhin wurde die Stellung der Frauen aufgewertet. Mädchen und junge Frauen konnten Schulen und Universitäten besuchen. Eine gebildete weibliche Schicht wuchs heran.
Zwanzig Jahre lang. Dann kamen die Taliban zurück.
Fehlender «Brain»
Und viele Frauen, die während der zwanzig «verwestlichten» Jahre ausgebildet wurden, hatten nach der erneuten Machtergreifung der Taliban keine Lust, die Burka anzuziehen und sich zu Hause zu verstecken. Sie flüchteten, meist mit ihren Familien, ins Ausland. Dieser «Brain» fehlt jetzt dem Wiederaufbau der afghanischen Wirtschaft und Gesellschaft. Die Abwanderung gebildeter Fachkräfte verstärkt das Elend im Land.
All das führt auch dazu, dass ausländische Investoren die Hände von Afghanistan lassen. Welches westliche Unternehmen investiert schon in einem Land, in dem Frauen, wenn sie eine Haarlocke auf dem Basar in Kabul zeigen, geprügelt werden. Das Fehlen ausländischer Investitionen verstärkt die Armut im Land.
Attentate auf Mädchenschulen
Als die Taliban von 1996 bis 2001 in Afghanistan herrschten, war die Ausbildung von Frauen im ganzen Land verboten. Dann, als sie 2021 zurück an die Macht kamen, streuten sie der Welt Sand in die Augen und versprachen, das Los der Frauen «im Rahmen der Scharia» zu verbessern. Damit hatten sie Millionen Schülerinnen und jungen Frauen Hoffnung gegeben. Viele hatten sich schon auf ein Schuljahr gefreut und sich darauf vorbereitet. Auch in den letzten Wochen hofften noch viele, das Schulverbot würde doch noch im letzten Moment aufgehoben. Nicht so. Das Schuljahr beginnt jetzt ohne Sekundarschülerinnen.
Viele Schulen wurden in den letzten zwei Jahren geschlossen. Einige private Institutionen existieren weiter – teils im Versteckten. Immer wieder verüben radikalislamistische Extremisten Attentate auf Mädchenschulen.
Unterricht unter praller Sonne
Doch selbst die Grundschulen, die auch Mädchen bis zu ihrem 12. Altersjahr besuchen dürfen, befinden sich oft in einem traurigen Zustand. Der Mangalschule in der Provinz Jalalabad fehlt seit 13 Jahren ein Dach über dem Kopf. Unterrichtet wird auf hartem, feuchtem Boden unter praller Sonne, geschützt nur von einigen Bäumen. Hier werden 415 Knaben und 348 Mädchen unterrichtet.
Laut einer im letzten Jahr veröffentlichten Analyse von Unicef kostet es Afghanistan 2,5 Prozent seines jährlichen Bruttoinlandprodukts, wenn Mädchen keine weiterführende Schule besuchen, da sie später nicht am Wirtschaftsleben teilnehmen können. Innerhalb von zwölf Monaten verlor die afghanische Wirtschaft hierdurch mindestens 500 Millionen US-Dollar.
Ihr feierliches Versprechen, das Schicksal der Frauen zu verbessern, haben die Taliban längst gebrochen. Damit beweisen sie, auch der muslimischen Welt gegenüber, dass ihnen nicht zu trauen ist.
Rückkehr von Al-Kaida und dem «IS»
Das Beharren auf archaischen Gesellschaftsstrukturen und den traditionellen Stammesordnungen scheint den Machthabern wichtiger zu sein als die Erlösung ihres Volkes vom drückenden Elend. Ihre aus der Zeit gefallene Geisteshaltung verhindert jedes entwicklungspolitische Engagement. Selbst internationale Hilfsorganisationen sind zunehmend ernüchtert und ziehen sich mehr und mehr zurück – zum Leid der Leidtragenden.
Nicht genug des Übels: Die Armut, das Elend und die Unsicherheit im Land führen dazu, dass die Terrororganisation Al-Kaida wieder in Afghanistan Fuss fasst. Laut einem Uno-Bericht würden Al-Kaida-Mitglieder im ganzen Land wieder Zellen aufbauen. Von Afghanistan aus hatte Osama bin Laden 2001 die 9/11-Anschläge organisiert. Auch Mitglieder des radikalislamistischen «Islamischen Staats» (IS) sollen sich wieder vermehrt in Afghanistan einnisten.
Moskau entfernt die Taliban von der Terrorliste
Auf dem internationalen Parkett ist Afghanistan isoliert. In der Uno fristet das Land am Hindukusch ein kümmerliches Dasein. Doch jetzt kann es einen politischen Erfolg verbuchen.
Moskau (damals die Sowjetunion), das von 1979 bis 1989 einen zehnjährigen Krieg in Afghanistan geführt hatte, streckt wieder die Fühler Richtung Kabul aus. Russland hat Anfang dieser Woche die Taliban von der Terrorliste gestrichen. Putin sucht jetzt offenbar einen weiteren Partner. Allerdings vielleicht mit Hintergedanken: Nach dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall in Krasnogorsk am 22. März, bei dem 144 Menschen ums Leben kamen, vermutet Moskau offenbar Terrorzellen in Afghanistan, die sie mit Hilfe der Taliban bekämpfen möchten.