Ein Putsch in Kiew, ein Gegenputsch auf der Krim und die Soldaten Gewehr bei Fuss - die Politiker spielen wieder auf dem Klavier der nationalistischen Ressentiments. Die Medien machen mit: im Westen mit unreflektierter Hetze gegen Putin und in Russland mit vaterländischen Parolen.
Es gab bereits einen Krimkrieg. Er dauerte von 1853 bis 1856. Damals ging es um die Aufteilung des kränkelnden Osmanischen Reiches. 100.000 Franzosen, 35.000 Briten und 14.000 Italiener aus dem Königreich Sardinien landeten auf der Halbinsel, um die Russen zurückzudrängen. Den schwersten Tribut zahlten die Einheimischen, von den Russen Krimtataren genannt, die entweder umkamen oder in die Türkei flüchteten. Von einer Million Türkischstämmigen verblieben nur 100.000 auf der Krim. Heute ist ihre Zahl wieder auf rund 280.000 angewachsen, trotz der von Stalin während des Zweiten Weltkriegs angeordneten Massendeportation nach Zentralasien.
Kornkammer
Jetzt geht es um die Erbschaft der verblichenen Sowjetunion. Die Ukraine – 46 Millionen Einwohner, fast doppelt so gross wie Deutschland – ist das Filetstück. Hitler sah in der Ukraine mit ihrer berühmten schwarzen Erde die Kornkammer seines Dritten Reiches. Die Ukraine in ihren heutigen künstlichen Grenzen ist kein homogener Staat. Langsam wird auch den oberflächlichen Beobachtern klar, dass der von den ehemals österreichischen und polnischen Landesteilen ausgehende ukrainische Nationalismus nicht von allen Bürgern geteilt wird.
Die massgeblichen Westmächte haben sich mit ihrer offenen Unterstützung der Demonstranten am Maidan-Platz auf ein Abenteuer eingelassen, in dem sie jetzt mit abgesägten Hosen dastehen. Sie haben nur wenig Druckmittel gegen Russland und ihre Strategie ist zumindest vorläufig gescheitert. Über die Rechtmässigkeit des Regimewechsels in Kiew und der russischen Machtübernahme auf der innerhalb der Ukraine autonomen Krim lässt sich streiten, doch die Fakten sind klar. So wie Russland die Westukraine nicht besetzen kann, kann die Nato nicht die Ost- und Südukraine erobern. Ausser einem Krieg grösseren Ausmasses gibt es nur eine Wahl: Entweder wird das Land aufgeteilt oder man findet eine diplomatische Lösung.
Unbedarfte deutsche Politiker
Es ist erstaunlich, wie unbedarft vor allem deutsche Politiker in diesen Konflikt hineinschlitterten. Da wird ein Boxweltmeister von der CDU/CSU und der Konrad-Adenauer-Stiftung zum künftigen ukrainischen Präsidenten aufgebaut. Noch-Aussenminister Guido Westerwelle posierte mit Witali Klitschko auf dem Maidan-Platz, der zu einem Tummelplatz westlicher Prominenz wurde. Die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton bietet sich den Ukrainern als Vermittlerin an, obwohl sie in dem innenpolitischen Konflikt klar Partei ergriff. Die Aussenminister Frankreichs, Deutschlands und Polen brachten die Regierung und die Opposition an einen Tisch. Ihr Vertrag, der unter anderem Neuwahlen vorsah, wurde aber bereits Tags darauf durch den Aufruhr der Strasse zur Makulatur.
Die Ukraine liegt an einer geopolitischen Nahtstelle. Westliche Strategen rechneten offensichtlich damit, dass Wladimir Putin wie seine Amtsvorgänger Michail Gorbatschow und Boris Jelzin schnell einknicken würde. Gorbatschow beklagte sich in zahlreichen Interviews und seinen Memoiren darüber, dass der Westen seine Zusagen brach. In den Verhandlungen über den Abzug der Sowjetarmee aus der DDR und den anderen Ostblockstaaten hatten die USA, Frankreich und Grossbritannien zugesichert, dass diese Gebiete nicht in die Nato eingegliedert würden. Gorbatschow war so gutgläubig, diese Verpflichtungen nicht schriftlich festlegen zu lassen. Sein Nachfolger Jelzin liess sich in allen Belangen vom Westen über den Tisch ziehen. An seinem Lebensende ging es ihm bloss noch darum, das Vermögen seiner Familie zu mehren.
Putin kalkuliert knallhart
Putin hingegen sieht sich als Wahrer der Grösse Russlands. Und er kalkuliert knallhart. Das musste der aus New York nach Tiflis katapultierte und mittlerweile abgewählte georgische Präsident Micheil Saakaschwili 2008 erfahren, als er glaubte, die abtrünnige Region Süd-Ossetien mit amerikanischen Waffen und israelischen Instruktoren zurückholen zu können. Jetzt erlebt die Welt, dass Russland die strategisch wichtige Halbinsel Krim, die Chruschtschow 1954 der Ukraine „schenkte“, nicht kampflos der Nato überlässt.
Die Russen stellen auf der Krim mit 60 Prozent die Bevölkerungsmehrheit. Die Ukrainer machen 25 Prozent aus, die Turkvölker 15 Prozent. Sewastopol ist seit Jahrhunderten der Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte. Jetzt kreuzen Kriegsschiffe der USA in dem Gewässer. Durch die langjährige Mitgliedschaft der Türkei und den Beitritt Rumäniens und Bulgariens kontrolliert die „Nordatlantische Vertragsorganisation“ das Schwarze Meer. Um eine runde Sache zu machen, fehlen der Nato nur mehr die Küsten der Ukraine und Georgiens.
"Unglaublicher Aggressionsakt"
Dass die USA konkrete Expansionspläne verfolgen, bestätigte erst vergangene Woche Aussenminister John Kerry. Er forderte den georgischen Ministerpräsidenten Irakli Garibaschwili bei einem Treffen in Washington auf, Georgien „in Europa und der Nato zu integrieren“. Die USA würden eine „euro-atlantische Vision“ des Landes unterstützen, versprach Kerry. Die neue georgische Regierung ist aber im Moment bemüht, das Verhältnis mit Russland zu entspannen.
Am Sonntag nannte Kerry das russische Eingreifen auf der Krim „einen unglaublichen Aggressionsakt“. Er kündigte die Sperrung russischer Guthaben in den USA, ein Handels- und Investitionsembargo, Visumbeschränkungen und den Boykott des für Juni in Sotschi geplanten Gipfeltreffens der acht wichtigsten Wirtschaftsmächte an. Das sind aber zweischneidige Schwerter, die auch die amerikanische Wirtschaft schädigen würden. Die Russen sitzen derweil ruhig an der Quelle der Erdgaslieferungen für die Ukraine und Westeuropa.
Säbelrasseln
Nach den Worten von Barack Obama haben die USA Schritte eingeleitet, um Russland auf dem internationalen Parkett zu „isolieren“. In dieses Schema fällt die Einberufung des Weltsicherheitsrats, der sich übers Wochenende mit den Ereignissen in der Ukraine beschäftigte. Ein Ergebnis im Sinne Washingtons ist nicht zu erwarten, weil Russland jede Resolution durch sein Veto blockieren kann. Bei den Diskussionen hat sich auch herausgestellt, dass etliche Ratsmitglieder Verständnis für die Haltung Russlands aufbringen. Die USA gehören hinsichtlich einer Verurteilung von Militärinterventionen im Ausland nicht zu den glaubwürdigsten Advokaten.
Die Lage ist gefährlich. Im Moment übertönen die Scharfmacher alle anderen Stimmen. Doch das Säbelrasseln erinnert an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, den niemand wirklich wollte. In den Medien gewinnt eine objektivere Darstellung der Ereignisse an Gewicht. Putin hat am Sonntag den telefonischen Vorschlag Angela Merkels angenommen, eine Fact-Finding-Mission sowie eine Kontaktgruppe zu bilden, möglicherweise im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die derzeit von der Schweiz präsidiert wird. Das wäre der Königsweg, wieder Stabilität in der Region herzustellen.