Es sind vor allem Freiwillige, die sich im Todesstreifen vorankämpfen. Sie versuchen, den russischen Verteidigungswall zu durchqueren und nach Süden vorzustossen. Sie treffen auf Panzersperren, Schützengräben und russisches Artilleriefeuer. Und vor allem treffen sie auf Hunderttausende Minen.
Da die ukrainische Gegenoffensive auf sich warten liess, hatten die Russen Zeit, einen gestaffelten Verteidigungswall zu errichten, der fast unüberwindbar scheint.
Der erste Versuch der Ukraine, die Verteidigungslinie im Juni zu durchbrechen, scheiterte schnell. Die vom Westen gelieferten Panzer blieben in den Gräben hängen oder wurden zerstört. Auch die ukrainische Infanterie scheiterte und musste schwere Verluste hinnehmen. Opferzahlen nennt niemand, doch insgeheim vermutet man Tausende tote ukrainische Soldaten.
Den Ukrainern war es dann Ende August gelungen, bei Robotyne eine Bresche in die erste russische Verteidigungslinie, die sogenannte Surowikin-Linie, zu schlagen. Doch der Vormarsch erfolgt langsam. Das hat seinen Grund.
Laut amerikanischen und britischen Geheimdienstkreisen haben die Russen in diesem Gebiet mehrere Hunderttausend Minen vergraben. Einzelne Quellen sprechen von zehn Millionen. Überprüfen lassen sich solche Angaben nicht.
Sechs Minen pro Quadratmeter
Gemäss der BBC wurden pro Quadratmeter bis zu sechs (!) Minen gelegt. Wurden auch Minenräumungsgeräte eingesetzt, ferngesteuerte Raupenfahrzeuge, die den Boden mit einem drehbaren Zylinder durchwühlen und Anti-Personenminen zur Explosion bringen? Die Meldungen widersprechen sich. Minenräumungspanzer kamen bisher laut verschiedenen Quellen erst sporadisch zum Einsatz. Die in den nächsten Tagen gelieferten amerikanischen M1-Abrams-Panzer werden in der Lage sein, Minen zu entfernen. Auch anderes Minenräumungsgerät hat Präsident Biden dem ukrainischen Präsidenten bei seinem jüngsten Besuch in den USA versprochen.
Bisher haben Soldaten, die mit Metalldetektoren ausgerüstet sind, die Minen aufgespürt und mühsam «von Hand» entschärft. Dies ist einer der Gründe für das langsame Vorankommen der Offensive. Die Minenräumung erfolgt meist bei Nacht. Immer wieder werden Räumungstrupps beschossen und von Drohnen angegriffen.
Besonders tapfere Freiwillige
Zudem ist noch immer nicht sicher, wie breit und gesichert der Durchbruch der Ukrainer bei Robotyne ist. Laut ukrainischen Quellen sind es vor allem Soldaten des Bataillons «Skala», die am Angriff beteiligt sind. Diese Einheit bestand ursprünglich vor allem aus besonders tapferen Freiwilligen des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Inzwischen ist das Bataillon durch Berufssoldaten verstärkt worden. Es gibt Hinweise, wonach sich auch ausländische freiwillige Kämpfer der Offensive im Süden angeschlossen haben, offenbar auch Amerikaner, Franzosen und Osteuropäer.
Panzer und schweres Gerät konnte gemäss amerikanischen Quellen erst in bescheidenem Umfang durch die gestaffelten Barrieren geschafft werden. Dies auch deshalb, weil die Russen die Gegend rund um Robotyne täglich bis zu 80 Mal mit Raketen und Artillerie beschiessen. Robotyne selbst ist völlig zerstört.
Laut jüngsten Berichten vom Freitag sollen Satellitenaufnahmen zeigen, wie mehrere ukrainische Panzer hinter der gestaffelten russischen Verteidigungslinie operieren und nach Süden vorstossen. Würden sich diese Berichte bestätigen, hiesse das, dass die Surowikin-Linie auch für Panzer geknackt werden kann. Wie vielen Tanks dies bisher gelungen ist, ist unklar.
«Das Problem, das die Ukrainer jetzt haben», sagt Marina Miron gegenüber der BCC, «ist, eine Öffnung zu bekommen, die gross genug ist, um mehr Truppen hineinzubekommen.» Marina Miron arbeitet für das «King's College London War Studies Department».
Toblerone
Militärstrategen sprechen von der «weltweit stärksten Verteidigungslinie». Bei den «Drachenzähnen» handelt es sich um meist Pyramiden-artige eingemauerte Betonklötze. Sie sind immer noch ein wirksames Mittel, um Panzer aufzuhalten. Der britische Geheimdienst erklärt, die von der russischen Armee aufgebauten Drachenzähne stammten vor allem aus belarussischer Produktion.
Drachenzähne, auch Höckerlinien oder Hitler-Zähne genannt, wurden im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg in vielen europäischen Ländern aufgebaut. In der Schweiz erhielten sie den Spitznamen «Toblerone» und sind noch an mehreren Orten sichtbar.
Fallschirmjäger als Infanteristen
Der «Durchbruch» bei Robotyne hat Putin aufgeschreckt. Westliche Militäranalysten erklären, die Russen hätten eingesehen, dass ihre Positionen im Süden zum Teil «dramatisch unterbesetzt» sind. Etwas überstürzt hat die russische Militärführung deshalb die russische 76. Garde-Luftsturm-Division, die bisher im Osten bei Kupiansk kämpfte, in den Süden beordert. Russland setzt jetzt also im Süden der Ukraine Fallschirmjäger als Fusssoldaten ein. Manche Militäranalysten bezeichneten dies als grossen Fehler, weil damit die russische Flanke im Osten geschwächt wird. Doch im Süden stellen diese zusätzlichen Truppen ein zusätzliches Hindernis für die Ukrainer dar.
Neben all diesen Schwierigkeiten hat die ukrainische Armee mit der elektronischen russischen Kriegsführung zu kämpfen. Das erschwert den Einsatz ukrainischer Drohnen und Raketen und belastet den Informationsaustausch zwischen ukrainischen Einheiten.
Bis zum Meer sind es 70 Kilometer
Noch ist der grosse Durchbruch nicht gelungen. Und es ist nicht einmal sicher, ob er je gelingen wird. Ziel der Ukrainer ist es, von Robotyne und Werbowe aus bis zum Asowschen Meer vorzustossen und einen Keil in das besetzte russische südukrainische Gebiet zu treiben. Auch weiter östlich, von Welyka Nowosilka aus, versuchen ukrainische Streitkräfte in den Süden vorzudringen. Doch bis zum Meer sind es noch fast 70 Kilometer.
Der ukrainische General Oleksandr Tarnawsky, der die Südoffensive befehligt, erklärte am Freitag gegenüber CNN, die ukrainischen Truppen hätten bei Werbowe einen Durchbruch erzielt und würden weiter vorrücken. Werbowe liegt östlich von Robotyne. Tarnawsky räumte jedoch ein, dass sich die angreifenden Truppen langsamer bewegen als erwartet.
Auch weiter im Süden haben die Russen komplexe Verteidigungslinien mit Minenfeldern und Drachenzähnen errichtet, vor allem in der Gegend von Melitopol, Berdjansk und Mariupol. Aus gutem Grund: Sollten die Ukrainer Melitopol oder Berdjansk erobern, könnten sie die russischen Versorgungswege, die von der Krim in die Südukraine führen, beschiessen und kapern. Dann hätten die Russen den Krieg wohl verloren.
Der jüngste ukrainische Raketenangriff auf Sewastopol bringt zwar fette Schlagzeilen, wird aber in Washington mit Skepsis beurteilt. Für einige Militärs und Beamte der Biden-Regierung sind diese ukrainischen Angriffe auf die Krim bestenfalls eine Ablenkung und schlimmstenfalls eine Verschwendung von Ressourcen.
Die Ukraine laufe Gefahr, auf mehreren Angriffsachsen zerrieben zu werden. Entscheidendes habe der Angriff auf das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte in Sewastopol nicht gebracht, sagte ein hoher US-Verteidigungsbeamter gegenüber CNN. «Und es wäre wahrscheinlich für alle besser, wenn sich die Ukrainer auf die Gegenoffensive konzentrieren würden.»
Irgendwann. Vielleicht. Hoffentlich.
Sollte es einigen ukrainischen Panzern und Infanterie-Einheiten tatsächlich gelungen sein, die erste Verteidigungslinie der Russen überwunden zu haben, werden sie jetzt auf das drei Kilometer südlich von Robotyne liegende, strategisch wichtige Dorf Nowoprokopiwka zusteuern. Nächstes Ziel wäre die Stadt Tokmak. Doch dafür braucht es mehr Panzer, mehr Infanterie und mehr schweres Gerät.
Obwohl die Breschen, die die Ukrainer bei Robotyne und Welyka Nowosila geschlagen haben, pausenlos von russischen Raketen und Artillerie beschossen werden, sind die Ukrainer dabei, diese Öffnungen auszubauen und zu verbreitern, damit sie von Panzern und schwerem Material benutzt werden können. Nur wenn das gelingt, wird die ukrainische Gegenoffensive im Süden erfolgreich sein. Irgendwann. Vielleicht. Hoffentlich.