Vor einer Woche noch gaben sich die Berlusconi-Gegner fast euphorisch. Sie verfügten über eine Mehrheit von acht Stimmen, sagten sie. Das hätte klar gereicht, um Berlusconi das Misstrauen auszusprechen und ihn damit zu stürzen. Doch plötzlich ist alles anders. Die Zeitung „La Repubblica“ hat ausgerechnet, dass 315 Abgeordnete gegen Berlusconi stimmen werden - und 314 für ihn. Drei sind noch unentschlossen. Bei diesem knappen Verhältnis fällt auch ins Gewicht, dass Gianfranco Fini, einer der grössten Berlusconi-Gegner, als Parlamentspräsident nicht stimmen darf.
Was ist geschehen? Eigentlich das, was in Italien in solchen Situationen zu geschehen pflegt: Man geht auf Stimmenfang. In Anlehnung an das feilschen um Fussballstars nennt man das „Calciomercato“: Fussballtransfer-Markt. Wer bietet mehr? Die Opposition wirft dem Berlusconi-Lager vor, Abgeordnete zu kaufen. Und es gibt Hinweise, dass dies zutrifft.
Natürlich ist es nicht der Ministerpräsident selbst, der potentielle Wackel-Parlamentarier bearbeitet. Freunde Berlusconis geben offen zu, sie würden bei Abgeordneten für den Cavaliere werben. Natürlich ist nie von Geld oder „Freundlichkeiten“ die Rede. Dass aber Geld fliesst, steht für die Opposition fest. Pierluigi Bersani, der linke Oppositionsführer, spricht von „Skandal“ und „Korruptionsverbrechen“.
Plötzlicher Gesinnungswandel – wenige Stunden vor der Abstimmung
Antonio Di Pietro, der frühere Mailänder Staatsanwalt und Chef der Antikorruptionspartei „Italia dei Valori“ (IdV), will die Justiz einschalten. Er wolle dem Gericht „eine Reihe von Elementen“ übergeben, die auf Bestechung hinweisen. „Dies ist kein Parlament mehr“, sagt der für seine offenen Worte bekannte Di Pietro: „Dies ist ein Kuhmarkt“ (mercato delle vacche).
Di Pietro schäumt vor Wut, weil der in der Schweiz lebende Abgeordnete Antonio Razzi plötzlich das Hemd gewechselt hat und jetzt für Berlusconi stimmen will. Zeitungsberichte bringen den schnellen Gesinnungswandel Razzis in Verbindung mit der Tilgung einer Hypothek für sein Haus in Pescara. Razzi, der im Kanton Luzern lebt, war auf der Liste von Di Pietros „Italia dei Valori“ gewählt worden. Jetzt ist er aus der Partei ausgetreten und hat sich dem „Gruppo Misto“ angeschlossen. Razzi bestreitet die Vorwürfe.
Vor allem Abgeordnete regionaler Splitterparteien werden von Berlusconis Freunden bearbeitet. Natürlich wird es juristisch schwer oder fast unmöglich sein zu beweisen, dass der Gesinnungswandel mit viel Geld oder Versprechen gefördert wurde. Seltsam mutet jedoch an, dass ausgerechnet wenige Stunden vor der entscheidenden Abstimmung einige Parlamentarier plötzlich zu Berlusconi überlaufen.
“Schlimmer als Tangentopoli“
Die einflussreiche katholische Wochenzeitschrift „Famiglia Cristiana“ nannte das Feilschen jetzt „schlimmer als Tangentopoli“. Tangentopoli war der Anfang der Neunzigerjahre aufgedeckte Schmiergeld-, Amtsmissbrauch- und Korruptionskandal.
Der Ministerpräsident selbst bezeichnet den Vorwurf des Stimmenkaufs als „lächerlich“. Er und seine Minister geben sich siegesgewiss. In einer auf zehn Seiten geschriebenen Rede wird Berlusconi vor der Abstimmung am Dienstag die Abgeordneten in Stimmung bringen. Schon jetzt ist klar, was er sagen wird. Das Volk habe ihm bei den letzten Wahlen mit grosser Mehrheit den Auftrag zum Regieren gegeben. Wer ihn jetzt stürzen wolle, handle gegen den Willen des Volkes und sei ein Verräter. Italien braucht jetzt Kontinuität und eine stabile Regierung. Nur so könne es gelingen, dass das Land nicht Opfer der internationalen Spekulation würde, wie dies in Griechenland und Irland geschah.
Lahme Ente?
Was geschieht, wenn Berlusconi das Misstrauensvotum in der Abgeordnetenkammer ganz knapp gewinnt? Dann kann er zwar weiterregieren, doch seine Zeit geht zu Ende. Auch in der eigenen Partei besitzt er längst nicht mehr den Status des glänzenden Siegertypen. Schwere Zeiten und heikle Abstimmungen stehen bevor. Zudem wird erst jetzt langsam bekannt, dass es Italien wirtschaftlich keineswegs so gut geht, wie dies der Ministerpräsident und sein Wirtschaftsminister monatelang ins Land hinausposaunten.
Vieles deutet darauf hin, dass Berlusconi zur „lahmen Ente“ würde, gefangen von der Lega Nord und den plötzlich zu ihm übergetretenen Abgeordneten. Mit einer hauchdünnen Mehrheit im Parlament lassen sich keine grossen Sprünge machen. Und wenn er doch noch knapp verliert? Dann muss er zurücktreten. In diesem Fall hat Staatspräsident Giorgio Napolitano drei Möglichkeiten. 1.) Er ruft sofort Neuwahlen aus, wie dies Berlusconi will. 2.) Er setzt eine sogenannt „technische Regierung“ mit Technokraten und ohne Berlusconi ein. 3.) Er ernennt eine Regierung der „nationalen Verantwortung“ ohne Berlusconi.
Der 85jährige Napolitano ist heute eine der letzten moralischen Instanzen im Land. Er, der Ex-Kommunist, geniesst im Volk Vertrauen wie kein anderer. Dass Napolitano seinen Ministerpräsidenten und seine Eskapaden nicht mag, ist kein Geheimnis. Napolitano hat auch mehrmals angedeutet, dass er in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten gegen Neuwahlen ist. Solche Wahlen wären für Berlusconi die letzte Chance. Doch ob er sie diesmal gewinnt, wie er behauptet, steht keineswegs fest. Er, der Entzauberte, hat in jüngsten Meinungsumfragen stark an Rückhalt verloren.
Tremonti als Ministerpräsident?
Eine „technische Regierung“ (siehe Beitrag rechts: „Stürzt Berlusconi?“) wird dann eingesetzt, wenn sich das Land in einer Krise befindet. „Technische Regierungen“ gab es in Italien schon zwei Mal: Nach dem Mani pulite-Skandal führte ab 1993 Carlo Azeglio Ciampi, der Gouverneur der Zentralbank, ein solches Technokraten-Kabinett. Nach dem Sturz der ersten Regierung Berlusconi führte dann auch Lamberto Dini eine „technische“ Regierungsmannschaft an. In einer Regierung der „nationalen Verantwortung“ könnte zum Beispiel Berlusconis Wirtschaftsminister Giulio Tremonti das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Berlusconi wäre sicher nicht dabei. Dem Kabinett würden auch Vertreter von Oppositionsparteien angehören.
Nicht ganz ausgeschlossen ist noch ein anderer Weg. Berlusconis Krise begann, nachdem ihm sein Vize Gianfranco Fini den Kampf erklärt hatte. Fini und zehn seiner Gefolgsleute hatten im Oktober eine eigene Partei gegründet: „Futuro e Libertà per l’italia“ (FLI). Damit verlor das Berlusconi-Lager die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Zwar kann der Ministerpräsident immer noch auf die treue Gefolgschaft der Lega Nord von Umberto Bossi zählen – doch eine Mehrheit bringt auch das nicht.
Die Fini-Leute wissen, dass Berlusconis Zeit zu Ende geht. Einige sagen sich, sie könnten sich durchaus vorstellen, weiterhin mit Berlusconi zu regieren. Allerdings: Berlusconi müsste vorher seinen Rücktritt einreichen. In Verhandlungen müsste dann eine Regierungsmannschaft zusammengestellt werden, in der auch die Opposition einen wichtigen Platz einnimmt. Berlusconi wittert eine Falle und lehnt das kategorisch ab. Bekannt wurde jetzt, dass Italo Bocchino, der Fraktionsvorsitzende der Fini-Partei, am vergangenen Mittwoch in Rom mit Berlusconi zusammengetroffen ist. Das Gespräch habe nichts gebracht, sagte Bocchino. Und wenn Berlusconi im letzten Moment Zugeständnisse bei wichtigen Sachthemen, zum Beispiel beim Wahlgesetz, machte? Würden dann die Finianer einknicken?
Und die Moral von der Geschicht'? Doch wer spricht schon in der italienischen Politik von Moral. Ausser Berlusconi. Am Freitag sagte er: "Wir haben die Moralität in die Politik gebracht".