Die deutsche Bertelsmann Stiftung und internationale Technologiekonzerne drängen in die Bildung. Von ihrer „Googlifizierung“ ist gar die Rede. [1] Gute Geschäfte mit milliardenschwerem Gewinn locken. Das Ziel ist klar: mehr Digitalisierung. Je früher, desto besser. Dass die OECD dabei ist, versteht sich. Eines verdrängt man in den kantonalen Bildungsdirektionen allzu gerne: Die OECD ist kein Klub zur Kontinuität Humboldt’scher Bildungstradition, sondern die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Im Zentrum steht der Homo oeconomicus
Nun spricht nichts gegen ökonomische Kooperation und Entwicklung. Heikel wird es erst, wenn das Ökonomische zum dominanten Kriterium des Unterrichts wird. Im OECD-PISA-Zeitalter untersteht eben vieles der Logik und dem Kalkül der Ökonomie. Der Mensch muss marktfähig und marktförmig sein. Die PISA-Studie selbst zielt ja auf den Homo oeconomicus. Es geht um die materiellen Bedingungen des Lebens, um Nutzen und Profit. In diesem Sinn misst der Test bei 15-Jährigen jene Kenntnisse und Fähigkeiten, „die für das tägliche Leben relevant [sind]“. [2]
So fordert es die OECD. Darum ist es nichts als konsequent, dass PISA einen reduktiven Kompetenzbegriff ins Zentrum stellt und nicht von Bildung spricht. Der Ausdruck „Bildung“ passt nicht in diese Konzeption. Das war einmal. Entsprechend verfasst ist auch der Lehrplan 21 mit seinen mehr als 400 Grund- und den über 2’000 Unterkompetenzen. Alles wird wichtig. Aber wird es auch wirksam?
Alles ist der Feind von etwas
Die Volksschule überfordert sich selbst. Sie muss integrieren und individualisieren, sozialisieren und kultivieren, Frühenglisch und Mittelfrühfranzösisch lehren, die hochdeutsche Sprache schulen und mathematisches Können entwickeln. Sie soll in Themen von Natur, Mensch und Gesellschaft einführen, Musisches und Kreatives fördern, ethisches Verhalten stärken und die Kinder zur Freude an der Bewegung ermutigen – und überdies das Lernen trainieren. Darum sind die Lehrpläne dichter und die Lehrmittel dicker geworden. Doch wenn Prioritäten fehlen und das Wichtige nicht mehr vom Unwichtigen geschieden wird, verliert alles an Bedeutung.
Systemversagen im Kernfach Deutsch
Und fürs Automatisieren zentraler Lernvorgänge bleibt kaum Zeit. Der Geist des Übens, wie es der Philosoph Otto Friedrich Bollnow [3] nannte, und sein Bezug aufs Können sind mit einem Bannstrahl belegt und vom Stoffdruck des Durchnehmens verdrängt. Dass jeder Fünfte unserer 15-Jährigen die Schule ohne die notwendigen sprachlichen Grundkenntnisse verlässt, ist schlicht ein „Systemversagen“, wie es Stefan C. Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, auf den Punkt bringt. Er fügt bei: „Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von 19 Schülern können in der Schweiz bei Schulabschluss zwei bis drei Schüler pro Klasse nur unzureichend schreiben und lesen.“
Computernutzung als glorifizierter Hoffnungsträger
Was Zeitdruck und Stoffmenge verhindern, soll nun die Digitaltechnik ermöglichen und die mangelhaften Kompetenzen verbessern. Und wie bei einem Pawlow’schen Reflex erschallt der Ruf nach der softwaregesteuerten Schule. Entsprechend meldet sich der Dachverband Economiesuisse mit viel Wind zu Wort. [4] Er fordert einen digitalisierten Unterricht – auf der Basis des überfrachteten Lehrplans 21.
Die Primarschüler sollen die beiden Kernfächer Deutsch und Mathematik vor allem computerbasiert und individualisiert erlernen. Gefordert werden Niveaukurse und das Auflösen der Jahrgangsklassen. [5] Economiesuisse beruft sich dabei auf Jörg Dräger und Ralf Müller-Eiselt von der deutschen Bertelsmann Stiftung. Die beiden Exponenten sind überzeugt, dass die digitale Zukunft des Lernens maschinengesteuert und individualisiert verlaufe, ermittelt und überwacht von einer Lernsoftware, analysiert von Algorithmen. [6] Gar die Abschlussnoten liessen sich prognostizieren, so Dräger und Müller-Eiselt.
Kein Nutzen eines softwaregesteuerten Unterrichts
Doch bis heute konnte keine empirische Studie nachweisen, dass der frühzeitige Einsatz elektronischer Medien positive Effekte hätte. [7] Im Gegenteil: Es sind Personen, die uns zu Verstehenden machen. [8] Im analogen Dialog und sokratischen Diskurs. Bildung ist immer und notwendig an Individuen gebunden. Es komme, so sagt selbst die OECD, „auf die Lehrperson an“. [9]
„Der Glaube, dass Bildung durch ein Computerprogramm ersetzt werden kann, ist ein Mythos. Der menschliche Kontakt und das Mentoring machen den entscheidenden Unterschied bei den Lernergebnissen aus“ [10], erklärt der deutsche IT-Forscher Sebastian Thrun. Er weiss, wovon er redet; er lehrt als Professor für Künstliche Intelligenz an der Stanford University.
Sogar der Vorsitzende des OECD-PISA-Programms, der digitalaffine Andreas Schleicher, muss gestehen: „Die Ergebnisse […] zeigen keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistung in Lesen, Mathematik oder Wissenschaft in den Ländern, die stark in die Informations- und Kommunikationstechnologie für Bildung investiert hatten.“ [11] Aus dem verstärkten Einsatz digitaler Medien resultieren nicht per se optimierte Lernergebnisse. Im Gegenteil.
Ein Ding richtig können
In den Primarschulstunden primär auf Lernsoftware zu setzen führt nicht weiter. Doch die Frage bleibt auch in einer digitalisierten Welt: Wie führt der Unterricht zu einem systematischen Wissens- und Könnensaufbau – mit kognitiven Ordnungs- und klaren Wissensstrukturen? Und wie kann er die Basis für unsere Handlungs- und Denkprozesse bilden?
Nötig wäre ein „Reduce to the max“ – und damit eine Entschlackung des übervollen Lehrplans 21. Was die Schule „durchnimmt“, sollte sie gründlich durchnehmen, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Dazu gehört auch das Automatisieren mit digitalen Lernprogrammen – als eines unter mehreren Übungselementen. Ein Ding richtig können, ist eben mehr als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, sollte Prinzip sein. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, heisst es bei Plinius. Eben: eine Bildung, die sich ganz unflexibel einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingibt. Sie hat Zukunft, denn sie verkörpert und verlangt etwas von dem, was der Kognitionsforscher Howard Gardner als Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken.
[1] Thomas Thiel: Digitales Lernen. Entmündigung als Bildungsziel, in: FAZ, 14.07.2016.
[2] OECD 2001, S. 18.
[3] Otto Friedrich Bollnow: Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen. Oberwil b. Zug: Verlag Rolf Kugler 1987, S. 26f.
[4] Digitalisierung – Herausforderungen und Chancen für die Schule, publiziert am 09.02.2018, in: https://www.economiesuisse.ch/de/dossiers/digitalisierung-herausforderungen-und-chancen-fuer-die-schule [Status: 13.02.2018].
[5] Vgl. Raphaela Birrer, Computer statt Wandtafel, in: Tages-Anzeiger, 10.02.2018, S. 5.
[6] Jörg Dräger, Ralph Müller-Eiselt: Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. Der eine ist Vorstand, der andere Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung.
[7] Heike Schmoll, Die Digitalillusion, in: FAZ, 18.09.2017, S. 8.
[8] Vgl. Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Klett-Cotta, Stuttgart 2011. S. 287ff.
[9] Andreas Schleicher: Students, Computers and Learning: Making the Connection. OECD-Publishing 2015. S. 8.
[10] Ralf Lankau: Ohne Dozenten geht es nicht, in: DIE ZEIT, 9.1.2014, S. 61.
[11] Andreas Schleicher, a.a.O., S. 3; vgl. auch: Fehler 404, in: DIE ZEIT, 01.02.2018, p. 2.