Worin liegt die eigentlich schockierende Wirkung des grossen russischen Schriftstellers Dostojewski auf aufgeklärte westliche Leser? Er liess Christus auferstehen. Der in der Schweiz lebende russische Schriftsteller Michail Schischkin* setzt sich in einem tiefschürfenden Vortrag mit Dostojewskis Persönlichkeit und Werk auseinander.
Im November jährte sich Dostojewskis Geburtstag zum 200. Mal. Schischkin hat seinen Vortrag über diesen herausragenden Psychologen der Weltliteratur und seine Besessenheit mit der «russischen Idee» am 7. Dezember an der Uni Fribourg und am 8. Dezember am Philosophicum Basel gehalten. «Journal 21» veröffentlicht den Text dieser Rede mit Genehmigung des Autors.
Zu Beginn ein kurzes Quiz. Woher stammt das folgende Zitat?
«Russland braucht keine Predigt (davon hat es genug gehört), keine Gebete (auch davon gab es genug), sondern das Erwachen eines Gefühls der Menschenwürde, die viele Jahrhunderte durch den Dreck gezogen wurde, des Rechts und des Gesetzes, nicht wie die Kirche es vorschreibt, sondern gemäss dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit, und eine strenge Ausführung dieser Gesetze. Stattdessen bietet Russland den schrecklichen Anblick eines Landes, wo es nicht nur keinerlei Persönlichkeitsrechte gibt, keinerlei Garantien für Ehre und Eigentum, sondern nicht einmal eine polizeiliche Ordnung; es gibt nur einen riesigen Zusammenschluss von Dieben und Räubern.»
Sie können die Antwort aus zwei Optionen wählen:
- Aus dem Blog des russischen Oppositionsführers Alexej Navalny;
- Aus dem Brief Wissarion Belinskis an Nikolai Gogol.
Die richtige Antwort ist die: Die russische Zeit ist eine Schraubenmutter mit gerissenem Gewinde. Die Zeit Russlands dreht seit Jahrhunderten durch, und jede neue Generation sieht sich mit den gleichen Problemen und den gleichen «ewigen verfluchten russischen Fragen» konfrontiert.
Für das Vorlesen dieses verbotenen Briefes von Belinski vor einem Kreis junger Leute wurde Dostojewski zum Tode verurteilt und am 22. Dezember 1849 vor das Erschiessungskommando geführt, aber in letzter Minute begnadigt. So begann sein Leidensweg nach Sibirien und weiter zu seinen Romanen der Weltliteratur.
Seine «fünf Elefanten» erstürmten Europa in kürzester Zeit und brachten dem Autor unzählige Bewunderer. Der Erfolg war überwältigend, es gibt wohl keine anderen Romane mit einem vergleichbaren Bekanntheitsgrad wie «Schuld und Sühne» oder «Die Brüder Karamasow» – bis heute.
Alle sind gekränkt
Was vermochte westliche Leser in diesen tausendseitigen Wälzern so zu fesseln? Sicher die Spannung eines Krimis. Dostojewski versteht es, die Spannung ins Unerträgliche zu zerdehnen, Leser und Mörder zusammenzuschweissen. Der Autor zielt skrupellos auf mitreissende Wirkung, nichts bleibt unversucht: unzählige Skandale, endlose Eklat-Kaskaden, Verleumdungen, bösartige Entlarvungen, verführerische Femmes fatales mit hysterischen Anfällen, Geldverbrennung, Vatermord, blutige Verschwörungen, Kinderschändung. Die Durchschnittstemperatur der handelnden Personen liegt ausserhalb der Skala, jeder ist gekränkt, läuft mit entzündeten Nerven umher, pendelt zwischen Wut und Demut. In diesen Romanen stinken verwesende Heilige, gute Menschen schlagen mit Äxten alten Weibern Schädel ein, aus Sündern werden Erleuchtete, man zelebriert die Selbsterniedrigung, man küsst am Ende nicht die Frau, sondern die Erde. Man badet im Pathos, in einer explosiven Mischung aus engelhafter Erhabenheit und satanischer Niedrigkeit, in der psychologischen Raffinesse des Bösen. Literaturwissenschaftler würden zur Enträtselung der ungeheuren Wirkungskraft dieser Prosa noch die Polyphonie hinzufügen, einen durch Michail Bachtin eingeführten Begriff. In den Romanen von Dostojewski gibt es kein allsehendes und allwissendes Autorenauge, hier ist alles unklar, zerknittert, falsch und verdächtig. Es gibt keine zuverlässigen Quellen, jeder erzählt die eigene Wahrheit oder Lüge und die Leser müssen das Chaos aller möglichen und unmöglichen Spekulationen, Gerüchte, Vermutungen, Lügen entwirren.
Und das alles wird trotzdem nicht reichen, um den kolossalen Eindruck zu ergründen, welchen Dostojewski auf die westlichen Leser hinterlassen hat.
Da gibt es noch etwas. Auf jeder Seite atmet eine unsichtbare, doch zwischen den Zeilen äusserst spürbare und tastbare handelnde Person, die in keinem westlichen Roman des 19. Jahrhunderts so lebendig und greifbar erscheint. Gott.
Der berühmte Satz «Gott ist tot» – ist keine Beschwörung oder Verzweiflung, bloss pure Analyse der europäischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Einen der zahlreichen Totenscheine hat bereits der junge Hegel ausgestellt, indem er schrieb, die Religion der neuen Zeit beruhe auf diesem Gefühl: «Gott selbst ist tot». Da verbirgt sich die eigentlich schockierende Wirkung Dostojewskis auf aufgeklärte westliche Leser: Er liess sie in seinen Romanen auf eine verzweifelte, leidenschaftliche Suche nach dem lebendigen Glauben los. Darin liegt die Magie des grossen russischen Schriftstellers: Dostojewski liess Christus auferstehen.
Alle Romane von Dostojewski haben nur ein Sujet: Der Schriftsteller zeigt Menschen, die zum Glauben an Christus kommen. Für ihn ist es das Einzige, was zählt. Alle handelnden Personen laufen auf ihren Irrwegen herum, aber in eine Richtung.
Dostojewski und seine Avatare in den Romanen leben in der Vorahnung einer Katastrophe. Der blutige russische Bürgerkrieg begann nicht erst nach dem bolschewistischen Umsturz 1917, sondern mehrere Generationen früher. Er tobte mit voller Wucht auf den Barrikaden der russischen Gemüter und es war nur eine Frage der Zeit, wann der erbitterte Ideenkampf zu Geiselerschiessungen eskalieren wird.
Bereits die «fortschrittlichen» Zeitgenossen Gogols riefen das Volk zur Revolution auf. Gogol fragte Russland in seinem Poem: «Russland-Troika, wohin treibst du, gib Antwort!». Und er ahnte bereits, dass die Troika nicht der glücklichen Zukunft zu-, sondern in den Abgrund fliegt.
Der Weg zur Läuterung
Gogol sah die einzige Rettung im Glauben. Der russische Mensch, sei er auch so nichtig und widerlich wie Tschitschikow, kann in sich Christus finden und durch Demut und Leiden zu neuem Leben geboren werden. Und das ist der einzige Weg, Russland umzugestalten. Das war der Sinn der «Toten Seelen», die christliche Wiedergeburt des Menschen zu zeigen. Gogol hat sich selbst dafür geopfert, das wichtigste Buch seines Lebens zu schreiben, er spürte in sich die Berufung, seinen Landsleuten eine lebendige Seele einzuhauchen. Seine Feder sollte das Tote lebendig machen, den Weg zur Läuterung zeigen. Der Schurke und Gauner Tschitschikow sollte im dritten, ungeschriebenen Band der «Toten Seelen» durch die Leiden in der sibirischen Katorga zu seiner Neugeburt in Christo kommen und durch die Umkehr zu Gott Gnade finden.
Dostojewski folgt Gogol: nur die christliche Wiedergeburt eines jeden kann Russland retten – keine Verfassung, keine demokratische Umgestaltung, keine Revolution. Über die menschliche Substanz gab sich Gogol keinen falschen Einbildungen hin, er glaubte deshalb nicht an Bildung, weder an technische noch soziale Innovationen, sondern nur an die Wirkung der Glaubensgnade. Das öffentliche Böse kann nur in christlicher Demut besiegt werden. Zuerst Christus in der eigenen Seele finden, erst dann kann die Gesellschaft verbessert werden. Ohne innere Verklärung wird es keine soziale Transformation geben. Gogol schrieb an Belinski: «Das Gären im Inneren wird von keiner Verfassung gelöst werden. Die Gesellschaft entwickelt sich selbst, die Gesellschaft besteht aus Einzelnen. Es ist nötig, dass jeder Einzelne seine Pflicht erfüllt ... Wir müssen den Menschen daran erinnern, dass er kein Vieh ist, sondern der hohe Bürger eines himmlischen Reiches. Solange er nicht das Leben eines himmlischen Bürgers lebt, wird auch auf der Erde keine Ordnung einkehren.» Diese Erkenntnis wurde zum Eckstein von Dostojewskis «russischer Idee».
«Sie wollen eine zweite Bibel schreiben», sagte ein Bekannter zu Gogol. Er scheiterte, verbrannte sein Buch. Dostojewski wagte einen neuen grandiosen Versuch. Dostojewski fühlte in sich die ungeheure Schöpferkraft und die Berufung, sein Evangelium zu erschaffen und Russland vor dem Abgrund zu retten. Die «fünf Elefanten» sind der kaum bewusste Versuch, den dritten Band der «Toten Seelen» zu schreiben. Seine Bücher sollten den Weg zu Christus, zum wahren Glauben zeigen, sie sollten neues Leben in die toten Seelen einhauchen.
Dabei geht Dostojewski einen entscheidenden Schritt weiter. Das richtige, vom Übel gereinigte Christentum soll nicht nur Russland, sondern die ganze Welt retten. Es stellt sich nun die Frage: Wenn nur Christus die Menschheit erlösen wird, dann welcher Christus? Was tun mit den verschiedenen Christentümern?
In seinem berühmten «Philosophischen Brief» aus dem Jahr 1837 schrieb Peter Tschaadajew, der als erster russischer Philosoph gilt: «Wir sind ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Isoliert von der übrigen Menschheit, fehlt uns jede eigene Entwicklung, jeder wirkliche Fortschritt. Von den Ideen der Pflicht, der Gerechtigkeit und der Ordnung, welche die Atmosphäre des Westens ausmachen, sind wir ganz unberührt […] Die Vorsehung scheint uns völlig übergangen zu haben. Wir besitzen ein riesengrosses Land – aber geistig sind wir vollständig unbedeutend, eine Lücke in der Weltordnung.» Das «verhängnisvolle Schicksal» Russlands sei auf die Abschottung vom Westen durch die Spaltung der Kirche zurückzuführen. Die Orthodoxie habe Russland von Europa getrennt und in eine geistige und intellektuelle Sackgasse getrieben. Mit dem Anschluss an das tote byzantinische Christentum habe das Land den Kontakt zum lebendigen Westen Europas verloren. «Ein unheilvolles Geschick trieb uns, im elenden Byzanz […] die geistige Ordnung zu suchen, die die Grundlage unserer Erziehung sein sollte.»
Nachruf auf den Westen
Der orthodoxen Monarchie stiess er damit heimtückisch einen Dolch in den Rücken. Nach der Veröffentlichung dieses Briefes wurde Tschaadajew von Nikolaus I. offiziell für verrückt erklärt. Das war der eigentliche Beginn der Spaltung im russischen Selbstbewusstsein. Die Westler haben im Orthodoxen Christentum Bürde und Schicksalsfluch gesehen, die Slawophilen – glückliche Eigenartigkeit und Chance.
Dostojewski war überzeugt, nur der orthodoxe Glaube bewahre das wahre Bild Christi, nur das russische Volk habe die Reinheit des Glaubens – die Orthodoxie – auch unter den Leiden der Tatarenherrschaft gerettet. Seiner Überzeugung nach lag das Heil der Welt im unverfälschten, urtümlichen Glauben der einfachen russischen Bauern. Christus habe sich nur in der Ostkirche erhalten, denn der Katholizismus habe die Ideale des Christentums um der irdischen Macht willen verraten.
Dostojewski war nicht der erste, der auf diese «russische Idee» kam.
«Das zerfallene Europa braucht ein Zentrum, das kann nur das russische Volk sein, das politisch und geistig über die andern herrscht.» – schrieb Iwan Kirejewski, der Autor des 1852 erschienenen Essays «Über das Wesen der europäischen Kultur und ihr Verhältnis zur russischen». Der Autor dieses Nachrufs auf den Westen, wie auch andere Slawophile, hatte selbst lange Jahre seines Lebens in den Hauptstädten Westeuropas zugebracht, war bestens vertraut mit deren Sprachen, Literaturen und ihrer Geisteswelt. Kirejewski hatte nach Studienjahren bei Hegel in Berlin und Schelling in München die Zeitschrift «Der Europäer» herausgegeben und sich durchaus als Westler geäussert. Der deutsche philosophische Genius weckte die schlummernde russische Seele. Bald wurde ein Minderwertigkeitskomplex junger russischer Philosophen an den deutschen Universitäten in einer Art Kompensation von russischem Grandiosität- und Überlegenheitsgefühl abgelöst. Die russische Philosophie entstand als Opposition zum «fremdländischen» Denken.
Denken kann jeder für sich allein, nicht aber glauben. Kirejewski betonte den Unterschied zwischen westlicher und russischer Philosophie: «Dort Spaltung der Kräfte des Verstandes – hier Streben nach einer lebendigen Vereinigung». Diesen Glaubensbegriff haben die Slawophilen zur Vorstellung der «sobornost» weiterentwickelt.
Kirijewski, Absolvent der besten deutschen Universitäten, sah den westlichen Ungeist mit Schrecken in Russland einziehen. Alles, was einer vollständigen Entfaltung der Orthodoxie entgegenstehe, behindere auch die Entfaltung des russischen Volkes sowie dessen Wohlergehen, es verletze die Seele Russlands, es zerstöre seine moralische, gesellschaftliche und politische Gesundheit.
Dostojewski entwickelt die «russische Idee» bis zu ihrer logischen Schlussfolgerung (zu der eigentlich bereits der Mönch Filofei, Starez des Pskower Klosters im 16. Jahrhundert in seinen Briefen an den Zaren kam): Die historisch bedingte Aufbewahrung des wahren Glaubens ausschliesslich in Russland, im «dritten Rom», macht die Russen zum neuen von Gott auserwählten Volk. Dessen Mission ist es nun, die Menschheit zu erlösen.
Der Protopope Awwakum, Führer der russischen Altgläubigen wurde nach Sibirien verbannt und 1682 schliesslich auf dem Scheiterhaufen verbrannt, seine Aufzeichnungen sind ein Manifest des christlichen Leidensweges und der Bereitwilligkeit, ihn bis zum Ende zu gehen: «Mögen die Erbarmenswertesten um Christi willen leiden! Mag es unter dem Beistand Gottes geschehen! So ist es ja bestimmt: Um des Christenglaubens willen müssen wir wieder und wieder leiden. Hast du, Protopope, einst den Umgang mit grossen Herren gesucht, so drücke dich jetzt auch nicht vor dem Leiden und halte aus bis zum Ende. Denn es steht ja geschrieben: Nicht der Anfang ist selig, sondern das Ende.»
Russische Auserwähltheit
Wie ein einzelner Mensch zu Christus nur durch Leiden komme, meint Dostojewski, so komme auch die Nation, so habe auch das russische Volk es durch seine Leiden «verdient», den wahren Christus der Welt gegenüber zu vertreten. Das Leiden als bewusste Hinwendung zum Jenseits stelle einen Weg der Läuterung dar. Die blutige erbarmungslose Geschichte Russlands ist für Dostojewski ein wichtiger Beweis für die Auserwähltheit der Russen. «Ich glaube, das wichtigste, das wesentlichste geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis, immer und unaufhörlich, überall und in allem zu leiden. Mit diesem Lechzen nach Leid scheint es von jeher infiziert zu sein. Der Strom der Leiden fliesst durch seine ganze Geschichte; er kommt nicht nur von äusseren Schicksalsschlägen, sondern entspringt der Tiefe des Volksherzens. Das russische Volk findet in seinem Leiden gleichsam Genuss.» (Aus «Tagebuch eines Schriftstellers», 1873).
Die «russische Idee» Dostojewskis entsteht und entfaltet sich während seiner erzwungenen Europareise 1867–1871 (er flüchtete vor seinen Gläubigern). Der Schriftsteller sucht nun seine Ideen literarisch zu verarbeiten. Ihm schwebt ein gewaltiges Werk vor, ein grosses Romanprojekt mit dem Arbeitstitel «Atheismus». In den Briefen aus Europa hebt er immer wieder hervor: Er versteht dieses Projekt als seine Lebensaufgabe. Es soll ein Werk werden, «vor dem meine ganze bisherige literarische Karriere nur Schund und eine Einleitung ist und dem ich mein ganzes weiteres Leben widmen werde.» Das grandiose Werk zerfällt in einzelne Texte. Als erster erscheint «Der Idiot» (1868).
Was Dostojewski durch einen seiner Romanprotagonisten aussprechen lässt, findet sich oft beinahe wortwörtlich auch in seiner Publizistik und ist mithin als sein persönliches Bekenntnis zu lesen. Zum ersten Mal in einem literarischen Text verkündet der Schriftsteller seine «russische Idee» urbi et orbi, indem er Fürst Myschkin mit messianischem Eifer in den Kampf schickt: «Der römische Katholizismus ist sogar schlimmer als der Atheismus […] Der Atheismus verkündet nur die Null, der Katholizismus aber geht weiter: Er verkündet den entstellten Christus, den er selbst verleugnet und geschändet hat, den Gegen-Christus! Er verkündet den Antichrist, ich schwöre es Ihnen! […] Meine Meinung ist, dass der Katholizismus sogar nicht einmal eine Religion, sondern ganz eindeutig die Fortsetzung des Weströmischen Imperiums und dass alles an ihm von dieser Idee beherrscht ist, vom Glauben angefangen. Der Papst hat sich des Erdballs bemächtigt, des irdischen Throns, und das Schwert ergriffen; und seither ist alles so geblieben, nur hat sich zum Schwert die Lüge gesellt, Intrige, Betrug, Fanatismus, Aberglaube, böser Wille, das Spiel mit den heiligsten, echtesten, aufrichtigsten, feurigsten Gefühlen des Volkes und alles, alles wurde gegen Geld, gegen niedrige irdische Macht eingetauscht.»
Dostojewski kommt dahin, die römische Kirche vollständig zu verwerfen. Er betrachtet das Papsttum als die grösste destruktive Kraft des Westens, da Rom Christus um des Besitzes irdischer Macht willen verraten und Gott machtpolitisch missbraucht habe.
Der Rationalismus, der Vorläufer des Atheismus sei aus einer «unheiligen» Verbindung des Christentums mit der römischen Staatsidee hervorgegangen. Der Atheismus sei eine Folgeerscheinung des Katholizismus, – mit diesen Thesen erschüttert Fürst Myschkin die Grundlagen des westlichen Universums: «Der Atheismus ist aus ihm hervorgegangen, aus dem römischen Katholizismus selbst! […] Er ist die Ausgeburt ihrer Verlogenheit und geistigen Ohnmacht! Atheismus! Bei uns haben erst die höheren Stände den Glauben verloren […] die Entwurzelten; aber dort, in Europa, dort beginnen schon gewaltige Massen des Volkes den Glauben zu verlieren – früher aus Unwissenheit und Verlogenheit und jetzt aus Fanatismus, aus Hass gegen die Kirche und das Christentum.»
Alle rationalen Gesellschaftstheorien, die aus dem Westen nach Russland kommen, würden Russland nur ins Unglück stürzen. Positivismus, Sozialismus, Kapitalismus, Rationalismus, Materialismus seien nur verschiedene Kehrseiten der einen Medaille – des Atheismus. Immer noch in den Worten Myschkins: «Der Materialismus triumphiert, die blinde, gefrässige Begierde nach persönlicher materieller Versorgung, die Gier nach persönlichem Zusammenscharren des Geldes, und – der Zweck heiligt die Mittel –: all das wird als höchstes Ziel anerkannt, als das Vernünftige, als Freiheit, an Stelle der christlichen Idee der Rettung einzig durch engste ethische und brüderliche Vereinigung der Menschen.»
Atheismus und Sozialismus – westliche Versuchungen
Im Roman «Der Idiot» wie auch in seiner Publizistik nennt Dostojewski die Idee des Sozialismus in einem Atemzug mit dem Katholizismus und er lehnt sie als menschenverachtende, auf Lüge und Gewalt basierende Herrschaftsideologie vehement ab. «Auch der Sozialismus ist eine Ausgeburt des Katholizismus und des katholischen Wesens!», predigt weiter der Romanprotagonist. «Auch er ist, wie sein Bruder, der Atheismus, der Verzweiflung entsprungen, um als Antithese, im sittlichen Sinne, zum Katholizismus, die verlorene sittliche Macht der Religion zu ersetzen, um den geistigen Durst der darbenden Menschheit zu stillen und sie nicht durch Christus, sondern ebenfalls durch Gewalt zu erlösen! Auch dort ist Freiheit durch Gewalt, Einigung durch Schwert und Blut! ‹Untersteh dich, an Gott zu glauben! Untersteh dich, Eigentum zu haben! Untersteh dich, eine Persönlichkeit zu sein, Fraternité ou la mort, zwei Millionen Köpfe!›»
Atheismus und Sozialismus bergen besondere Gefahren für den russischen Menschen. Die Russen mit ihrer Leidenschaft und ihrem «geistigen Durst» seien besonders anfällig für diese westlichen Versuchungen. Die Orthodoxie in der russischen Seele lässt sich nur durch einen anderen stärkeren Glauben ersetzen. Fürst Myschkin: «Wenn einer von uns zum katholischen Glauben übertritt, dann muss er gleich Jesuit werden und noch dazu einer von den ganz fanatischen; wird er Atheist, fordert er unbedingt die Ausrottung des Gottesglaubens mit Gewalt, das heisst, mit dem Schwert. Woher das kommt? […] Wir werden nicht einfach Atheisten, sondern wir beginnen, an den Atheismus zu glauben, er wird zu einer neuen Religion, und wir merken nicht, dass wir nun an eine Null glauben. So stark ist unser Durst!»
Der wahre Glauben, nach Dostojewski, muss gerettet und verteidigt werden. Den Auserwählungsglauben des alten Israel überträgt Dostojewskij auf das russische Volk als dem neuen Israel. Denn das russische Volk habe sein Bündnis mit Gott geschlossen und sei berufen, dem wahren Christus zu folgen und die Menschheit zu erlösen. Auch diesen Gedanken legt Dostojewski in Myschkins Mund: «Wir müssen Widerstand leisten, und zwar auf das schnellste, auf das schnellste! Unser Christus muss als Schild dem Westen entgegenstrahlen, unser Christus, den wir uns bewahrt und den sie nicht gekannt haben!» Fürst Myschkin eilt den Schlachtplan darzulegen, bevor er die chinesische Vase zerbricht und seine emphatische Rede in einen epileptischen Anfall mündet: «Wir dürfen nicht sklavisch den Jesuiten an die Angel gehen, sondern wir müssen uns ihnen in den Weg stellen und ihnen unsere russische Zivilisation entgegenhalten […] Weist den dürstenden und fiebernden Gefährten des Columbus das Gestade der ‹Neuen Welt›, weist den russischen Menschen die russische ‹Welt›, lasst ihn dieses Gold heben, diesen Schatz, der verborgen in der Erde ruht! Weist ihm die künftige Erneuerung und Auferstehung der ganzen Menschheit, vielleicht allein dank der russischen Idee, des russischen Gottes und Christus, und Ihr werdet sehen, welcher Riese, kraftvoll und wahrhaftig, weise und sanft, sich vor der staunenden Welt aufrichten wird, einer staunenden und erschrockenen Welt, weil man von uns nur das Schwert erwartete, das Schwert und die Gewalt, weil man sich uns nach dem eigenen Bilde nicht anders vorstellen kann, denn als Barbaren.»
Der heilige Krieg, der hier erklärt wird, richtet sich gegen den Nihilismus. Dabei gilt dieser Begriff für Dostojewski als Synonym sowohl für den Unglauben als auch für einen anderen Glauben. Unter Nihilismus wird alles verstanden, was vom Westen kommt und der Entfaltung des wahren (das heisst orthodoxen) Glaubens im Wege steht.
Der westlichen Vorstellung von den Russen als Barbaren setzt Dostojewski die «Gott-tragende Mission» des russischen Volkes entgegen. Zum ersten Krieger gegen den Nihilismus macht der Schriftsteller den weisen Starez Sossima in den «Brüdern Karamasow», der die russische Welt Christi, eine Welt der Liebe und der Hingabe, des Mitleidens und des Verzeihens repräsentiert. Sossima erfüllt die sehr wichtige Aufgabe, ein Verkünder der Idee vom Gott-tragenden Volk zu sein: «Vom Volk kommt Russlands Rettung. Und das russische Kloster hat von jeher in enger Beziehung zum Volk gestanden. Wenn das Volk isoliert ist, so sind wir es auch. Das Volk ist auf unsere Art gläubig; ein ungläubiger Weltverbesserer wird bei uns in Russland doch nichts erreichen, mag er es noch so aufrichtig meinen und einen noch so genialen Verstand besitzen. Behaltet das gut im Gedächtnis! Das Volk wird den Atheisten entgegentreten und sie niederringen, und es wird ein einiges, rechtgläubiges Russland erstehen! Behütet das Volk, bewahrt sein Herz vor allem Übel! Erzieht es in der Stille! Das ist das grosse Werk, das ihr als Mönche auszuführen habt, denn dieses Volk ist der Träger des göttlichen Glaubens!»
Licht aus dem Osten
In Dostojewskis Weltbild erscheint Russland als «Christus der Völker». Um die anderen Völker zu erlösen, muss man sie bekehren, sie werden zum echten Glauben an Gott konvertieren, der nur in der orthodoxen Kirche wirklich gegenwärtig ist. Die Bestimmung Russlands sei es, als Licht aus dem Osten Richtung Westen zu fluten, zu der erblindeten Menschheit, die Christus verloren hat. «Hat denn nicht die Orthodoxie allein das göttliche Antlitz Christi in seiner ganzen Reinheit bewahrt? Vielleicht liegt auch die wichtigste vorbestimmte Bedeutung des russischen Volkes für die Schicksale der ganzen Menschheit nur darin, dass es das göttliche Antlitz Christi in seiner ganzen Reinheit bewahrt, und wenn die Zeit kommt, der Welt, die ihre Wege verloren hat, offenbart!» (Aus «Tagebuch eines Schriftstellers», 1873).
Immer wieder betont Dostojewski in verschiedenen Texten, die Aufgabe Russlands erscheine wie eine prophetische Mission zur Errettung ganz Europas vor den zukünftigen Katastrophen: «Das abhanden gekommene Bild Christi hat sich in seiner ganzen leuchtenden Reinheit in der Orthodoxie erhalten. Vom Osten wird nun das neue Wort an die Welt dem nahenden Sozialismus entgegentönen, und dieses Wort wird vielleicht die europäische Menschheit wieder retten. Das ist die Bestimmung des Ostens.» (aus «Tagebuch eines Schriftstellers“, November 1877) Es geht so weit, dass der Schriftsteller einen seiner «Pressesprecher», Schatow in den «Dämonen», ausrufen lässt: «Ich glaube, dass die Wiederkunft Christi in Russland geschehen wird.»
Unter diesem messianischen Blickwinkel sieht Dostojewski auch die russische Geschichte und die bahnbrechenden Reformen Peters I. Im «Tagebuch eines Schriftstellers» (Juni 1876) schreibt er, dass das alte, vor Europa verschlossene Russland in der Zeit vor Peter I. das orthodoxe Christentum aus Byzanz wie ein Juwel aufbewahrte. Es sei jedoch unmöglich gewesen, dieses „Juwel» nur für sich selbst zu behalten – man musste sich öffnen, den Reichtum mit der Welt teilen. Die russische Mission bestand in der Offenbarung und in der selbstlosen Vergabe des aufbewahrten christlichen Schatzes an alle anderen Völker.
Die von Peter getriebene Öffnung sollte nach Dostojewskis Lesart nicht der Verbreitung westlicher Errungenschaften in den Wissenschaften, Technologien, Ideen in Russland dienen, sondern sollte es vielmehr ermöglichen, das gottverlassene Europa mit dem Licht des wahren Christentums von Osten zu beleuchten. Der Sinn des „Fensters nach Europa» liege darin, dass Russland seine Bestimmung erfüllen könne: «die brüderliche endgültige Einigung aller Völker nach dem Gesetze Christi und des Evangeliums» zu erlangen.
Dieser «endgültigen Einigung aller Völker» sollten die Russen als «Diener» verhelfen. Dostojewski verwendet ein geringschätzendes Wort und verleiht ihm einen hohen Wert in der Bedeutung des Dienens an Christus: «Das ist unsere wirkliche und in der Tat fast brüderliche Liebe zu den anderen Völkern, eine Liebe, die wir in anderthalb Jahrhunderten mit ihnen gewonnen haben; das ist unser Bedürfnis, der ganzen Menschheit zu dienen, zuweilen sogar zum Nachteil der eigenen, wichtigsten und nächsten Interessen; […] Wir erkannten unsere Weltbestimmung, unsere Persönlichkeit und unsere Rolle in der Menschheit, und mussten einsehen, das diese Bedeutung und diese Rolle grundverschieden sind von denen der anderen Völker; denn dort lebt jede nationale Persönlichkeit einzig für sich und in sich, wir aber werden, wenn unsere Zeit kommt, gerade damit beginnen, dass wir die Diener aller werden, um der allgemeinen Versöhnung willen.» (Aus «Tagebuch eines Schriftstellers», Juni 1876)
Zar und Volk als Einheit
Als Instrument zur Verwirklichung der russischen Mission, zur Erhaltung und Verbreitung des orthodoxen Glaubens dient der Staat: das orthodoxe Zarentum, das diesen rechten Glauben verkörpert. In einem Brief an seinen Freund Maikow schreibt Dostojewski aus Genf im März 1868: «Unsere Verfassung ist die gegenseitige Liebe des Volkes zum Monarchen und des Monarchen zum Volk. Ja, die mit Liebe verbundene und nicht die kriegerische Grundlage unseres Staates (was offenbar als erste die Slawophilen erkannt haben) ist der ganz grosse Gedanke, auf dem man aufbauen kann. […] Hier im Ausland bin ich für Russland endgültig zum überzeugten Monarchisten geworden.»
Dostojewski war davon überzeugt, eine solch tiefe Verbundenheit wie die zwischen dem orthodoxen Zaren und seinem Volk hätte es im Westen nie gegeben und könne es nicht geben dort, wo «alles von den Lagerhallen der Bourgeoisie und der Willfährigkeit des Proletariats abhängig ist».
Die Beziehungen zwischen der Macht und der Bevölkerung sollen, nach Dostojewski, nicht auf einem gesellschaftlichen Vertrag basieren, nicht auf der Verfassung und dem Parlamentarismus, sondern auf der «Sobornost», einer brüderlichen Gemeinschaft in Christo, was den Staat zur Verkörperung der eigentlichen Idee des Volkes macht.
Die Ideale Entwicklung des Staatswesens sieht Dostojewski in einer Theokratie. Ein theokratisches Reich wurde ja in der Offenbarung des Johannes geweissagt: eine kommende Weltregierung der Gerechten unter der Herrschaft Christi. Iwan Karamasow vertritt den Standpunkt seines Autors, wenn er sagt, der Staat müsse in die Kirche umgewandelt werden, damit das Zivilgericht dem Gericht Gottes unterliegt. Wo Staat und Kirche vereint sind, wird es keinen Unterschlupf für den Täter geben. Er wird diesseits und jenseits bestraft werden, was zum Ende allen Verbrechens führen wird. «Nach der russischen Vorstellung und Zuversicht soll sich jedoch nicht die Kirche in den Staat umwandeln wie aus der niederen in eine höhere Form, sondern der Staat muss im Gegenteil zuletzt dahin kommen, dass er sich würdig erweist, einzig und allein Kirche zu werden und nichts anderes.»
Dostojewski träumte ganz aufrichtig davon, dass sich alle Völker der Erde, die von Sem, Ham und Jafet kommen, zu einer harmonischen Einheit vereinigen würden. Sein Grundgedanke war der Traum von einer harmonischen Vereinigung der Zukunftsvölker. Die einzige Voraussetzung sah er in der Vereinigung in Christus, jedoch in einem russisch-orthodoxen Christus.
Auf der metaphysischen Karte der «russischen Idee» sind die Grenzen des orthodoxen Glaubens und des russischen Reiches identisch. «Ungläubige» aller Art umzingeln die rechtgläubige Hochburg und gieren nach christlichem Blut, indem der Zar und seine Bauern (auf Russisch klingen die Wörter für Bauern und Christen gleich: крестьяне und христиане) bereit sind, in seelischer Einheit auf Leben und Tod für ihre orthodoxe Heimat zu kämpfen und alles zu opfern. Mit den russischen Siegen wächst das Territorium des wahren Christentums, mit Niederlagen schrumpft es. Die «ungläubigen» Länder hindern Russland daran, seine uneigennützige christliche Politik auf Europa und Asien auszudehnen und damit seine Sendung zu erfüllen.
So interpretierte Dostojewski die Aussenpolitik der zaristischen Regierung als eine christliche und moralische Politik. Die europäischen Staaten, die Russland trotzten, meinte er, schadeten damit letztlich sich selbst und gefährdeten ihre eigene Zukunft.
Heiliger Krieg gegen die «Ungläubigen»
Mit dem Beginn des Balkankriegs im Jahre 1876 eröffneten sich Aussichten auf die Verwirklichung der «russischen Idee». Die Träume Dostojewskis schienen wahr zu werden. Die Zarenregierung unterstützte den Befreiungskampf der slawischen Balkanvölker und erklärte dem osmanischen Reich den Krieg. Das Ziel war klar gesetzt: Es war an der Zeit, die Wiege des rechten Glaubens zu befreien – Konstantinopel.
Der Krieg löste in der russischen Öffentlichkeit eine Welle stürmischer Begeisterung aus. Freiwillige strömten aus Russland nach Serbien, um ihren orthodoxen Brüdern beizustehen. Dostojewski, von der messianischen Hochstimmung ergriffen, hielt die Ereignisse für Vorzeichen einer unmittelbar bevorstehenden historischen Wende zu einer neuen christlichen Ära. Seine «russische Idee», von vielen Russen mit liberalen «westlichen» Einstellung als Utopie betrachtet und verpönt, wurde Realität. Das orthodoxe Reich zog in den «heiligen Krieg» gegen die «Ungläubigen», in seiner historischen Bestimmung als grosschristliche Schutzmacht sämtlicher Slawenvölker. Das auserwählte russische Volk kam seinen Brüdern in Christo zu Hilfe.
Für Dostojewski war die Befreiung Konstantinopels eine direkte Fortsetzung der grossen Tat Peters I. Der russische Weg führte das «Gottesträgervolk» von Moskau über Sankt Petersburg und Konstantinopel weiter in die Zukunft zur christlichen brüderlichen Völkerfamilie unter Führung des orthodoxen Zaren.
«Russland ist sich mit seinem Volke und seinem Zaren an dessen Spitze schon bewusst, dass es nur die Trägerin der Idee Christi ist, dass das Wort der Orthodoxie in ihm zu einer grossen Tat wird, dass diese Tat mit dem jetzigen Kriege schon begonnen hat und dass ihm in der Zukunft noch Jahrhunderte von Selbstaufopferung, Verbreitung von Brüderschaft unter den Völkern und eines heissen mütterlichen Wirkens für sie, als für seine teuren Kinder bevorstehen.» (aus «Tagebuch eines Schriftstellers», 1877)
Die Kämpfe auf dem Balkan dauerten noch an, da stritten sich in Moskau bereits die Publizisten, wem die symbolische Stadt am Bosporus gehören soll. Dostojewski empörte sich über den Wunsch, Konstantinopel solle an der Spitze der slawischen Konföderation, allen Völkern gleichermassen gehören: «Konstantinopel muss unser werden, weggenommen den Türken von uns, den Russen, und unser bleiben auf ewige Zeiten.»
Der vielversprechende Anfang der Verwirklichung der «russischen Idee» wurde bald schon zu ihrem schnellen Ende. Zwar zerschmetterte die russische Armee die Türken, doch die lang ersehnte Errichtung des orthodoxen Kreuzes auf der Kuppel der Hagia Sophia hat nicht stattgefunden. Der Frieden wurde In San Stefano, in Sichtweite der Hagia Sophia unterzeichnet, doch Konstantinopel wurde weder zum neuen Jerusalem noch zur russischen Hauptstadt der Welt. Der Zar und seine Minister führten die Aussenpolitik des Reiches nicht nach den Leitlinien der «russischen Idee» eines Schriftstellers, sondern in diplomatischen Gefechten mit England, Frankreich, Deutschland und Österreich. Die westlichen Grossmächte retteten das Osmanische Reich auf dem Berliner Kongress 1878. Russland fühlte sich um die Früchte des Sieges betrogen.
Die Enttäuschung Dostojewskis war gross. Der siegreiche Zug der Orthodoxie in die weite Welt, mit dem das rechtgläubige Russland seine welthistorische Mission erfüllen sollte, verschob sich auf unbestimmte Zeit.
Die russische Idee hatte noch einen Feind, der viel heimtückischer und gefährlicher war als das Osmanische Reich und die Westmächte: die Revolutionäre.
Nach Dostojewski besteht die höchste Gabe Gottes an den Menschen in der Freiheit – der Freiheit, zu Christus zu kommen. Der Mensch ist frei, zwischen dem Bösen und Guten zu wählen. Dostojewskis Lehre von der Freiheit der Wahl macht es verständlich, warum er mit grosser Energie gegen die revolutionären Ideen vorgeht: Er sah im Befreiungskampf gegen den Zarismus die Freiheit bedroht, den Weg der Orthodoxie zu wählen. Doch anders als Dostojewski hoffte, entschied sich jede neue russische Generation bis zur Katastrophe der Revolution frei für den Kampf gegen die Despotie und nicht seine «russische Idee».
Zauberwort Revolution
Mit der epochalen Leibeigenen-Befreiung 1861 entschied sich Russland für den gleichen Weg, den die westlichen Länder in Ihrer sozialen Entwicklung eingeschlagen hatten. Die von Zar Alexander II. eingeleiteten Reformen hören sich an wie aus dem Musterbuch einer demokratischen Gesellschaftsordnung: Gleichheit aller vor dem Gesetz, Trennung von Gericht und Administration, Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter, Bildung eines Geschworenengerichts, Öffentlichkeit der Verhandlungen. Für die Provinzverwaltung wurde die sogenannte «Landschaftsvertretung» (Semstwo) errichtet, die aus Vertretern aller Stände gewählt wurde. Für die Städte gab es Selbstverwaltungsorgane, wie die gewählte Stadtduma. Im Bildungswesen erhielten die Universitäten Autonomie. Im Militär wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die Prügelstrafe abgeschafft. Das Land bewegte sich in Siebenmeilenschritten auf eine Verfassung zu. Das war die Zeit der ersten russischen «Perestrojka», des grossen Umbruchs und der grossen Hoffnungen, die Zeit der grossen Romane Dostojewskis.
Einen Dämpfer bekam der Reformprozess allerdings von der «progressiven» Flanke der Gesellschaft. Ungeduldig strebten die Revolutionäre, das verhasste Zarenregime zu stürzen. Da Alexander II., der «Zar-Befreier», das bestehende System symbolisierte, wurde er zu ihrem zentralen Hassobjekt. Die gebildete Klasse – die Intelligenzija – erklärte der Regierung den Krieg. «Sturz der Autokratie» und «Revolution» wurden zu Zauberwörtern, welche die Seelen und Herzen der belesenen jungen Männer und Frauen erfüllten. Sie belagerten das autokratische Regime wie eine Festung.
Die nach Idealen dürstende russische Seele hatte wieder ein Ziel, ein so wichtiges, dass man dafür sein Leben opfern konnte – die Revolution, die Befreiung des eigenen Volkes und der ganzen Menschheit.
Die gebildete Gesellschaft war völlig auf der Seite der Revolutionäre und unterstützte sie mit allen Mitteln im Krieg gegen das Zarenregime. Selbst der Terrorismus stiess bei der Intelligenzija auf Verständnis. Bezeichnend war in dieser Hinsicht der berühmte Prozess der Terroristin Vera Sassulitsch. Am 24. Januar 1878 schoss die Studentin Sassulitsch mit einem Revolver auf Fjodor Trepow, Gouverneur von Sankt Petersburg, und verwundete ihn schwer. Dostojewski wohnte dem aufsehenerregenden Gerichtsprozess bei. Die «gebildete Gesellschaft», die Intelligenzija, unterstützte die Terroristin vehement, und sie wurde unter dem Jubel des begeisterten Publikums freigesprochen. Dostojewskis öffentliche Verurteilung dieses Freispruchs glich einer verzweifelten Stimme in der Wüste.
Am Ende des Romans «Schuld und Sühne» träumt Rodion Raskolnikoff von einer die Welt verheerenden Seuche: «Ihm träumte in der Krankheit, dass die ganze Welt dazu verurteilt war, einer schrecklichen, unerhörten und nie dagewesenen Pestilenz, die aus den Tiefen Asiens über Europa kam, zum Opfer zu fallen. […] Es waren seltsame Trichinen aufgetaucht, mikroskopische Lebewesen, die sich in den Menschenleibern einnisteten. […] Die Menschen, die sie in sich aufgenommen hatten, gebärdeten sich sofort wie Besessene und Wahnsinnige. Aber noch nie, noch nie hatten Menschen sich für so klug gehalten und für so unerschütterlich in der Wahrheit, wie es diese Angesteckten taten. Nie hatten sie ihre Urteile, ihre wissenschaftlichen Ergebnisse, ihre sittlichen Überzeugungen und Glaubenssätze für unumstösslicher gehalten. Ganze Ortschaften, ganze Städte und Völker wurden angesteckt und gebärdeten sich wie Wahnsinnige. Alle waren in Aufregung und verstanden einander nicht, ein jeder meinte, nur er allein sei im Besitz der Wahrheit. Hier und da liefen Menschen zu Haufen zusammen, einigten sich über etwas, schwuren, einander nicht zu verlassen – aber gleich danach begannen sie etwas ganz anderes zu tun, als was sie soeben beschlossen hatten, begannen sie einander zu beschuldigen, wurden handgemein, fochten und schlugen sich gegenseitig tot. Hungersnot trat ein. Alle und alles ging zugrunde. Die Pest schwoll an und verbreitete sich weiter und weiter.»
Wie man so schön sagt: Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen und Ereignissen wäre rein zufällig. Dostojewski ist kein Nostradamus, um alle Plagen, die die Menschheit heimsuchen, auf das Jahr genau zu prophezeien. Der Schriftsteller meinte selbstverständlich nicht Covid-19, sondern den Virus der ideologischen Intoleranz, der die Welt und besonders die russische Öffentlichkeit von damals bereits infiziert hatte. Dostojewski meinte den Virus, der im blutigen 20. Jahrhundert Revolutionen und Kriege mit bis dahin nie vorstellbaren Opfern verursachte. In dieser Bereitschaft, im Namen höherer Ideale zu zerstören, zu vernichten, zu töten sah er den Keim der unweigerlich drohenden Katastrophe. Die Ursache war für ihn die zunehmende Entfremdung der russischen Oberschicht vom «Boden» («почва»), vom Bauernvolk, von der Religion, von Christus.
Die «gebildete Gesellschaft» forderte Aufklärung für die analphabetische Bevölkerung, neue Schulen, Krankenhäuser. Dostojewski sah in der Aufklärung westlicher Prägung einen Schritt in die falsche Richtung. Er verstand unter der Volksaufklärung etwas ganz anderes: «Erhellung, also das geistige Licht, das die Seele erhellt, im Herzen Klarheit schafft, den Geist lenkt und ihm den Weg des Lebens weist» (aus «Tagebuch eines Schriftstellers», 1880).
Austreibung der Dämonen
Man warf ihm seine politischen konservativen Anschauungen vor, doch Dostojewski war keineswegs rückwärtsgewandt. Er sah nicht zurück, sondern nach vorne. Er erahnte Wirren und Katastrophen. Er wollte seinen Landsleuten die gefährdete Zukunft erhalten. Er verteidigte hingebungsvoll jene Werte, ohne die von einer Zukunft keine Rede mehr sein konnte.
Ein Vorfall in einem revolutionären Zirkel in Moskau (ein Student wurde von seinen Mitstreitern ermordet) gab dem Schriftsteller den Anlass, den Roman «Die Dämonen» zu schreiben. Der Titel geht auf Christi Austreibung der Dämonen zurück, die er aus Menschen, die von ihnen besessen waren, in Schweine fahren liess. Der Sinn liegt auf der Hand: Dostojewski vergleicht die russischen Revolutionäre mit bösen Geistern, die die Schweineherde in den Abgrund treiben. So trieben sie die russische Gesellschaft in die Katastrophe. Die totale Besessenheit von einer Idee treibt sie zur Gewalt. In ihrer ideologischen Blindheit sehen sie weder sich selbst noch andere.
(In Klammern bemerkt: Die von bösen Dämonen besessenen Schweine ertranken offensichtlich nicht im See, sondern begaben sich direkt zur Animal Farm von George Orwell.)
Die Ironie der russischen Tragödie: In Wirklichkeit erwiesen sich die «von bösen Geistern Besessenen» oft als die besten Töchter und Söhne des Volkes, die im Namen ihrer Ideale zu Kerker und Todesstrafe bereit waren. Sie gingen massenweise nach Sibirien in die Katorga, aber sie büssten nicht und kamen zu keiner Neugeburt in Christo. In ihrer Bereitschaft zu leiden waren junge Revolutionäre direkte Nachfolger Awwakums. Sie wurden gequält, gefoltert, aber ihr Leiden führte sie nicht zur Gnade durch Umkehr zu Gott. Vor der Hinrichtung lehnten sie die Beichte ab. Ihr Mut konnte nur Respekt und Bewunderung wecken, die Revolutionäre waren Märtyrer, aber keine Märtyrer Christi, sondern Märtyrer der Leere. Sie suchen nach dem wahren Glauben, aber fanden den falschen. Sie waren gute Menschen, aber vermehrten das Böse auf der Erde. Warum kommt das Böse nach Russland immer wieder von guten Menschen?
In einem Artikel aus dem Jahre 1873 bemerkte Dostojewski, dass Terroristen keineswegs Monster sind; entsetzlich ist, dass sie die ungeheuerlichsten Dinge tun können, ohne schlechte Menschen zu sein. «Die Fähigkeit, sich selbst als keinen Missetäter zu betrachten und manchmal sogar fast tatsächlich keiner zu sein, obwohl man eine offensichtliche und unbestreitbare Abscheulichkeit begeht – das ist unsere moderne Not!»
Eine alarmierende Warnung durchzieht seine Werke: Ein Rückfall in die blutige Barbarei ist jederzeit möglich. Dostojewskij wollte durch sein Wort an der Heilung Russlands von der gefährlichen Krankheit mitwirken, die es befallen hatte.
Das Gespräch zwischen dem wiedergekehrten Christus und dem Grossinquisitor, die berühmte Legende, erzählt von Iwan Karamasow in den «Brüdern Karamasow», ist nicht nur ein Pamphlet gegen die verhasste katholische Kirche, sondern eine Zukunftsparabel: Alle Ideologien, die Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, Liebe versprechen, enden gleichermassen in einer gottlosen Welt. Bereits im 20. Jahrhundert hat die Menschheit die tragische Verwirklichung der besten sozialen Utopien erlebt.
Monolog von der Welterlösung
Mit Raskolnikow, mit seinen «Dämonen» wollte Dostojewski verdeutlichen, dass die von einer Ideologie besessenen «Weltverbesserer» unvergleichlich schrecklicher als banale Täter sind. Die beste Idee wird zum Greuel, wenn sie das Recht zum Verbrechen im Namen des Guten verleiht.
In einem Brief schrieb er: «Wenn mir jemand bewiesen hätte, dass Christus ausserhalb der Wahrheit steht, und wenn die Wahrheit tatsächlich ausserhalb Christi stünde, so würde ich es vorziehen, bei Christus und nicht bei der Wahrheit zu bleiben.» Dostojewski blieb bei seinem Christus, Russland folgte der anderen Wahrheit, der Wahrheit der «Dämonen».
Auf den Seiten seiner Romane bekämpft Dostojewski alle Ideen, Personen, Religionen, Nationen, soweit er sie für die Verwirklichung seiner „russischen Idee» gefährlich findet. Alle, die in den Rahmen dieses Konzepts aus irgendeinem Grund nicht hineinpassen, werden negativ dargestellt: Katholiken, Nihilisten, Polen, Juden, Türken, Deutsche. Wenn der heutige Leser beim Lesen der menschenverachtenden Beschreibungen Dostojewskis angesichts ihrer «political incorrectness» zuckt, wäre es keine erklärende Rettung, zu behaupten, dass seine Eskapaden gegen «Jidden» oder «schmutzige Polacken» damals nicht so beleidigend wirkten wie heute. Sie waren auch damals beleidigend genug. Und das war seine bewusste Geste. Das war sein Kampf, sein Gefecht, sein «heiliger Krieg». Das, was ihm am teuersten war, verteidigte er mit allen Mitteln seiner virtuosen Rhetorik vor seinen Feinden.
Der Hass Dostojewskis auf die Revolutionäre ist fast fanatisch: Der leidenschaftliche Glaube an die Revolution in ihrer Überhöhung zu einer Art monotheistischer Religion schliesst das Christentum in der Form der orthodoxen «russischen Idee“», also eine andere monotheistische Religion, aus, und umgekehrt. Das gleiche gilt für die messianische Religion des auserwählten Volkes – den Judaismus. Der Antisemitismus von Dostojewski ist nicht persönlich, sondern ideologisch.
In seinem grossen Welterlösungsmonolog in den «Dämonen», spricht Schatow dem Autor aus dem Herzen: «Ein wahrhaft grosses Volk kann sich niemals mit einer zweitrangigen Rolle innerhalb der Menschheit begnügen und nicht einmal mit einer erstrangigen, sondern unbedingt und ausschliesslich mit der ersten.» Diese Worte wiederholt Dostojewski auch in seinem Tagebuch.
Im jüdischen Messianismus erkannte Dostojewski eine Bedrohung für seine «russische Idee». Die Herausforderung liegt in der Frage: Wie können zwei von Gott auserwählte Völker koexistieren? Es kann nur eins geben.
Dieses Problem scheint für Dostojewski unlösbar zu sein, und so endet alles bei Ihm in der krampfhaften Verdammung der Juden bei jeder Gelegenheit. Aus einem Brief des Schriftstellers an seine Frau aus Bad Ems vom 9. August 1879: «Die Sachen sind schrecklich teuer, nichts kann man kaufen, alles Juden. Ich habe Schreibpapier gekauft und ganz widerliche Schreibfedern, gezahlt habe ich der Teufel weiss was. […] Hier sind alles Juden!» Dabei verwendet Dostojewski fast immer das grobe Schimpfwort «žid», das im Russischen im Gegensatz zu «jewrej» einen herabsetzenden, beleidigenden Charakter hat.
Katholische «Verräter»
In einem Brief an den Journalisten Arkadi Kowner schreibt der Schriftsteller: «Ich kann Ihnen sagen, dass ich keineswegs ein Feind der Juden bin und es nie gewesen bin! Aber die blosse Tatsache ihrer 40 Jahrhunderte alten Existenz, wie Sie es ausdrücken, zeigt, dass es sich um ein Volk handelt, das eine ausserordentlich starke Lebenskraft besitzt, die sich im Laufe seiner gesamten Geschichte nur in verschiedenen Formen des Staates im Staate manifestieren konnte.»
Bei seinen inbrünstigen Ausbrüchen gegen das Judentum überkommt einen unweigerlich die schleichende Vermutung, dass Dostojewski den Juden gegenüber etwas wie verborgenen Neid verspürte. Der Gedanke musste für ihn unerträglich sein: Wenn die Juden das auserwählte Volk sind, was sind dann wir, die Russen, «самозванцы»? «Самозванец» – Usurpator, Betrüger, so wurden in Russland die selbsternannten Zaren während der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert genannt.
Dostojewski hegt auch gegen andere Nationalitäten Groll, eigentlich gegen alle ausser dem «gottesfürchtigen russischen Volk».
Seit der polnischen Teilung gehörte ein grosser Teil Polens zu Russland. Dostojewski betrachtete Polen als den östlichen Aussenposten einer feindlichen westlichen Zivilisation. Die Tatsache, dass die katholische Kirche im bewaffneten Aufstand der Polen von 1863 eine führende Rolle spielte, war für Dostojewski wie Öl ins Feuer.
Die Rebellion der Polen gegen die zaristische Unterdrückung «für Eure und unsere Freiheit» verstand Dostojewski aus seiner Sicht: Auf seiner geopolitischen Karte lag Polen an der Grenze der slawischen und der europäischen Welten, für ihn war das ein Konflikt nicht der Nationen, sondern der Ideen. «Der Polenkrieg ist ein Krieg zwischen zwei Christenheiten – das ist der Beginn eines zukünftigen Krieges zwischen Orthodoxie und Katholizismus, also dem slawischen Genie gegen die europäische Zivilisation.» (Aus dem Notizbuch, 1863)
Der polnische Katholizismus war für Dostojewski besonders widerlich, da er dieses Volk als Bruder und Verräter in der slawischen Familie empfand. Für ihn war der polnische Aufstand ein Verrat an der gemeinsamen Sache, bei der Russland die Vereinigung der Slawen anstrebte.
In jedem Roman wird Dostojewski nicht müde, sich an den «Verrätern» zu rächen. Auf der Skala der widerlichen Charaktere liegen die Polen in Führung: «elende Polackchen», immer unreinlich gekleidet, Poseure, Betrüger, unverschämte Frechlinge, Hochstapler, falsche Adlige und ebenso falsche Leidtragende, die zwar mit allen anderen auf Polen, aber nicht auf Russland trinken. Den Gnadenstoss versetzt der Schriftsteller den Polen in den «Brüdern Karamasow»: Pan Musialovič und Pan Vrublevski sind so dumm, dass sie sich selbst in ihrem Zimmer des Gasthofs einschliessen.
Der grossrussische Patriotismus schlug damals auch viele Kritiker des Zarismus mit Blindheit. Nur Alexander Herzen, der Anführer der damaligen Opposition in Russland, unterstützte aus der Emigration den Unabhängigkeitskampf der Polen gegen das Zarenimperium. Als er den Aufstand der Polen begrüsste, verlor der revolutionäre Vordenker in der russischen «progressiven» Öffentlichkeit schlagartig seine enorme Popularität.
Gelegentlich bekamen auch andere Nationalitäten die Brüderlichkeit der «russischen Idee» von Dostojewski zu spüren. Zum Beispiel die Tataren. Im Jahre 1876 wurde zum ersten Mal erörtert, ob man die Tataren von der Krim vertreiben sollte, eine Frage, die in den Zeitungen heftig debattiert wurde. Im «Tagebuch eines Schriftstellers» (Juli–August 1876) nimmt Dostojewski Stellung dazu: «Kürzlich habe ich in den ‹Moskauer Nachrichten› einen Artikel über die Krim gefunden. Dort wird der kühne Gedanke formuliert, dass man die Tataren nicht schonen sollte, sie sollen abgeschoben werden, und an ihrer Stelle sollen Russen die Halbinsel kolonisieren, […] ein Gedanke, dem ich von ganzem Herzen zustimme. […] Auf jeden Fall, wenn die Russen nicht an ihre Stelle treten, werden die Juden mit Sicherheit die Krim angreifen und den Boden der Region zerstören.»
Unverzeihliche «Genfer Ideen»
Auch die Schweizer blieben nicht verschont. In Genf erlebte Dostojewski schwierige Zeiten, die Erniedrigung der Geldnot nach seinen katastrophalen Verlusten beim Roulette, die Tragödie des Todes: sein erstes Kind Sonja starb im Alter von drei Monaten. An diesem Tod gab Dostojewski der Schweiz die Schuld, in einem Brief schreibt er: «Und dazu kommt noch der Gedanke, dass Sonja ganz sicher leben würde, wenn wir in Russland gewesen wären!»
Besonders aber kann Dostojewski der Schweiz die so genannten «Genfer Ideen» nicht verzeihen. In seinem Weltbild verkörpert jedes Land bestimmte Ideen. Die Schweiz ist der Ort, wo die westeuropäische Geisteswelt ausgetragen und geboren wurde. Die «Genfer Ideen» werden im Roman «Der Jüngling» angeprangert, und der Autor steht vollkommen hinter seinen Charakteren. Das war, nach Dostojewski, der Irrweg der westlichen Zivilisation: Tugendhaftigkeit ohne Christus. Die grösste Täuschung der Menschheit sei die Idee, dass Gott und Religion für das Erlangen des Glücks entbehrlich sind. Der Mensch wird glücklich, frei und freundlich geboren, behauptete Rousseau. Dostojewski erwiderte: «Der Mensch ist nicht geboren, um glücklich zu sein. Der Mensch verdient sein Glück und immer durch Leiden.» (in den Materialien zu «Schuld und Sühne“)
Die Schweizer haben als Dankeschön für die Jahre, die der Schriftsteller in der Schweiz verbrachte, folgende Zeilen bekommen: «Oh wenn Sie nur eine Ahnung hätten, wie entsetzlich ein andauernder Aufenthalt im Ausland ist, wenn Sie eine Ahnung hätten, wie unehrlich, gemein unglaublich dumm und unentwickelt die Schweizer sind! Gewiss sind die Deutschen noch schlimmer, aber diese hier sind auch ihr Geld wert. Der Ausländer wird hier als reines Ausbeutungsobjekt angesehen, alle ihre Gedanken sind darauf ausgerichtet, wie sie einen betrügen und ausrauben können. Das Schlimmste ist aber ihre Unsauberkeit! Der Kirgise in seiner Jurte wohnt sauberer! […] Ich hasse sie aufs äusserste.» (Aus dem Brief an Majkow vom 4. Juli 1868 aus Vevey)
Nikolai Strachow, Freund und Biograf Dostojewskis, erinnerte sich in einem Brief an Lew Tolstoi: «In der Schweiz, in meiner Gegenwart, hat er den Diener so herumgeschubst, dass dieser beleidigt war und zu ihm sagte: ‹Ich bin ja auch ein Mensch›. Ich erinnere mich, wie verblüffend es mir zugleich war, dass dies dem Prediger des Humanismus gesagt wurde und dass die Vorstellungen der freiheitsliebenden Schweiz über die Menschenrechte hier aufgingen.»
Die berühmte Puschkin-Rede wurde zum letzten Versuch, seine «russische Idee» der breiten Öffentlichkeit näher zu bringen. Am 8. Juni 1880 wurde in Moskau ein Puschkin-Denkmal enthüllt. Dostojewskis Worte waren mehr als eine Rede aus feierlichem Anlass, sie wurden zu seinem Testament. Er ahnte nicht, dass dies sein letzter öffentlicher Auftritt war. Wenige Monate später starb er.
In der Puschkin-Rede wiederholt Dostojewski die Grundprinzipien seiner «russischen Idee»: Der Russe sollte in seiner russischen, allmenschlichen und allseienden Seele mit brüderlicher Liebe alle unsere Brüder umfangen, und er sollte vielleicht auch das letzte Wort der grossen allgemeinen Harmonie, der endlichen brüderlichen Eintracht aller Stämme nach dem evangelischen Gesetz Christi aussprechen.
Puschkin wird zur Galionsfigur der «russischen Idee», zum Symbol für das Sendungsbewusstsein der orthodoxen Nation, zur Verkörperung der besonderen russischen Fähigkeiten, die für die Erfüllung der christlichen Erlösungsmission unabdingbar sind: Allmenschlichkeit und – der kaum übersetzbare Begriff – «всемирная отзывчивость». Die Übersetzer haben es mit verschiedenen Varianten probiert: «allgemeine Resonanzfähigkeit und Allversöhnlichkeit», «universale Empfänglichkeit», «weltweite Offenheit und Versöhnungsbereitschaft». Dostojewski erklärte Puschkin zum Propheten des russischen Volksgeistes und entwickelte anhand von Werken Puschkins seine Idee von der allmenschlichen und allseienden Seele des russischen Menschen. Puschkins Genie sollte als ein wichtiger Beweis für die Auserwähltheit Russlands zur brüderlichen Rettung anderer Völker dienen.
Puschkin und die brüderliche Allweltlichkeit
Dostojewski wollte mit seiner Rede den ewigen Streit zwischen den Slawophilen und den Westlern beenden, sie miteinander versöhnen, indem er die beiden Parteien auf die gemeinsame Mission in Europa verpflichtete: «Ja, die Bestimmung des russischen Menschen ist zweifellos alleuropäisch und allweltlich. Ein wirklicher Russe, ganz Russe sein, heisst vielleicht nur (letzten Endes, ich bitte das zu unterstreichen) ein Bruder aller Menschen sein, ein Allmensch, wenn man so will. Unser ganzes Slawophilentum und Westlertum ist nur ein grosses, wenn auch historisch notwendiges Missverständnis. Dem echten Russen ist Europa und das Los des grossen arischen Stammes ebenso teuer wie Russland selbst, wie das Los seiner heimatlichen Erde, denn unser Los ist die Allweltlichkeit, und zwar keine mit dem Schwerte erkämpfte, sondern eine durch die Kraft der Brüderlichkeit und des brüderlichen Strebens nach einer Vereinigung der Menschen erworbene.»
Die Rede war ein fulminanter Erfolg, doch die Euphorie war nicht von langer Dauer. Iwan Turgenew, sein Intimfeind und Rivale, der Dostojewski nach dem Vortrag sogar mit Tränen in den Augen umarmt hatte, äusserte sich, kaum wieder in Paris, ganz anders über die Puschkin-Rede: «Lüge und Falschheit von Anfang bis Ende. […] Dostojewski hatte schlichtweg die russische Intelligenz verführt.»
Die Presse griff Dostojewski von links und rechts an, schon am nächsten Tag begannen die Kritiker seine Rede auseinanderzunehmen. Er musste im «Tagebuch eines Schriftstellers» seine russische Idée fixe verteidigen, doch seine Predigten fanden in Russland kein Gehör.
Für die gebildete Gesellschaft blieben Dostojewskis Visionen von einem orthodoxen Allmenschen und der brüderlichen Welterlösung bloss eine reaktionäre Utopie, und das analphabetische «Gottragende Volk» hat von dieser «russischen Idee» ohnehin nichts erfahren. Die Geschichte hat es mit Russland anders gemeint.
Sein idealer Held, dem die Zukunft Russlands gehört, ist der junge Aljoscha Karamasow, ein orthodoxer Klosternovize. Dostojewskis Bild des «schönen Russlands der Zukunft» (ein Meme von Alexei Navalny – «прекрасная Россия будущего») sollte allem Anschein nach ein riesiges endloses Kloster darstellen. Doch unausweichlich näherte sich die wirkliche Zukunft, und diese Zukunft sah wie ein riesiger endloser Gulag aus.
Mit seinen prophetischen Kassandrarufen versuchte Dostojewski Russland vor dem Abgrund zu bewahren, er wollte auch die liebsten Menschen, seine Familie, seine Frau, die Kinder vor der kommenden Katastrophe retten. Es ist ihm nicht gelungen. Das «gotttragende Volk», das Volk des «christlichen Geistes» vollbrachte die grausamste, gott- und sinnloseste Revolution.
Dostojewskis Witwe Anna Grigorjewna, die ihr ganzes Leben dem Nachlass ihres Mannes widmete, zog nach der Februarrevolution 1917 mit 70 Jahren auf Ihre Datscha bei Adler am Schwarzen Meer, um sich dort vor Unruhen in Sicherheit zu bringen. Ihr Gärtner erklärte, dass das ganze Gut jetzt ihm, dem «Proletarier», gehörte und verjagte die alte Frau. Anna Grigorjewna ging nach Jalta, wo die Familie ein Haus besass. Kurz vor Ihrer Anreise wurde das Haus ausgeraubt, zwei Frauen, die darin wohnten, wurden brutal mit einer Axt ermordet. Blutspritzer blieben auf der Marmorbüste des Schriftstellers im Flur zurück. Anna Grigorjewna war von diesem Ereignis so erschüttert, dass sie bald darauf im Krankenhaus starb.
Dostojewskis Sohn Fiodor war bei seiner geliebten Pferdezucht auf der Krim tätig. Sein Lebenswerk wurde zerstört. Er schaffte es nicht, das Land mit den Resten der Weissen Armee zu verlassen, er blieb auf der Krim, wurde von Tschekisten verhaftet, zur Erschiessung verurteilt. Ein Zufall rettete ihm das Leben, aber Krankheiten und Entbehrungen liessen ihm keine Chance: Er verhungerte 1922.
Dostojewskis Neffe, der Sohn seines jüngeren Bruders Andrei, wurde mit 66 Jahren verhaftet und in den Gulag geschickt.
Missbrauchte messianische Ideen
Bald nach der Machtergreifung entwickelten die Bolschewiki einen Plan für eine monumentale Propaganda. 1918 wurde auch ein Dostojewski-Denkmal in Moskau eingeweiht. Am Tag nach der Errichtung tauchte auf dem Denkmal eine Kreideinschrift auf: «Für Dostojewski – von dankbaren Dämonen».
Es könnte einen irritieren, dass die siegreichen Revolutionäre ihrem Erzfeind mit einem Monument huldigen. Doch seit der Zeit Puschkins war es für den weltlichen Zaren nicht mehr ausreichend, von Gott auserwählt zu sein, die Regierungsgewalt musste auch von der russischen Literatur geweiht werden, der zweiten heiligen russischen Macht. Deswegen bemühte sich das neue Regime um die Aufrechterhaltung des Gedächtnisses an die russischen Klassiker. Indem er überall Denkmäler für Dichter und Schriftsteller aufstellen liess, bemühte sich der Gefängnisstaat, in den Augen des Volkes rechtmässig zu sein. So schien es, als ob auch Puschkin und Tolstoi, Dostojewski und Gogol wenigstens symbolisch mit ihren marmornen Statuen, die Umwandlung des ganzen Landes in ein Arbeitslager hinter Stacheldraht befürworteten. Die rituelle Anbetung der grossen Humanisten warf einen Widerschein des Humanismus auf das Regime zurück.
Zaren (auch Generalsekretäre oder Präsidenten genannt) wechseln sich in Russland ab, doch die Klassiker bleiben, und jedes Regime versucht auf dem Weg der Ehrerbietung für die grossen Dichter von ihnen eine «geistige» Legitimation zu erhalten. Jedes neue Regime in Russland wird auch weiterhin Dostojewski und seine Idee von der messianischen Sendung Russlands missbrauchen, da alle Probleme, vor denen mein Land stand, auch heute ungelöst sind und noch lange auf ihre Lösung warten werden.
In den ernüchternden Jahren nach der Revolution von 1905 schrieb der russische Dichter und Philosoph Wjatscheslaw Iwanow: «Jetzt sehen wir alle, dass unsere Freiheitsbewegung – eben die Revolution von 1905 –, die plötzlich nach einem Auftakt zusammenbrach, in unserer damaligen Vorstellung hinsichtlich ihrer Aufgaben zu sehr überschätzt wurde. […] Als die unheimliche Stille der Reaktion eintrat, erkannten wir verwundert, dass die über uns waltenden Konstellationen unverändert geblieben waren. Die alten Sphinxe standen unerschüttert, als hätte der Schlamm der Überschwemmung kaum ihre Sockel zu überdecken vermocht.»
Die alten Sphinxe stehen auch im heutigen Russland unerschüttert, als hätte der Schlamm der Überschwemmung kaum ihre Sockel zu überdecken vermocht.
Nicht die russischen Bauern haben die russische Allmenschlichkeit in den Westen gebracht, sondern die russischen Schriftsteller.
Die grandiosen Ziele, die Dostojewski mit seinen Romanen erreichen wollte, hat er verfehlt. Seine Visionen blieben Utopien. Wie Gogol scheiterte er an Russland und an sich selbst. Er war kein «hoher Bürger eines himmlischen Reiches».
Doch auch aus seinem Scheitern wird am Ende wieder nur eins: Weltliteratur.
Der 17-jährige Fjodor Dostojewski schrieb in einem Brief an seinen Bruder Michail: «Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muss es ergründen, und wenn man sein ganzes Leben darauf verwendet, so hat man doch keine Zeit vergeudet; ich beschäftige mich mit diesem Geheimnis, denn ich will ein Mensch sein.»
* Michail Schischkin wurde 1961 in Moskau geboren. Er studierte Germanistik und Anglistik an der Staatlichen Pädagogischen Universität in Moskau. Er arbeitete als Lehrer, Journalist und Übersetzer. Seit 1995 lebt er mit seiner Familie in der Schweiz. In Russland wurde er mit den drei wichtigsten Literaturpreisen ausgezeichnet: 2000 mit dem Booker-Preis, 2005 mit dem Nationalen Bestseller-Preis, 2006 und 20011 mit dem Bolschaja-Kniga-Preis.
Schischkin hat sich in den letzten Jahren zunehmend kritisch über die politische Entwicklung in Russland unter Präsident Putin geäussert. Er ist Mitglied des Schweizerischen Schriftstellerverbandes, des Deutschschweizer PEN-Zentrums und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Zu seinen wichtigsten auf Deutsch erschienen Büchern zählen:
- Die russische Schweiz. Ein literarisch-historischer Reiseführer, Petit Lucelle Verlag, Kleinlützel 2020
- Montreux–Missolunghi–Astapowo. Auf den Spuren von Byron und Tolstoi, eine literarische Wanderung von Montreux nach Meiringen. Rotpunktverlag Zürich, 2012
- Die Eroberung von Ismail. Roman, München 2017
- Venushaar. Roman, München 2012
- Fritz Pleitgen, Michail Schischkin, Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – eine Annäherung, Ludwig Verlag, München 2019
- Ein Buchstabe auf Schnee. Drei Essays. Robert Walser, James Joyce, Wladimir Scharow. Petit Lucelle, Publishing House, Kleinlützel 2019