Die ukrainische Gegenoffensive zeigt zwar erste Fortschritte, verläuft jedoch langsamer als geplant. Hauptziel der Ukrainer ist es, die von Russland besetzte Südukraine in zwei Teile zu spalten. Doch der amerikanische Generalstabschef Milley bezweifelt, ob dies in diesem Jahr noch gelingt. Eine Auslegeordnung.
Im Osten der Ukraine findet eine Art Stellungskrieg statt – mit leichten Vorteilen für die Ukraine. Die Lage ist teils unübersichtlich, viele Meldungen lassen sich nicht überprüfen. Der ukrainische Generalstab meldete am Freitag, dass die Ukrainer die wenige Kilometer südlich von Bachmut gelegenen Dörfer Andriivka und Klishchiivka zurückerobert haben. Die Russen hätten dabei schwere Verluste erlitten. Mehrere russische Angriffe seien abgewehrt worden.
Das Interesse konzentriert sich auf die Südfront. Dort versuchen die ukrainischen Streitkräfte an zwei Orten den russischen Verteidigungswall zu durchbrechen. Ihr Ziel ist es, bis zum Asowschen Meer vorzudringen und einen Keil in das von den Russen besetzte Gebiet zu treiben. Damit könnte ein grosser Teil der russischen Besatzungsmacht von Waffen- und Nahrungslieferungen abgeschnitten werden.
Bis Ende Oktober Zeit
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von «stetigen, aber langsamen Fortschritten». Dieser Kampf sei «kein Hollywood-Film» mit sofortigem Erfolg.
Generalstabschef Milley sagt, die Ukrainer hätten bis Ende Oktober Zeit, einen Durchbruch zu erzielen. Dann kommen der Regen und der Winter, und der Boden wird aufgeweicht. Ukrainische Beamte lassen bereits durchblicken, dass die Gegenoffensive erst in etwa einem Jahr beendet werden könne.
Nicht alle sind so pessimistisch.
Durchbruch oder Bresche?
Die russischen Streitkräfte besetzen weite Teil der Südukraine, die Gebiete der Oblaste (Regionen) Donezk, Saporischja und Cherson.
Ende August war es den Ukrainern gelungen, zwischen den Dörfern Robotyne und Werbowe den ersten russischen Verteidigungswall, die sogenannte «Surowiki»-Linie, zu durchbrechen. Unklar ist, ob es sich wirklich um einen «Durchbruch» handelt, wie die offizielle Ukraine sagt. Oder schlugen einige ukrainische Militäreinheiten nur eine Bresche in den Wall?
Jedenfalls sind nach Angaben des amerikanischen «Institute for the Study of War» (ISW) die Ukrainer in den letzten Tagen weiter vorgerückt. Ein ukrainischer Armeesprecher sagte, die Ukrainer hätten ein 1,5 Quadratkilometer grosses Territorium befreit. Das Gelände ist stark vermint. Laut CNN wurden bis zu drei Minen pro Quadratmeter gelegt. Gemäss Satelliten-Aufnahmen sind die Ukrainer auf das Dorf Nowoprokopiwka vorgerückt.
Dieses liegt liegt südlich von Robotyne auf der Strasse nach Tokmak und ist von grosser strategischer Wichtigkeit. Gelänge es den Ukrainern, Nowoprokopiwka zurückzuerobern, würde das nach Ansicht von Militärexperten die russischen Stellungen erheblich schwächen. Dann könnte sich die ukrainische Armee auf den Weg nach Tokmak machen.
Welche Quellen wurden für den Bericht verwendet? Siehe unten.
Nächstes Ziel: Tokmak
Tokmak ist von grösster Bedeutung. Die Stadt ist ein wichtiger Strassen-Knotenpunkt. Zudem verläuft hier die wichtige Eisenbahnlinie, die von der Krim nach Saporischja führt. Gelänge es den Ukrainern, Tokmak zu beherrschen, könnte das kriegsvorentscheidend sein. Von hier aus könnten die ukrainischen Streitkräfte die russischen Waffentransporte erheblich stören.
Fast alle Waffen, die die Russen in der Südukraine einsetzen, kommen per Zug aus der Krim. In Tokmak werden sie dann auf die von Russland besetzten Gebiete verteilt. Auf die Krim gelangen die Waffen über den Seehafen Sewastopol und von der Kertsch-Brücke.
70 todbringende Kilometer
Von Tokmak aus führt eine Strasse über eine Distanz von 62 Kilometern nach Melitopol am Meer. Über eine andere, 103 Kilometer lange Strasse könnte die Hafenstadt Berdjansk erreicht werden. Dort haben die Russen nach dem Fall von Cherson ihr südliches Hauptquartier errichtet. Auch ein riesiges russisches Treibstofflager befindet sich dort. Die Stadt wird jetzt regelmässig von ukrainischen Drohnen angegriffen.
Doch noch sind die Ukrainer weder in Nowoprokopiwka, noch in Tokmak, noch in Melitopol, noch in Berdjansk. Noch sind sie 70 todbringende Kilometer vom Asowschen Meer entfernt.
Zweite Achse: Welkya Nowosilka
Doch nicht nur von Roboyne und Werbowe aus versucht die ukrainische Armee nach Süden vorzustossen und einen Keil ins russische Herrschaftsgebiet zu treiben. Weiter östlich liegt das Dorf Welkya Nowosilka.
Auch hier gelang offenbar ein Durchbruch der ersten russischen Verteidigungslinie. Laut verschiedenen Meldungen und gemäss Satellitenbildern haben die Ukrainer auf dieser zweiten Achse die Dörfer Neskuchne, Blahodatne und Makarivka zurückerobert. Ob es auch gelang, den strategisch wichtigen Ort Urozhaine zu besetzen, ist unklar. Sicher scheint, dass die Offensive auf dieser zweiten, östlichen Achse weniger schnell vorankommt als auf der «Robotyne»-Achse. Von Welkya Nowosilka aus führt eine kurvenreiche Strasse durch ein Tal des Flusses Mokri Yori nach Mariupol am Asowschen Meer.
Was erwartet die Ukrainer im Süden?
Uneinig sind sich die Experten darüber, weshalb die Ukraine versucht, auf zwei Achsen nach Süden vorzustossen. Soll damit die russische Verteidigung geschwächt werden, indem sie aufgespalten wird? Oder besteht der Plan, dass sich die beiden Stosstrupps weiter südlich vereinen? Auf der zweiten, östlichen Achse gibt es laut ukrainischen Angaben weniger ausgedehnte russische Verteidigungsanlagen und Minenfelder. Auch Panzersperren seien hier rar.
Nicht ganz klar ist, was die Ukrainer bei ihrem weiteren Vorstoss Richtung Süden erwartet. Das lange Ausbleiben der Konteroffensive erlaubte es den Russen, den ersten Verteidigungswall immer mehr auszubauen und zu perfektionieren. Gibt es eine zweite, eine dritte oder gar eine vierte Verteidigungslinie mit Gräben, Panzersperren und Minenfeldern? Oder ist nach der ersten, der schwer befestigten Surowikin-Linie ein Durchkommen leichter?
80 Luftangriffe pro Tag
Die Militärstrategen sind sich uneins, tendieren jedoch zur Meinung, dass das riesige Gelände es den Russen nicht erlaube, südlich der Surowikin-Linie ausgedehnte, uneinnehmbare Verteidigungsanlagen zu unterhalten. Es fehle schlicht an russischem «Personal». Die Russen versuchen hier, die ukrainischen Streitkräfte mit bis zu 80 Luftangriffen pro Tag aufzuhalten.
Der Name der ersten Verteidigungslinie bezieht sich übrigens auf General Sergej Surowikin. Er, der im Herbst 2022 für die russischen Operationen in der Ukraine verantwortlich war, hatte den Bau der Befestigungen angeordnet.
Überstürzte Truppenverlegung
Der Vormarsch der Ukrainer, auch wenn er mühsam vor sich geht, hat den Russen einen Schrecken eingejagt. Ziemlich überstürzt hat die russische Militärführung, offenbar auf Weisung von Putin, Kräfte von der Ostfront, vor allem aus der Region Kupiansk, abgezogen und sie an die Südfront verlegt. Laut dem britischen Militärgeheimdienst soll die berühmte und in Russland fast verklärte russische 76. Garde-Luftsturm-Division jetzt im Süden kämpfen. Es handelt sich dabei um eine «historische Division», die schon im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden war. Sie war es auch, die am ersten Kriegstag den Auftrag hatte, die Hauptstadt Kiew zu besetzen – musste dann aber abziehen. Männer dieser Division sollen an den Kriegsverbrechen von Butscha beteiligt gewesen sein.
Russische Militärblogger bezeichnen den Abzug dieser Division aus dem Osten als «schweren strategischen Fehler». Denn er erlaubt es der ukrainischen Armee, im Osten Gebiete zurückzuerobern. Sogar einige der Regierung nahestehenden Blogger machen Putin für den Entscheid verantwortlich.
Angriffe auf der Krim
Die Ukraine begnügt sich bei ihrer Gegenoffensive nicht mit Vorstössen von Robotyne und Welkya Nowosilka aus. Die Ukrainer versuchen, die russischen Waffenlieferungen schon früh zu stoppen. Kürzlich wurde die Brücke von Tschonhar (siehe Grafik) bombardiert. Über diese Brücke, die die Krim mit dem Festland verbindet, führt die Eisenbahnlinie, die die russischen Waffen in den Norden transportiert. Und die Brücke von Kertsch, die Russland mit der Krim verbindet und schon mehrmals angegriffen wurde, bleibt ein wichtiges Ziel der Ukrainer. Auch russische Stellungen um Tokmak, die die Ukrainer bald angreifen wollen, werden pausenlos von ukrainischen Drohnen bombardiert.
An diesem Dienstag wurde die in Sewastopol auf der Krim stationierte russische Schwarzmeer-Flotte erneut von der Ukraine angegriffen. Mit zehn Marschflugkörpern und drei Drohnen wurden zwei Schiffe stark beschädigt, unter anderem das U-Boot «Rostow am Don» und das Landeschiff «Minsk». Möglicherweise handelt es sich bei den von den Ukrainern eingesetzten Raketen um die weitfliegenden britischen «Storm Shadow»-Marschflugkörper. Dass es den Ukrainern gelang, ein U-Boot ausser Gefecht zu setzen, wurde in Kiew gefeiert, denn die Russen haben immer wieder von U-Booten aus Raketen auf ukrainische Städte abgeschossen. Der Vorfall zeigt, dass sich die Russen nicht mehr sicher sein können, wo sie sich auch befinden.
Überall wird «heiss gekämpft»
Wie die Gegenoffensive weiter verläuft, wagt kaum jemand vorauszusagen. Sicher ist, dass die Kämpfe einen riesigen Blutzoll fordern, von dem offiziell niemand spricht. Es wird mit Tausenden oder gar Zehntausenden toten ukrainischen und russischen Soldaten gerechnet.
Hanna Maljar, die stets vorsichtige stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin, spricht von «teilweisen Erfolgen» an der Südflanke. Die ukrainischen Truppen würden auf «heftigen feindlichen Widerstand, auf riesige Minenfelder und auf neue russische Truppenreserven» stossen. Die Ukrainer würden «nur allmählich» vorstossen. Überall würde «heiss gekämpft».
Quellen: Die Informationen zum Ukraine-Krieg sind oft schwer nachprüfbar. Viele Quellen widersprechen sich und müssen mit Vorsicht aufgenommen werden. Journal21 benutzte als Quellen das amerikanische «Institute of War», den britischen Militärgeheimdienst, russische Blogger, die russische Agentur Itar-Tass, die BBC, New York Times, CNN, Al Jazeera, Associated Press, Maxar Technologies, die ukrainische Agentur Ukrinform, Ukrainska Pravda.