Technik ist untergründig immer auch ein quasireligiöses Geschäft mit seinen vorlauten Propheten. Bereits im Mittelalter wurden technische Artefakte oft ihres „göttlichen“ Ursprungs wegen bewundert, als „machinae ex deo“, und schlaue Köpfe entdeckten damals, dass die Menschen sich auf diese Weise zu einer Technikfrömmigkeit dressieren liessen, die sich in Einfluss und Geld auszahlte.
Heute ist das nicht anders. Die schlauen Köpfe von heute nennen sich Futurologen. Mit der Rückendeckung von Technik, Wissenschaft und Wirtschaft drehen sie ihre Pirouetten auf dem glitschigen Terrain der Prognose und landen mit prognostizierbarer Regelmässigkeit auf dem Allerwertesten.
Herman Kahn und das „Hermie“
Zu den Pionieren und – auch im buchstäblichen Sinn – Schwergewichten der Zunft gehörte der Prophet, der aus dem Kalten Krieg kam: Herman Kahn, die „Einmann-Denkfabrik“ genannt (er soll als Vorbild für Kubriks Dr. Seltsam gedient haben). In der Verkünderpose des „Ihr werdet es erleben“ überraschte er seine Leserschaft immer wieder mit Unvorstellbarem, das in naher Zukunft bevorstehe.
Und wann findet diese Zukunft statt? In ironischem Gedenken an Kahn prägte der australische Autor Clive James den Begriff „Hermie“ für die Zeiteinheit der Futurologen. Ein Hermie liegt zwischen 10 und 20 Jahren, manchmal auch darüber. Die Uneindeutigkeit spielt keine Rolle. Denn Vorzug und Verdienst dieser Einheit liegen in ihrer Dehnbarkeit. Sie ist genau das, was die Futurologie ausmacht: gummiartig, anpassungsfähig und poppig.
Herman Kahn, der Hochleistungsprognostiker, sagte binnen eines Hermie zum Beispiel die Schaffung neuer und nützlicher Pflanzen- und Tierspezies voraus, Kontrolle über Wetter und Klima, Einflussnahme auf die genetische Grundverfassung eines Individuums, bemannte interplanetare Raumflüge, weltraumgestützte Verteidigungssysteme – Prognosen von insgesamt hundert umwälzenden technischen Neuerungen, die sich bestenfalls zu einem Drittel bewahrheitet haben. Auch das ist eigentlich irrelevant. Denn der Sinn der futurologischen Voraussage besteht nicht darin, zuzutreffen, sondern beeindruckend zu klingen, indem man ein Klima der Ankunft von etwas Noch-nie-Dagewesenen erzeugt.
Die Schwarz- und Rosamaler
Ein Grund für den seit über fünfzig Jahren anhaltenden und wachsenden Futurologietrend ist sicher der gewaltige Technologieschub der Nachkriegsjahre. Kern-, Raumfahrt-, Computer- und Gentechnologie spannten einen Horizont auf, der die kühnsten Visionen befeuerte und Investorengeld locker machte.
Wie immer traten Skeptiker und Verzückte auf den Plan. Zu Ersteren gehört der Pop-Futurologe Alvin Toffler, der in seinem Buch „Zukunftsschock“ 1970 bereits die Unrast des digitalen Zeitalters vorwegnahm und von der "Wegwerf-Gesellschaft", der "Aufsplitterung der Familie", vom "überstimulierten Individuum" und der "Informationsüberfütterung" sprach. Düsterer war das Zukunftsfresko, das der Biologe Paul R. Ehrlich in seiner „Bevölkerungsbombe“ (1968) malte. Es sah für die 1970er und 1980er Jahre Hungersnöte mit Hunderten von Millionen Toten voraus.
Als Meister der dreisten rosafarbenen Übertreibung profilierten sich bereits die Pioniere der Artificial Intelligence. Herbert Simon etwa, der Designer des „Allgemeinen Problemlösers“, verkündete 1956, dass innerhalb von zwanzig Jahren die Maschinen zu allem fähig sein würden, was Menschen können. Marvin Minsky, der Kognitionsforscher, doppelte um 1970 vollmundig nach: Es werde bald möglich sein, Emotionen in eine Maschine zu programmieren; und in drei bis acht Jahren würde man Maschinen mit der durchschnittlichen Intelligenz eines Menschen bauen, die Shakespeare lesen und Autos warten würden.
Der religiöse Orgelpunkt
Nun mag das mitunter an die Aufschneiderei von nicht ganz erwachsen gewordenen Geeks erinnern. Leichtfertig wäre es, sie bloss lächerlich zu machen. Es handelt sich ja nicht einfach um Phantasten, sondern in der Regel um Koryphäen ihrer Disziplinen. Und viele ihrer Prognosen sind durchaus bedenkenswerte Extrapolationen von gegenwärtigen Entwicklungen.
Das Problem ist auch nicht, dass die Futurologen die Fakten missachten. Nur sind sie ihnen definitionsgemäss voraus. Und genau hier liegt das Problem. Sie überziehen den Kredit ihrer Kompetenz, indem sie sich in die Pose wissenschaftlich abgesegneter Schamanen werfen, die einer technikfrommen Gemeinde die Erlösung durch die neuesten Apps versprechen.
Es war gerade Minsky, der in die Zukunftsverheissungen einen religiösen Orgelpunkt einführte. In den 1990er Jahren delirierte er über eine Symbiose von Mensch und Maschine: „In einigen Jahren könnten wir, wenn wir wollten, den Computer allein durch Gedanken kontrollieren – ganz ohne Hände, Stifte, Tastaturen, Mäuse, Datenhandschuhe, Ganzkörperanzüge oder all diese wunderbaren Dinge aus der Welt der Telepräsenz. Alles, was wir sehen, ist vergänglich, sagen uns die Christen. Wir könnten aber, wenn wir unsere Zeit nicht verschwenden, in etwa zwanzig oder dreissig Jahren in eine neue Welt des Geistes wiedergeboren werden, in der man Gedanken direkt in die Maschine diktieren kann – und das wird sein wie der Himmel.“
Erlösung für Geeks
Den Himmel verspricht heute der wohl umtriebigste und grossmäuligste aller Futurologen, Ray Kurzweil, Synthesizer- und Lesecomputerbastler. Er ist nicht religiös in einem herkömmlichen Sinn (er bezeichnet sich als agnostischen Panpsychisten), aber seine technischen Visionen sind eschatologisch gewürzt.
Speziell seine „Singularität“ ist wesentlich identisch mit den Verheissungen jener Prediger, die uns den Augenblick vorhersagen, in dem die Gesegneten Aufnahme ins Paradies finden. Die „Singularität“ ist die Erlösung der gläubigen Geeks, die ihr ewiges Leben in einen Computer hochgeladen haben werden. Kurzweil sagt sie für das Jahr 2045 voraus – der Übergangspunkt zum „Transhumanismus“, wo die Maschine mit ihrer Intelligenz den Menschen hinter sich gelassen haben wird.
Die TED-Liturgie
Das Geschäft floriert. Futurologie erfreut sich robustester Gesundheit, trotz aller Fehlprognosen. Warum? Weil die Technik auf diesem Feld eine mächtige unheilige Allianz zwischen Geld und Glauben schmiedet. Futurologische Themen versprechen Millionenauflagen.
Der Glaube an die Technik feiert auch eigene Liturgien, z.B. die TED Talks. TED ist ein Akronym für Technology, Entertainment, Design. Ein globaler Ring von 20-minütigen Vorlesungen über Ideen, „die es wert sind, verbreitet zu werden“. Über eine Milliarde Menschen sehen und hören sich inzwischen online die Kurzvorträge an. Es handelt sich um eine Show, in der führende Persönlichkeiten aus Technologie, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik dem Publikum erklären, wie sie die Welt verändern wollen.
Der Grundtenor: Die Zukunft ist gut, weil sie die Zukunft ist. Und für nahezu alle Probleme gibt es eine (technische) Lösung. Die Rhetorik von TED Talks sei, so nennt sie Benjamin Bratton, Professor für bildende Künste in San Diego, eine „Mischung aus Epiphanie und persönlichem Zeugnis“, in der die Vortragenden die Lösung eines Problems wie vom Himmel gefallen präsentieren: als marktfreundliche Lobpreisung ihrer selbst – „infomercial“.
Gegenwartsflucht
Techno-Utopien sind immer Gegenwartsfluchten. Und je extravaganter die Visonen der Weltveränderung, desto beharrlicher bleibt die Welt im Grunde, wie sie ist. Genauer betrachtet entpuppen sich die Paradiesvorstellungen der Geeks von Silicon Valley unter der kalifornischen Tünche als das simple konservative Bemühen, den hippen Lifestyle einer Digital-Oligarchie zu verewigen.
Dieser Lifestyle sei ihr unbenommen, nur sollten wir den „Transhumanismus“ als das sehen, was er ist: den Menschen „hinter sich lassend“ in dem Sinne, dass er den Menschen, wie er in seinem irdischen „Jammertal“ leibt und lebt, gar nicht wahr- und ernstnimmt. Transhumanismus ist Menschenverachtung in der technischen Kostümierung der Menschenverbesserung. Die Generalstrategie: Den Blick von der Gegenwart abwenden; die Probleme nicht lösen, sondern die Lösung in die Zukunft verschieben, in die Welt der technischen Placebos zur Verbesserung unserer kognitiven und moralischen Fähigkeiten.
Der Mensch ist nicht gut genug
Denn das Axiom der Futurologie lautet: Der Mensch ist nicht gut genug. Und es gibt eine moralische Verpflichtung zum „Enhancement“, zur Verbesserung, sagt der Philosoph Julian Savulescu. Wenn nicht aus eigenen Stücken, so durch pharmakologischen Anstoss. Er plädierte kürzlich in einem TED Talk für die Moralpille.
Futurologen hausieren mit der menschlichen Unzulänglichkeit. Sie machen ihr Geschäft damit, dass sie uns einreden, wie bedürftig und beschränkt wir sind, und sie liefern uns frei Haus den Trost der neuesten Gadgets, die uns aus diesem Zustand erlösen sollen. Das Beste kommt erst noch, leiern sie. Die Zukunft ist die Transzendenz des säkularen Menschen: der in die Horizontale umgelegte Himmel.
Ein Universalgelehrter des 18. Jahrhunderts, Samuel Johnson, diagnostizierte schon 1752 die obsessive Beschäftigung mit der Zukunft als ein Defizitsymptom des gegenwartsflüchtigen Menschen. Es scheint sein Schicksal zu sein, schreibt Johnson, „all seinen Trost in der Zukunft zu suchen. Die gegenwärtige Zeit eignet sich selten, unsere Wünsche und Phantasien unmittelbar zu unserem Vergnügen zu erfüllen, und so sind wir genötigt, dieser Unzulänglichkeit mit Erinnerung und Vorausschau Genüge zu tun.“
Eine Prognose als Coda
Ray Kurzweil ist seit kurzem „Director of Engineering“ bei der Forschungsabteilung des Netzgiganten Google. Auch hier sei eine Prognose gewagt: Google wird zur neuen Kirche, und Kurzweil ihr Papst. Über kurz oder lang wird eine neue Zeitrechnung für das Post-Anthropozän eingeführt: vor und nach Kurzweil. Wann? In einem Hermie.