Die Welt um uns herum ändert sich mit betäubender Geschwindigkeit. Die Wirtschaft versucht, dieser Herausforderung mit ihrer Forderung nach zerstörerischer Innovation zu begegnen. Nur die Wirtschaft?
„Disruptive innovation“ – was für ein Begriff! Krachend fallen die Innovationen von gestern zusammen, und auf das entstehende Trümmerfeld werden gemäss dem Motto „Was kümmern mich meine Erneuerungen von gestern?“ Konstrukte aus der Welt von morgen gesetzt. Und da entstehen auch Fragen: Brauchen wir wirklich AirBnB, Uber oder selbstfahrende Autos – umstrittene Innovationen, die zum Teil erklärungsbedürftig sind? Muss wirklich alles subito verfügbar sein? Der elektronische Handel verzeichnet immer höhere Umsätze, und neue Transportkanäle wie der Einsatz von Drohnen bringen die Ware immer schneller zu ihrer Käuferschaft.
Antiquitäten wie das Zwei-Parteien-System
All diese temporären, wettbewerbsorientierten Errungenschaften tauchen im Konsumsektor auf. Ist das nicht seltsam? Nein, denn dort erwarten wir diese Art von Neuerungen inzwischen auch, während wir in anderen Bereichen offenbar der Meinung sind, keine radikalen Veränderungen nötig zu haben.
Unsere politischen Systeme – seien es Republiken oder Demokratien, sei es das alte Rechts-Links-Muster, seien es Antiquitäten wie das Zwei-Parteien-System mit einer Einrichtung wie dem Electoral College – werden noch immer eins-zu-eins angewandt, auch wenn sich die Umgebung, in der sie zur Anwendung gelangen, drastisch geändert hat.
Absurd
Das allerdings hat sich nun in mehr als einer Situation als grundfalsch herausgestellt. Systeme sind keine Konsumgüter, die einen sofortigen Return-on-investment zeitigen, sondern weitgehend abstrakte Ideen, die je nach Umfeld und Epoche zu konkreten Handlungen führen. Je nach Entwicklung des Umfelds und Zeitgeist kann das entweder Sinn ergeben oder total überholt sein. So sinnvoll zum Beispiel das amerikanische Zwei-Parteien-System mit seinem Electoral College einmal gewesen sein mag, so grotesk ist es heute mit seinem „Winner-takes-all“-Mechanismus, wenn es dazu führt, dass man zwar eine halbe Million mehr Stimmen als der Gegner hat, aber trotzdem die Wahl verliert.
So begreiflich das Rechts-Links-Denken im industriellen Zeitalter gewesen ist, so absurd ist es heute, wenn es nicht mehr darum geht, ob jemand für das ehrenvolle Amt des Bundespräsidenten der/die richtige Persönlichkeit ist – kompetent, integer und sogar beim Volk beliebt –, sondern stärker ins Gewicht fällt, dass er von der „falschen“ Partei vorgeschlagen worden ist.
Nötige neue Denkansätze
Die Politik bietet ein neues und grosses Spielfeld, auf dem disruptive Innovation ausprobiert werden könnte und müsste. Noch nie hat es solch eine Dichte und solch eine Parallelität von Problemfeldern gegeben wie heute; wenn wir uns nicht mit neuen An- und Einsichten schnellstens daran machen, alte Lösungsrezepte mit neuem, ungewöhnlichem, notfalls sogar disruptivem Denken zu ersetzen, wird es uns Europäern wahrscheinlich ähnlich ergehen wie den demokratisch Gesinnten auf der anderen Seite des Atlantiks.
Radikale Veränderungen wie das „Digital Age“ oder die Globalisierung erfordern radikal neue Denkansätze. Und radikal heisst, sich zu den Wurzeln hinunterzuarbeiten, zu überlegen, wo und wann überholte Denkweisen entstanden sind und wie brauchbar sie heute oder morgen noch sein können.
Das erfordert eine gewisse Anstrengung: Wer Neues will (und braucht), muss Neues denken lernen – „ohne Netz und doppelten Boden“, aber überzeugt von der Wichtigkeit ständiger Erneuerung. Doch wie sagt es der Volksmund so treffend: „Das einzige menschliche Wesen, das Neues willkommen heisst, ist ein Baby mit nassen Windeln.“