Portugal hat in jüngerer Zeit keine Terroranschläge erlebt und gilt als ein friedliches Land. Ein Doppelmord im Zentrum der Ismailiten in Lissabon, begangen von einem afghanischen Flüchtling, wirft plötzlich aber Fragen auf. Zwar schloss die Kripo einen terroristischen Hintergrund aus. Aber wie steht es um die Aufnahme von Flüchtlingen?
Tatort: das Zentrum der Ismailiten, eine weltweit verzweigte schiitische Gemeinde mit dem Prinzen Aga Khan IV. als spirituellem Oberhaupt, im Norden von Lissabon. Mutmasslicher Täter: ein 29 Jahre alter Flüchtling aus Afghanistan. Seine Opfer: zwei portugiesische Frauen, die in diesem Zentrum tätig waren und die er am Dienstagmorgen mit einem Messer erstach, ein Mann, der Stichwunden erlitt – und nicht zuletzt die Öffentlichkeit des als sicher geltenden Landes, die unter Schock steht.
Portugal hat in jüngerer Zeit keine Terroranschläge erlebt, anders als andere Länder in Westeuropa. Umso grösser ist die Sorge, dass sich das ändern könnte. Nicht zuletzt Portugals Ruf als sicheres Land dürfte dazu beigetragen haben, dass das Imamat der Ismailiten – eine Gemeinde mit weltweit rund 15 Millionen Mitgliedern mit friedlichen und humanitären Zielen – im Jahr 2015 beschloss, just Lissabon zu seinem weltweiten Sitz zu machen.
Kripo schliesst Terrorismus aus
Es sei zu früh, um Schlüsse zu ziehen, meinte Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa nach einem Besuch im Zentrum der Ismailiten am Dienstag. Es sei aber klar, dass dies «ein isolierter Akt» gewesen sei, begangen aus psychologischen Motiven von einer Person in einer spezifischen persönlichen und familiären Situation. Vor Medienleuten sagte der Direktor der Kriminalpolizei, Luís Neves, am Mittwochmorgen, dass es keine Hinweise auf eine Radikalisierung des Täters gebe. Er schloss einen terroristischen oder religiösen Hintergrund aus und gab sich davon überzeugt, dass der Afghane einen psychotischen Ausbruch erlitten und dieses gemeine Delikt begangen habe. Als der Kripo-Chef sprach, stand die Durchsuchung der Wohnung des Afghanen aber noch bevor.
Eine Tragödie in der Familie
Dieser war Ende 2021 nach Portugal gekommen, auf der Grundlage eines portugiesisch-griechischen Protokolls. Sein Weg von Afghanistan nach Portugal führte über ein Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos, wo seine Frau bei einem Feuer den Tod fand. Er lebte als alleinerziehender Vater von drei Kindern im Alter von neun, sieben und vier Jahren im Lissabonner Vorort Odivelas. Von Lesbos aus hatte er in einem Video, das TV-Sender zeigten (), über fehlende Perspektiven und fehlende Unterstützung geklagt. Er gab sich in fliessendem Englisch als Telekom-Ingenieur zu erkennen. Laut Medienberichten hatte er in Portugal eine psychiatrische oder psychologische Behandlung begonnen, aber abgebrochen.
Im Zentrum der Ismailiten lernte er Portugiesisch. Während des Unterrichts am Dienstagmorgen soll er rebelliert und durch Lärm andere Personen im Gebäude auf sich aufmerksam gemacht haben. Er habe, wie es heisst, erst einen Mann mit einem Messer verletzt, sei dann in den administrativen Bereich vorgedrungen und habe zwei Frauen erstochen. Es handelte sich dabei um die 49-jährige Farana Sadrudin, die für Prozesse der Integration mit zuständig war, und die 24-jährige Mariana Jadaugy, die als freiwillige Helferin tätig war. Unter Einsatz von Schusswaffen gelang es der Polizei, die schnell zur Stelle war, den mutmasslichen Täter zu fassen. Er erlitt dabei Verletzungen im Bauch und an einem Bein und kam zur Operation in ein Spital.
Zu wenig Unterstützung für Flüchtlinge
Gegenüber einem Radiosender meinte der Präsident des Observatoriums für Sicherheit, organisiertes Verbrechen und Terrorismus, Jorge Bacelar Gouveia, am Dienstag, dass noch geklärt werden müsse, ob dies ein Terrorakt gewesen sei. Einen solchen Akt schloss Cátia Moreira de Carvalho, an der Universität Porto tätige Forscherin in Fragen des Kampfes gegen gewaltsamen Extremismus, gegenüber der Tageszeitung «Público» dagegen aus. Sie sah Defizite bei der Unterstützung, die Flüchtlinge in Portugal bekämen. Eine grössere und vielfältigere Unterstützung könne nötig sein, fand die Forscherin. Sie warnte zugleich vor einer politischen Ausschlachtung dieses Vorfalls und von einer Assoziierung von Einwanderung und Terrorismus.
Diese Ausschlachtung liess aber nicht auf sich warten. Schon wenige Stunden nach der Tat reagierte André Ventura, Gründer und Vorsitzender der rechtsextremen Partei Chega, auf Twitter. Er sah in dem Vorfall das Ergebnis einer «Politik der offenen Türen ohne jegliche Kontrolle». Für das Blut der Opfer sei der afghanische Verbrecher verantwortlich, dieses sei nun auf den Händen der Regierung von António Costa – womit Ventura auf den sozialistischen Ministerpräsidenten zielte.
Breites Echo für Rechtsextremisten
Ventura fand damit in den Medien wieder einmal breites Gehör, so wie vor einigen Wochen, als er in einem Fernsehsender mehrere Minuten lang in der Frage des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in der Kirche zu Wort kam. Was macht Ventura zum Medienstar? Vielleicht sind seine Ausfälle und seine Rufe nach einer härteren Gangart gegenüber Kriminellen – inklusive chemischer Kastration für Sexualstraftäter und lebenslanger Haft für gewisse schwere Delikte – nicht nur schlagzeilenträchtig, sondern berühren ein breiteres soziales Unbehagen. Wenn heute das Parlament zu wählen wäre, kämen die Parteien des bürgerlichen und rechten Lagers zusammen auf mehr Stimmen als die Linke. Gegen eine Verständigung mit Chega gibt es bei anderen Parteien rechts der Mitte aber Antikörper. Vielleicht hofft Chega, dank eines starken Echos in den Medien leichter salonfähig zu werden.