Im deutschen „Superwahljahr“ 2017 mit vier Entscheidungen (drei Landtage, ein Bundestag) hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands nach der herben Niederlage am 26. März m Saarland nun bereits das zweite Debakel erlebt: Im nördlichsten Bundesland, Schleswig-Holstein, fegten die Wähler den bisherigen Ministerpräsidenten Torsten Albig mit seiner SPD und die von ihm geführte Dreier-Koalition mit Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband (SSV) – der mit einem Sonderstatus ausgestatteten Partei der dänischen Minderheit – geradezu weg. War die Niederlage an sich schon bitter genug, so dürften die Genossen jedoch zwei Dinge besonders schmerzen: Erstens, dass der 43-jährige Wahlgewinner Daniel Günther (CDU) bis vor wenigen Wochen noch völlig unbekannt war. Und zweitens, dass der so genannte Schulz-Effekt in der Öffentlichkeit schon wieder wirkungslos verpufft zu sein scheint.
Nervosität an Rhein und Ruhr
Natürlich brüten in den diversen Parteizentralen die Strategen über den Fragen nach den Ursachen für Sieg und Niederlage. Allerdings bleibt dieses Mal nicht viel Zeit für tief grabende Analysen. Vor allen Dingen nicht bei den Verlierern. Denn bereits am kommenden Sonntag findet eine weitere Landtagswahl statt. Und zwar nicht irgendwo, sondern in Nordrhein-Westfalen – dem bevölkerungsstärksten und nicht zu Unrecht als „Herzkammer der SPD“ bezeichneten Bundesland. Man muss nicht viel Fantasie aufbringen, um sich die Unruhe und Nervosität vorzustellen, die in diesen Tagen in den Düsseldorfer Schaltstellen von SPD und CDU herrscht. Wird die in Saarbrücken ausgelöste und in Kiel mächtig gewordene „konservative“ Welle nun vielleicht auch das Rheinland und Westfalen erreichen und womöglich die – ohne Frage populäre – sozialdemokratische Regierungschefin Hannelore Kraft samt ihrem rot/grünen Bündnis abräumen?
Vor noch nicht allzu langer Zeit hätten die meisten politischen Beobachter über diese Frage nur mitleidig gelächelt. Wenn schon nicht so sehr die Partei, so konnte sich doch die Ministerpräsidentin bis weit in die bürgerlichen Kreise hinein einer grossen Beliebtheit erfreuen. Man nahm ihr einfach die Ernsthaftigkeit beim Ausfüllen der Rolle als „Kümmerin“ und „Landesmutter“ ab. Doch inzwischen sprechen die Umfragezahlen eine andere Sprache. Nicht nur sind die NRW-CDU und ihr eher spröder Spitzenkandidat Armin Laschet bedrohlich nahe an die SPD herangerückt. Zugleich rutschte der bisherige Bündnispartner – die Grünen – in der Wählergunst immer tiefer und muss mittlerweile sogar um den Wiedereinzug in den Landtag fürchten. Auf der anderen Seite erfreut sich der liberale Spitzenmann Christian Lindner sprunghaft zunehmenden Zuspruchs für seine FDP.
Schulz-Zug auf dem Abstellgleis?
Natürlich sind Landtags- (wie auch Kommunal-)Wahlen in erster Linie Tests bei den Bürgern auf Zustimmung oder Ablehnung regionaler Entwicklungen und Entscheidungen. Jedenfalls sollte das so sein. Allerdings hat es sich längst schon eingebürgert, nahezu jedes Votum als eine Art Vorläufer für die Stimmung auf nationaler Ebene zu werten. Und das könnte in einem Jahr wie diesem durchaus auch zutreffen. Deshalb ist ja auch sofort ein Zusammenhang zwischen dem Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag in Kiel und dem bevorstehenden Urnengang am kommenden Sonntag in Düsseldorf hergestellt worden. Sowohl im Norden an Schlei und Eider als auch im Westen an Rhein und Ruhr schienen noch bis vor wenigen Monaten die Machtverhältnisse fest betoniert zu sein. Ausserdem kam es in der Vergangenheit ohnehin äusserst selten vor, dass ein Amtsinhaber (ob männlich oder weiblich) abgewählt wurde. Diese „Regel“ bestätigte sich vergangenes Jahr ja auch in Rheinland-Pfalz bei Malu Dreyer (SPD) und danach an der Saar mit Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU).
Warum, so lauteten die Überlegungen im Berliner Willy-Brandt-Haus, sollten sich denn dieser „Tradition“ ausgerechnet die bodenständigen Menschen in „Schleswig-Holstein, meerumschlungen“ (inoffizielle Landeshymne) widersetzen? Zumal doch vor einem Vierteljahr auch noch mit dem einstigen Europaparlaments-Präsidenten Martin Schulz ein Mann mit scheinbar messianischen Fähigkeiten an die Spitze der alten und verdienstvollen SPD gerückt war. Mit 100 Prozent hatten ihn die Parteitagsdelegierten auf den Schild gehoben – und dabei möglicherweise gar nicht gemerkt, welche Bürde sie dem Mann aus der Gegend von Aachen aufluden. Gut, die Niederlage von Saarbrücken konnte er noch als nicht die Seine wegdrücken. Beim Debakel von Kiel ist das nicht mehr möglich. Und sollte Hannelore Kraft am Sonntag in Düsseldorf scheitern, bliebe ganz sicher vom kometenhaften Aufstieg von Schulz nichts mehr übrig. Jedenfalls nichts von seinem Anspruch, SPD-Lokomotive für die Bundestagswahl im September zu sein. Schliesslich ist Nordrhein-Westfalen nicht zuletzt auch Schulz-Land. Fraglos hat sein Zug in den vergangenen Wochen deutlich an Fahrt verloren. Nicht wenige sehen ihn bereits auf einem Abstellgleis.
Ringen um die politische Mitte
Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Blicke der Öffentlichkeit zumeist auf das Duell der beiden „Grossen“ konzentrieren. Zumal diese auf Bundesebene nun auch schon eine oft als übermässig lang empfundene Zeit einer Grossen Koalition verbunden sind – in einem Bündnis, in dem sich (gewiss nicht zu Unrecht) hauptsächlich der Juniorpartner SPD häufig unterbewertet sieht. Beide Seiten möchten diesen Zustand eigentlich beenden. Aber dazu benötigen sie, ihrerseits, Partner. Und zwar nicht nur in Berlin, sondern auch in den Ländern. Also sind wir wieder in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen. Immerhin, eine positive Wirkung haben die jüngsten Wahlkämpfe gezeitigt: Die Beteiligung an den Urnengängen hat (im Vergleich zu früheren Jahren) wieder erkennbar zugenommen. Gleichzeitig hat das Ringen um die politische Mitte das öffentliche Interesse an dem Geschehen nachgelassen, das sich links und rechts an den Rändern vollzieht. Zumindest im Westen der Bundesrepublik. Beispielsweise rutschte die aus der einstigen DDR-Staats- und Einheitspartei SED hervorgegangene „Linke“ – bei der März-Wahl im Saarland noch mit 12,9 Prozent im Rennen – jetzt auch in Schleswig-Holstein unter die für den Parlamentseinzug notwendige 5-Prozent-Hürde. Das könnte ihr auch in NRW blühen. Nicht ganz so tief fiel die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“ (AfD); aber die Tendenz weist auch dort erfreulich deutlich nach unten.
Interessant hingegen ist die Entwicklung bei der FDP und den Grünen. Beide werden auf jeden Fall für eine Regierungsbildung in Kiel benötigt. Denn selbst mit dem Wahlverlierer Albig wäre zahlenmässig eine Mehrheit herzustellen, wenngleich alle Zeichen auf eine von der CDU geführte Koalition deuten. Besonders das Abschneiden der Grünen an der Förde hat manchen Beobachter die Augen reiben lassen. Denn, im Gegensatz zum, teilweise rapiden, Abwärtstrend in fast allen anderen Bundesländern (von Baden-Württemberg abgesehen) und auch auf nationaler Ebene konnte die einstige Sonnenblumen-Partei in Schleswig-Holstein ihre bereits vor fünf Jahren errungenen fast 13 Prozent verteidigen. Und die FDP, die das Todesglöckchen schon oft hat läuten hören, erlebt im Moment offensichtlich wieder einmal eine Auferstehung.
Charismatische Figuren
Das ist, keine Frage, in erster Linie zurückzuführen auf bestimmte Personen. Auf charismatisch Figuren, die – sei es durch Charme, Intelligenz, sei‘s aber auch erkennbare Gradlinigkeit – Menschen für sich einzunehmen und von ihrer Sache zu überzeugen vermögen. Beispiel: Robert Habeck, der „grüne“ Landesminister für Umwelt und Energie in Kiel. Vor einiger Zeit unterlag er bei der Urwahl um die Bundesparteiführung mit 75 (!) Stimmen dem Schwaben Cem Özdemir. Das tut den Delegierten vermutlich jetzt ziemlich leid. Denn in Schleswig-Holstein hatte er weit höhere Zustimmungs- und Beliebtheitswerte als selbst der sozialdemokratische Ministerpräsident. Das Bundesland im Norden ist das einzige in Deutschland, dessen Energiegewinnung bereits zu 100 Prozent auf „Erneuerbare“ umgestellt ist. An der Saar dagegen waren die Grünen unlängst aus dem Landtag verschwunden. Und ob sie (Stichwort: Bildung, Umwelt) in Nordrhein-Westfalen den Wiedereinzug schaffen, steht gegenwärtig jedenfalls noch in den Sternen.
Beispiele: Christian Lindner und Wolfgang Kubicki. Beide FDP. Der eine in Nordrhein-Westfalen, der andere in Schleswig-Holstein. Beide im Prinzip „Unikate“. Alle zwei sind Meister der Selbstdarstellung, bei der indes das Beiwort „Liberale“ immer mit präsent ist. Der eine wie der andere weiss, dass der freidemokratische Aufschwung im Norden wie im Westen und ebenso im Bund ohne sie nicht stattgefunden hätte. Mit ihnen hat die FDP aktuell eine Position so stark wie schon lange nicht. Kubicki wird, ohne Zweifel, in Kiel die liberalen Bedingungen diktieren. Und Lindner zögert gewiss keinen Augenblick, bei Bedarf dasselbe auch in Düsseldorf zu tun – gleichgültig, wer dort am kommenden Sonntag als Sieger hervorgeht.