Bei den iranischen Präsidentschaftswahlen gehen ein islamischer Hardliner und ein als gemässigt geltender Politiker in die Stichwahl. Der «Gemässigte» hat dabei einen bemerkenswerten Vorsprung, dennoch ist die Gesamtzahl der Stimmen seiner drei Hardliner-Konkurrenten deutlich höher. Was kann nach der Stichwahl im Iran und demzufolge auch in der Region geschehen? Ein Kommentar von Farhad Payar, Chefredaktor des Iran Journal.
Einer der ersten Iraner, die ihre Stimmzettel bei den iranischen Präsidentschaftswahlen am 28. Juni abgegeben haben, war Staatsoberhaupt Ali Khamenei. Ein Reporter der staatlichen Rundfunkanstalt fragte ihn bei der Stimmabgabe, welchen Rat der Ayatollah für diejenigen Wahlberechtigten habe, die noch zögerten, an den Wahlen teilzunehmen. Als ob der greise Geistliche nicht wüsste, dass nicht der Präsident und sein Kabinett über die Gegenwart und Zukunft des Landes entscheiden, sondern er selbst, gab er zur Antwort: «Warum zögern? Wählen ist doch etwas Einfaches, es kostet nichts und ist für die Zukunft des Landes von entscheidender Bedeutung.»
Seit der Gründung dieses eigenartigen Systems im Iran, das sich Republik nennt, hat kein Präsident ohne die Erlaubnis des geistlichen Staatsoberhauptes eine wichtige Entscheidung treffen dürfen – weder in der Innen- noch in der Aussenpolitik. Dazu haben die Vetternwirtschaft durch Khameneis Gefolgschaft und die internationalen Sanktionen das Land mit dem weltweit zweitgrössten Erdgasvorkommen wirtschaftlich an den Rand des Ruins getrieben. Laut dem ehemaligen Präsidenten Hassan Rohani sind etwa 60 Prozent der Bevölkerung auf die staatliche Hilfe angewiesen. Die verheerenden Sanktionen der internationalen Gesellschaft sind ebenfalls vor allem ein Machwerk Khameneis. Sie sind grösstenteils auf seine antiwestliche Einstellung und das ambitionierte Atomprogramm seines Regimes zurückzuführen – gepaart mit der ständigen Drohung der Vernichtung Israels und der Unterstützung von im Westen als terroristisch geltenden Gruppierungen in der Region.
Das tatsächliche Ausmass der durch die Sanktionen entstandenen Schäden für die iranische Wirtschaft ist nicht genau bekannt. Kürzlich erklärte Rohani, dass allein ein Gesetz des von islamischen Hardlinern dominierten iranischen Parlaments – mit dem Titel «Strategische Aktion zur Aufhebung der Sanktionen» – der iranischen Wirtschaft in den letzten drei Jahren einen finanziellen Schaden von 300 Milliarden US-Dollar verursacht habe.
Khameneis Bitte
Im weiteren Gespräch mit dem TV-Reporter am Wahltag sagte Khamenei: «Die Beständigkeit der Islamischen Republik, die Ehre der Islamischen Republik und der Ruf der Islamischen Republik in der Welt hängt von der Anwesenheit des Volkes in den Wahllokalen ab. Deshalb empfehlen wir unserem lieben Volk, die Wahl ernst zu nehmen und sich an diesem wichtigen politischen Test zu beteiligen.»
Den «Test» hat sein islamisches Regime nicht bestanden. Laut dem nationalen Wahlkomitee haben nur etwa 40 Prozent der 61 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimmen abgegeben. Dass der als gemässigt geltende Politiker Masoud Pezeshkian die meisten der abgegeben Stimmen – etwa 10,5 Millionen – bekommen hat, ist ein deutliches Zeichen. Dieser hatte im Vorfeld zwar seine Treue zu Khamenei beteuert, jedoch gleichzeitig verkündet, dass er sich für engere Beziehungen zum Rest der Welt – sprich dem Westen – und für mehr persönliche Freiheiten innerhalb des Landes einsetzen will.
Daraufhin hat der stärkste Mann des Landes unverzüglich wissen lassen, dass dies nur Pezeshkians Wunschdenken sei. In einer Rede am 23. Juni empfahl Khamenei, der nächste Präsident solle seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht aus den Kreisen «der Antirevolutionären und Amerikafreunde» auswählen. «Antirevolutionär» ist ein Synonym für Regimekritiker und Regimekritikerinnen.
1997, als Mohammad Khatami, der Kandidat der Reformisten, bei der Präsidentschaftswahl Aussicht auf Sieg hatte, hatte Khamenei ebenfalls gekontert: «Die ganze Welt soll wissen: Wenn einer der Präsidentschaftskandidaten auch nur das geringste Anzeichen von Nachgiebigkeit gegenüber Amerika, den Einmischungen westlicher Regierungen oder kulturellen und politischen Veränderungen zeigt, wird unser Volk eine solche Person ablehnen.» Diese Schlüsselbegriffe waren die Slogans von Khatami, der von der Öffnung zum Westen und der Belebung der Zivilgesellschaft gesprochen hatte. Als der regimetreue Khatami nach acht Jahren Präsidentschaft kaum eine seiner versprochenen Reformen hatte durchsetzen können, sondern an der Hartnäckigkeit der Hardliner um Khamenei gescheitert war, gestand er: In der Islamischen Republik sei der Präsident nur ein «Logistiker» des obersten Führers – also Khameneis.
An dessen Haltung hat sich bisher nichts geändert, und es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass er die Zukunft des Landes anders gestalten will. Also wird das Regime im Iran und in der Region so weitermachen wie bisher, gleichgültig, wer die Stichwahl am 5. Juli gewinnt.
Doch eines darf man nicht vergessen: Seit der revolutionären Frau-Leben-Freiheit-Bewegung, die nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022 begann und unauffälliger in unterschiedlichen Formen weitergeht, ist die iranische Bevölkerung nicht mehr leicht zu beherrschen. Davon zeugen unter anderem die Zunahme der Verhaftungen von Kritikern und Kritikerinnen und die hohe Anzahl der ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit erscheinenden Frauen – nur um zwei Beispiele zu nennen. Der nächste Präsident wird es schwer haben mit der absoluten Mehrheit der Wahlberechtigten, die am 28. Juni gezeigt hat, dass sie mit Khameneis Politik nicht einverstanden ist.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal