Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 hat sich Afghanistans Presselandschaft radikal verändert. Innert drei Monaten verschwanden fast die Hälfte aller Medien und Tausende von Medienschaffenden verloren ihre Stelle. Über 80 Prozent afghanischer Journalistinnen haben zu arbeiten aufgehört. Das Versprechen der Taliban, die Pressefreiheit zu respektieren, hat sich als hohl erwiesen.
Im August haben die Taliban dem zurückgezogen lebenden Führer des Islamischen Emirats, Haibatullah Akhundzada, den geheimen Entwurf eines neuen Mediengesetzes zur Stellungnahme vorgelegt. Weil Afghanistan weder ein Parlament noch eine Verfassung hat, entscheidet der kriegserfahrene Mullah allein über neue nationale Gesetze. «Rund 70 Prozent des Entwurfs stammt aus dem alten Gesetz», hat Zabibullah Mujahid, der Pressesprecher der Taliban, in einem Interview mit der «Voice of America» (VOA) verlauten lassen.
Noch im Juli 2022 hatte Mullah Akhundzada ausdrücklich davor gewarnt, die Taliban zu kritisieren, Später teilte sein berüchtigter Minister für höhere Erziehung mit, dass das Untergraben des Emirats, sei es durch Rede, Schreibe oder Aktion, die Todesstrafe nach sich ziehe.
Frauen nicht konsultiert
Änderungen des Pressegesetzes, betont Pressesprecher Mujahid, würden in Abstimmung mit dem islamischen Gesetz der Scharia vorgenommen. Dem Talib zufolge wird das neue Gesetz keine Einschränkungen enthalten, was die Tätigkeit von Journalistinnen betrifft: «Alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans werden in der Lage sein, Medien zu gründen, zu managen und für sie zu arbeiten.»
Derweil ist keine einzige Journalistin beim Entwurf des neuen Pressegesetztes konsultiert worden. Eine Medienschaffenden nennt das Vorgehen der Taliban «despotisch» und sagt, Journalistinnen seien «keine Verbrecherinnen ohne Bürgerrechte». Die Taliban haben seit ihrer Machtübernahme 2021 die Bewegungsfreiheit weiblicher Medienschaffender stark eingeschränkt und zum Beispiel für Frauen am Fernsehen den Gesichtsschleier vorgeschrieben. Auch sind TV-Serien mit Frauenrollen verboten worden. Was nicht ganz mit einer Behauptung von Haibatullah Akundzaha übereinstimmt, der unlängst behauptet hat, seine Regierung würde Afghanistans Frauen «ein bequemes und prosperierendes Leben» verschaffen.
In der Folge sind der NGO Reporter ohne Grenzen zufolge jedenfalls über vier Fünftel aller afghanischen Journalistinnen gezwungen worden, ihre Stellen zu verlassen. Andere sind, wie Dutzende ihrer männlichen Kollegen, vom gefürchteten nationalen Geheimdienst (GDI) verhaftet und vorübergehend inhaftiert worden. Auch soll es in einigen Fällen zu Folter gekommen sein. Gemäss noch geltendem Mediengesetz wären Verhaftungen von Medienschaffenden illegal. 21 Journalistinnen und Journalisten sind in den vergangenen zwei Jahren getötet worden.
In Verstecken oder im Exil
Nicht wenige Medienschaffende halten sich in Verstecken auf oder sind vor der Repression der Taliban ins Ausland geflohen. «Wir wollen weiterarbeiten», sagt Zaki Daryabi, Gründer des investigativen Online-Magazins «Etilaatroz»: «Aber es wurde bald zu gefährlich und einige Kollegen wurden von den Taliban gefoltert.» Daryabi floh 2021 zwei Monate nach der Machtübernahme der Taliban aus Kabul.
Doch im Exil, in Pakistan oder im Iran, hören die Schwierigkeiten für die Geflüchteten nicht auf. Es gilt, Visen und Aufenthaltsbewilligungen zu beschaffen und Anträge für politisches Asyl in einem Drittland zu stellen, was häufig nicht leicht ist. Stets präsent ist auch das Risiko einer Verhaftung und Rückschaffung nach Afghanistan. Auch kommt es wie in Pakistan vor, dass lokale Sicherheitskräfte die Geflüchteten erpressen.
Zaki Daryabi ist es gelungen, einen Teil seiner alten Redaktion im amerikanischen Maryland zu versammeln und von dort aus mit Korrespondentinnen und Korrespondenten in Afghanistan weiter zu arbeiten: «Am Erstaunlichsten ist es, dass unsere Online-Leserschaft in den letzten beiden Jahren spürbar gewachsen ist und wir umfassender berichten als zuvor.»
Fragile Sicherheit
Ähnliches ist Zahra Nader gelungen, die heute in Kanada lebt. «Die Taliban wollten Frauen aus der Gesellschaft tilgen und aus den Medien im Besonderen», sagt die afghanische Journalistin und Gründerin der «Zan Times» («Zan» heisst auf Dari Frauen): «Wir sagten, wir können das nicht tolerieren. Es war ein Entschluss, der aus unseren Herzen kam.»
Zahra Naders «Zan Times» beschäftigt heute 15 Personen, unter ihnen fünf Reporterinnen, die aus verschiedenen Provinzen in Afghanistan berichten: «Unsere grösste Schwierigkeit ist zu gewährleisten, dass sie sicher sind. Sie kennen einander nicht, was nicht leicht ist, wenn es darum geht, ein Gemeinschaftsgefühl zu kreieren. Sie schreiben unter Pseudonym, aber ich freue mich auf den Tag, an dem wir ihre Identität verkünden können.»
«Die ‘Zan Times’», heisst es bei Reporter ohne Grenzen, hat sich «zum schlimmsten Alptraum der Taliban» entwickelt: ein Medium, das praktisch aus dem Nichts gekommen ist, geboren aus der Weigerung einer Handvoll Afghaninnen, sich ihr Denken diktieren zu lassen, und die der Welt berichten wollten, was wirklich vorgeht … Und denen es trotz zwei Jahren der Unterdrückung gelingen ist, Journalismus zur effektivsten Waffe gegen Zensur und Verdunkelung zu machen.»
Dramatischer Einkommenseinbruch
Doch die Unterdrückung der Presse in Afghanistan geht weiter. Erst Anfang August haben die lokalen Behörden der Provinz Nangarhar die Radio- und Fernsehstation «Hamisha Baher» geschlossen und lokalen Radiosendern die Möglichkeit genommen, weiterhin zu senden. Stationen, die noch auf Sendung sind, haben Einbrüche von bis zu 80 Prozent ihrer früheren Einnahmen zu verzeichnen Inzwischen sind in Afghanistan seit 2021 mehr als die Hälfte aller registrierten Radio- und Fernsehsender verschwunden. Musik darf im Lande keine mehr gesendet werden.
Von einst über 150 Fernsehstationen sind heute weniger als 70 noch im Betrieb, von 307 Radiostationen noch 170. Gleichzeitig ist die Zahl der Nachrichtenagenturen von 31 auf 18 geschrumpft. «Lokale Medien sind landesweit am stärksten betroffen», weiss Zarif Karimi, Direktor der NGO «Open Media in Afghanistan»: «Solche Zahlen, die allein schon zeigen, wie umfassend die Taliban die Medien zerstören, würden einen krank machen. Doch ist die unglaubliche Resilienz afghanischer Journalistinnen und Journalisten nicht zu vergessen, die im In- und Ausland täglich dafür kämpfen, die Flamme der Pressefreiheit zu nähren.»
Die Perspektive der Einheimischen
Einer, der das vergeblich versucht hat, war Mortaza Behboudi, ein Franzose mit afghanischen Wurzeln. Er kehrte aus dem Exil in Frankreich nach Afghanistan zurück, um über die sich stets verschlechternde Menschenrechtssituation und die desolate Lage der Frauen zu berichten. «Er wollte leidenschaftlich jenen Leuten eine Stimme geben, denen die Stimme weggenommen worden ist, und darum ist er zurückgegangen», sagt seine Frau Aleksandra Mostovaja: «Er fand, es sei wichtig, in Afghanistan zu sein, nicht nur, weil er Sprache, Geschichte und Kultur kennt, sondern weil jeder Bericht aus Afghanistan ohne die Perspektive seiner Menschen unvollständig ist.» Behboudi ist am 7. Januar, zwei Tage nach seiner Ankunft in Kabul, festgenommen worden und sitzt seither in Haft. Unter Umständen droht ihm eine Klage als Spion.
Offen bleibt die Frage, wie stark die Taliban versuchen werden, die Tätigkeit sozialer Medien wie YouTube oder Facebook einzuschränken oder gar zu verbieten. Ein solches Vorgehen würde für 41 Millionen Afghaninnen und Afghanen die Möglichkeit, sich frei zu informieren, weiter einschränken. So haben denn einzelne unter ihnen mangels anderer Informationsquellen die Rolle von Bürgerjournalistinnen und -Journalisten übernommen. 9,2 Millionen oder 22 Prozent der afghanischen Bevölkerung nutzen heute das Internet.
Abrupt beendete Erfolgsgeschichte
Noch nach der Invasion der USA im Oktober 2001 in Folge der Terroranschläge Al-Qaidas am 11. September zuvor (9/11) war die Entwicklung eines freien Mediensektors in Afghanistan eine der wenigen Erfolgsgeschichten eines Landes gewesen, das zuvor ohne freie Presse und ohne Zugang zum Internet gewesen war. In einer diversen und stark fragmentierten Gesellschaft propagierten nationale Medien Pluralismus, demokratische Werte und Frauenrechte. Im Gegensatz zu heute, da weniger als 3’000 Journalistinnen und Journalisten übriggeblieben sind, arbeiteten damals fast 12’000 Menschen für die Medien. Sie taten dies in einer Region, in der Zensur, Verhaftungen und Tötungen von Medienschaffenden nicht aussergewöhnlich waren.
Die jetzigen Zustände bewirken, dass immer weniger Nachrichten aus Afghanistan die Aussenwelt erreichen zu einem Zeitpunkt, da sich das Land am Rande einer humanitären Katastrophe befindet und ein Ableger des Islamischen Staates (IS) ein wachsendes Risiko auch für andere Staaten darstellt. Doch nach dem Ende der Corona-Pandemie und seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine ist das Interesse der internationalen Medien und damit der Weltöffentlichkeit für Afghanistan und das Schicksal seiner Bevölkerung erlahmt.
Im Schatten der Ukraine
«Wir müssen uns daran erinnern, dass Afghanen und Afghaninnen seit den 1970er-Jahren und dem sowjetisch-afghanischen Krieg aus denselben Gründen gekämpft haben, wie das Ukrainer und Ukrainerinnen heute tun», mahnt Dr. Ayesha Jehangir von der University of Technology Sydney: «Der einzige Unterschied besteht darin, dass Afghanistans Bevölkerung wiederholt vernachlässigt und verraten worden ist.»
Quellen: The New York Times, The Guardian, Reporter ohne Grenzen (RSF), Committee to Protect Journalists (CPJ), United States Institute for Peace (USIP)