Wenn das keine – im Ansatz wohl unbeabsichtigte – groteske Analogie der Verhältnisse ist: Eines der aufrüttelndsten Werke der Verlorenheit, des Verlorenseins inmitten einer weltweit beispiellosen Krise und Bedrohung aufzuführen. Und das effektiv „draussen vor der Tür“, weit weg von den Türen des Theaters und seiner Geborgenheit, einer Sicherheit, welche innere und äussere Positionierungen wenn schon nicht garantierte, so doch verhiess.
Borchert, Autor der Trümmerliteratur
Doch von Anfang an: Der mehrfach kriegsverwundete, erst 24-jährige Wolfgang Borchert, Sohn eines Lehrers und einer Schriftstellerin, kann sich 1945 durch Flucht aus der französischen Gefangenschaft befreien und marschiert zu Fuss nach seiner Heimatstadt Hamburg zurück. Dort reiht er sich, immer unterbrochen durch mehrere, kriegsbedingte Leiden und aufs Krankenlager geworfen, ein in die Reihen der Autoren, deren Werke man später im deutschsprachigen Raum als „Trümmerliteratur“ bezeichnen sollte.
Ursprünglich von der Lyrik herkommend, verlegt er den Schwerpunkt seines Schreibens immer mehr auf Prosa- und Bühnentexte. Die grauenvollen Erfahrungen des Krieges schlagen sich in eindringlichen Texten nieder, so vor allem mit dem Appell „Sag nein!“, der zu einem der meistzitierten Texte in der Aufarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, Aufschrei und Warnung zugleich. Der kurz vor Borcherts Tod in Basel entstandene Prosatext „Dann gibt es nur eins!“ wurde bis heute über zwanzigmal vertont, unter anderem von Gottfried von Einem und Frederic Rzewski.
Mit dem Drama „Draussen vor der Tür“, 1947 zuerst als Hörspiel, einige Monate später, einen Tag nach seinem frühen Tode, in den Kammerspielen Hamburg uraufgeführt, reiht er sich in die Liga der grössten deutschsprachigen Autoren ein – mit 26 Jahren! Heinrich Böll, wie Borchert Angehöriger der Gruppe 47, attestierte ihm später, dass Borchert in seinen Texten ausdrückte, „was die Toten des Krieges, zu denen er gehört, nicht mehr sagen konnten.“
Zum Inhalt des Stückes verweise ich auf den ausführlichen Bericht von Urs Bitterli in journal21 vom 07.05.2015.
Tod zu Basel
„Wie die Fliegen kleben die Toten an den Wänden des Jahrhunderts. Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der Fensterbank der Zeit.“
Wolfgang Borchert starb, was vielen unbekannt sein dürfte, in Basel, auf dem Wege zu einem Kur- und Heilaufenthalt in Davos. Die Reise musste wegen der Verschlimmerung von Borcherts Zustand jedoch kurz nach der Grenzüberschreitung in Basel abgebrochen werden. Nach seinem Tode im Basler Claraspital am 20. November 1947 wurde die Urne mit seiner Asche nach Hamburg überführt und am Ohlsdorfer Friedhof, nahe dem Grab seiner Eltern bestattet.
Der Andere und das Ich
Bis zu seinem Tode also draussen geblieben, jenseits der Grenze von Sicherheit und Frieden. Ohne Gewissheit vor allem. Denn der verzweifelte Ruf nach Wissen um den Sinn des Lebens macht dieses Stück aus. Sein Held Beckmann verlangt nach Antwort, will wissen, wer und wo der oft zitierte „Andere“ und wer sein eigenes Ich ist, ruft nach Gott, doch erhält er keine Antwort. Mit einem dreifachen Aufschei endet das Stück.
Und in Basel?
Da hat ein junger Regisseur, der Niederrheiner Timon Jansen, eine Art Extrakt aus dem Text gemacht, hat ihm eine zeitgemässe Maske verpasst, unter die sowohl das Kreisen um die Suche nach dem ICH als auch nach dem immer wieder beschworenen ANDEREN ebenso Platz findet wie in der Klimax der grossen Monologe. Das Ganze wird inszeniert als die Feier zur Enthüllung eines – nichtssagenden – Denkmals. Zwei zynische Moderatoren (Wanda Winzenried, Moritz von Treuenfels) nehmen sich des Kriegsheimkehrers Beckmann (Jonas Götzinger) an, welcher Schauspieler werden und vorsprechen möchte – eine Anspielung auf Borcherts ursprünglichen Berufswunsch.
Eine Aufführung der Corona-Zeit
Die grosse Frage, welche Zuschauerinnen und Zuschauer vor der Premiere umtrieb, war die Frage des Aufführungsortes. Wie wollte die Basler Crew das lösen, mit all den Corona-bedingten Auflagen wie Social Distancing etc.? Man erfuhr erst einen Tag vorher den Ort: Auf der sogenannten „Batterie“ am Wasserturm auf dem Basler Bruderholz, dort also, wo sich ganz in der Nähe auch die Basler Autorin Lore Berger (siehe journal21, https://www.journal21.ch/der-barmherzige-huegel ) vom Wasserturm in den Tod gestürzt hatte. Dort auch, wo (bisher) alljährlich die Bundesfeiern zum 1. August stattfanden.
Dort auch, wo während der Premiere, frierend auf weit voneinander aufgestellten Stühlen in der grünen Wiese das Publikum an diesem schlechtesten aller Wettertage der Woche einmütig ausharrte, obwohl dreimal ein Regenguss alle verscheuchen wollte. Wir unter unseren – vorsorglich verteilten – Regenschirmen hatten es ja gut, während die Schauspieler zwar bald tropfnass, aber unbeeindruckt und mit Verve weiterspielten.
Das Bewusstsein von Vereinzelung
Und doch: Etwas hatte sich geändert. Die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum war nicht nur deshalb aufgehoben, weil die Bühnenrampe verschwunden war. Das kannte man ja aus vielen Freiluftaufführungen der „alten Zeit“. Nein, jetzt ergriff das Bewusstsein einer geradezu tödlichen Vereinzelung von den Zuschauern Besitz. Dort, wo vor Corona das Gemeinschaftserlebnis Theater alle einte, eint nun die allen gleiche Angst und verlangt nach Vereinzelung, Abstand, Zurückhaltung.
Der Thespis-Karren ist dabei, in den Graben zu fahren und droht dort stecken zu bleiben. Nur ein neues Bewusstsein muss und wird auch andere Formen schaffen, welcher Art auch immer. Bis dahin danken wir allen Theaterschaffenden für Vergangenes und hoffentlich Zukünftiges!
Nächste Vorstellungen: 12., 13., 14., 15., 16., 17., 18. Juni, viele davon bereits ausverkauft. Tickets online.