Premierminister Camerons Ruf nach Verwandlung der EU in einen blossen Marktverein eröffnet in der EU eine neue Krise. Die zehnte in sechzig Jahren. Ein Rückblick auf die früheren lehrt einiges für die Einschätzung der jetzigen. Eine Übersicht über die neun früheren befindet sich am Ende dieses Artikels.
I. Die bisherigen Krisen der EG
Die Hoffnung bleibt, die Existenz der EU stellt Cameron nicht zur Diskussion, und ihr Verschwinden liessen die anderen Länder gar nicht zu. Und die EU-Anhänger sagen es immer wieder und auch jetzt: Die EU hat schon viele Krisen gehabt, sie hat alle überstanden und ist dadurch kräftiger geworden.
Stimmt! Aber nur, wenn man im Rückblick schon weiss, wie sie herauskamen. Mittendrin in der Krise hatte man jedesmal Angst vor dem Stillstand der EG, manchmal vor ihrem Untergang. Mit seinem EVG-Nein schien französischer Nationalismus 1954 der Europabewegung den Todesstoss zu versetzen. Dem Versuch zur Wiederbelebung durch Schaffung der Wirtschaftsgemeinschaft EWG gab nur die Angst vor den Russen eine ungeahnte Kraft.
De Gaulles zwei Vetos gegen Grossbritannien schienen aus der Einigung Europas einen Klub von sechs Ländern zu machen. Sein Boykott des EWG-Ministerrats 1965 konnte nur mit dem «Luxemburger Kompromiss» behoben werden, dessen Vetorecht zwanzig Jahre lang die Kreativität der EG lähmte. Als die achtundsechziger Studenten den marxistischen Aufstand gegen das kapitalistische Europa probten, drohte die Einigungsidee eine ganze Generation zu verlieren.
Harold Wilsons «Renegociation» von 1974 machte einen Moment lang Angst vor dem Wiederaustritt Englands. Maggie Thatcher ging es bei ihrer Obstruktion 1981-84 nur ums Geld. Ihre Allergie gegen alles Supranationale liess das Schlimmste fürchten, bis sie 1987 der Faszination des Binnenmarkts erlag.
Der Euro-Pessimismus, den das Binnenmarkt-Weissbuch 1985 in neuen Mut verwandelte, dauerte seit der internationalen Energiekrise von 1973; die Verdoppelung der Ölpreise durch die im Nahen Osten nationalisierten Gesellschaften hatte die europäischen Wirtschaften schwer getroffen. Sie trieb die Arbeitslosenzahlen von drei gegen jene zehn Prozent hinauf, die bis heute nie mehr unterschritten wurden, und brachte zwölf Jahre wirtschaftliche Stagnation und kollektiven Griesgram.
Das Nein der Dänen 1992 zum Maastricht-Vertrag zeigte schroff, dass jeder grosse Fortschritt in der EG von der Zustimmung auch eines kleinen Volkes abhängig ist; sein Abstimmungs-Nein gegen zu viel EG konnte nach harten Verhandlungen mit einigen Zugeständnissen in ein Ja verwandelt werden.
Achtmal Erfolg und ein schwerer Rückschlag
Ja, alle diese Krisen wurden überwunden: Einige mit Kompromissen, einige mit Kreativität und proeuropäischem Einsatz, einige durch schlichtes Aussitzen. Für alle Europafreunde ermutigend ist eine historische Erkenntnis aus diesem Rückblick: Die EG-Idee hat geschworene Gegner überlebt mit einer verborgenen Anziehungskraft, der nicht einmal de Gaulle und Margaret Thatcher widerstanden.
Ein Rückschlag allerdings, der erste, hat die europäische Integration, die in jenen kriegsgeprüften Generationen nach 1945 weite Zustimmung fand, schwer und nachhaltig geschädigt: Das französische Nein gegen die gemeinsame Verteidigung beraubte sie ihres Schwungs zur Einigung auf breitester Front, es amputierte Einigungsbestrebungen in Politik und Verteidigung bis heute und komprimierte sie exklusiv auf den wirtschaftlichen Sektor. Von 1954 an wurde die Integration nur noch wirtschaftlich weiter- und immer höher getrieben, EWG, EG, EU, Euro. Das ist, wie jetzt die Euro-Krise enthüllt, eine einseitige Konstruktion, ein hoher Turm auf einer gefährlich schmalen Basis. Diese EU hat Schlagseite.
Frühere Rezepte helfen nicht
Die Krisen wurden überwunden, aber garantiert ist das nie. Jede Krise schien grösser, bedrohlicher als alle vorherigen. Und keine glich der anderen; darum konnte aus keiner ein Lösungsrezept für die nächste abgeleitet werden. Jede musste anders bewältigt werden, aus neuer Kreativität heraus.
Die Schaffung der EWG nach dem demoralisierenden Pariser EVG-Nein von 1954 war ein europäisches Aufraffen nach der sowjetischen Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956. Um de Gaulles überzogenen Nationalismus zu überwinden, musste man auf seinen Rücktritt 1969 warten.
Um den Angriff der Achtundsechziger zu überstehen, genügte geduldiges Aussitzen, bis ihre guten Ideen von der Gesellschaft aufgesogen waren. Für den britischen Beitrags-Rabatt sorgte vernünftiges Nachgeben und für das Ja der Dänen zu Maastricht wie schon für den Erfolg von Wilsons «Renegociation» kleine Konzessionen an nationale Sondergefühle. Den Euro-Pessimismus von 1985 schliesslich fegte ein elektrisierendes Programm weg, der Delors’sche Binnenmarkt.
Die neunte und die zehnte Krise
Der prekäre Zustand des Euro und Camerons drastische Reformforderungen scheinen uns heute ebenfalls grössere Krisen zu sein als alle früheren. Und mit Grund: Die beiden akuten Probleme – England und der Euro – haben primär zwar nichts miteinander zu tun, sie vermischen sich aber zu einer politischen Gemengelage mit unkalkulierbaren Risiken und Themen. Unübersichtlich verschlungen sind:
das Misstrauen der Engländer und ihre Tendenz, sich von der EU abzusetzen (eine von Cameron ausgelöste, aber wohl auch EU-Freunden nicht unsympathische Diskussion über die Reform der ganzen Struktur der EU, ihrer Institutionen, Prozeduren und Kompetenzen)
die Finanz-, Währungs-, Euro-, Schulden- und Konjunkturkrise
der Schwund des EU-Vertrauens der von Arbeitslosigkeit geplagten Griechen, Spanier und Portugiesen
die davon genährten Feindbilder, die das unerlässliche Gemeinschaftsgefühl der EU-Völker aushöhlen («diese deutschen Nazis», «diese faulen Südländer»)
sogar faschistoide Tendenzen, Gewalt gegen Einwanderer in Griechenland und gegen Zigeuner in Ungarn
und noch einiges mehr.
Gemengelage konkret: Inspiriert vom archaisch-britischen Wunsch nach Distanz schwört Cameron, Grossbritannien werde dem Euro nie beitreten – beteuert aber, er lasse dessen Anhängerstaaten alle Freiheit. Cameron schwankt dabei zwischen Konzilianz und Erpressung: Er habe nichts gegen ein getrenntes Budget für den Euro- und den Nichteuro-Raum – aber den EU-Vertragsänderungen, welche die Euro-Länder nötig haben (Banken- und Budgetaufsicht durch die EU-Organe) werde England nur zustimmen, wenn es weichere Beitrittsbedingungen erhalte...
Und das alles im Klima einer wachsenden Welle von Anti-EU-Ressentiments in den Bevölkerungen! Wenn sie überschwappt, kann diese Kumulation von Krisen und Problemen zu einem Entgleisen der EU führen. Beunruhigend ist vor allem das Irrationale an diesem Missmut. Er nährt sich aus völlig falschen Anti-EU-Clichés, welchen selbst Informierte und Prominente nicht widersprechen: «Zentralismus», «Bürokratie», «Demokratiedefizit», «Diktat aus Brüssel»...
Alles falsch. Darüber nächstens mehr.
Unbestrittener Kern
Inmitten dieser Krisenstimmung gilt es einen Kern zu beachten, der heute an der EU nicht in Frage gestellt wird. Ein paar Axiome akzeptieren auch die meisten EU-Skeptiker inklusive Cameron aufgrund der schlichten Existenz und Nützlichkeit und Notwendigkeit. Und natürlich den Binnenmarkt, auf den gemäss Cameron die ganze EU reduziert werden muss. Den will er unbedingt behalten und mitgestalten. Cameron akzeptiert sogar, dass Binnenmarkt nur mit Brüsseler Harmonisierungsvorschriften funktioniert.
Einige Stellen von Camerons Rede lassen ahnen, dass er sein Land auch dann im Binnenmarkt halten möchte, wenn er weniger Reformen herausholt als er hofft. Und, eine grosse Überraschung: An den Anfang seiner Rede stellt Cameron überzeugend und überzeugt ein Lob der historischen Rolle der EG für Frieden und Freiheit in Europa. Das ist, obwohl er nicht nach Oslo an die Preisverleihung fuhr, eine Ohrfeige für all jene, welche der EU den Friedensnobelpreis nicht gönnen.
Sagt dann aber harsch, das sei Vergangenheit, jetzt habe die EU Wichtigeres zu tun: den Wohlstand erhalten. Doch er bekennt sich zum Verbleib in der Brüsseler Gemeinschaft und wirbt nur für eine abzuschlankende EU oder, falls das nicht glückt, für leichtere britische Mitgliedsschaftsbedingungen.
II. Cameron zwischen Krokodilen und Haifischen
Camerons Rede ist ein diplomatisches Kunstwerk, an der seine Berater und Redenschreiber zweifellos während Monaten herumgefeilt haben, um sein Schiffchen durch ein Meer voll Klippen, zwischen denen Haifische und Krokodile auf das Kentern warten, an ein verwegenes Ziel zu steuern. Die ihr zugrundeliegende Strategie strotzt von Widersprüchen, Widerhaken, Unzulänglichkeiten und Unmöglichkeiten inmitten einer Phalanx von gegensätzlichen Problemen und Dilemmata, von Verbündeten und Gegnern, hin und her gezogen zwischen Politik- und Wirtschafts-, Partei-, National- und Europa-Interessen.
Der Held seiner Partei
Der akute Hauptzweck der Rede war parteipolitisch: Cameron will die Zersplitterung der Tories in der Europafrage heilen, um 2015 die Unterhauswahlen zu gewinnen, und das ist ihm brillant gelungen. Von der ganzen Partei und auch ihren 81 rabiaten Euroskeptikern wurde er als Held gefeiert. Er bediente die populäre EU-Kritik, forderte drastische Reformen der EU und ein Zurückstutzen ihrer Kompetenzen, postulierte Verhandlungen darüber oder über Sonderbedingungen für Englands Mitgliedschaft, und er versprach über das Resultat ein Referendum, wenn Tory die Wahlen 2015 gewinne. Ein innenpolitisches Meisterwerk mit dem willkommenen Nebeneffekt, dem radikalen EU-Kritiker Nigel Farage von der «United Kingdom Independence Party» das Wasser abzugraben, der nicht nur England sondern alle Länder aus der EU herausholen will, auf dass sie verschwinde.
Cameron musste allerdings seine frühere Meinung herunterschlucken: Vor anderthalb Jahren hatte er den Riss in seiner Partei noch mit dem Argument zu überkleistern versucht, das Europathema sei nicht wichtig. Nach seiner Europa-Hymne muss Cameron nun aber vom Tory-Chefstrategen Lord Ashcroft hören, das sei tatsächlich so: den Wählern sei Europa kein dringliches Thema, er solle es zur Seite schieben, wenn er 2015 die Wahlen gewinnen wolle.
Das grosse Vabanquespiel
Am Ende folgte eine brüske Kehrtwende, um die EU-Länder zu beruhigen: Cameron werde, «wenn wir eine solche Vereinbarung aushandeln können», im Referendum von ganzem Herzen für ein Ja werben! Innenpolitisch erlaubt das gleichzeitig den Liberaldemokraten, ohne die er nicht Premierminister wäre und bleiben würde, gerade noch zur Not, in seiner Koalitionsregierung zu bleiben, ohne dass sie ihre proeuropäische Überzeugung verleugnen müssen. Bei alledem weiss Cameron noch gar nicht, ob ihm die EU-Partner das Minimum gewähren werden, das ihm vor seiner Wählerschaft ein glaubwürdiges Ja erlaubt. Selbst die engsten Freunde Englands, die Holländer und die Dänen, sind sofort auf Distanz gegangen. Sie fürchten ein allzu starkes Abwracken der Brüsseler Gemeinschaft.
Der Held hat aber darauf verzichtet, klare Bedingungen für einen Erfolg zu nennen. Wenn Cameron dabei bleibt, keine Details zu präzisieren, wird ihm das 2017 erlauben, auch kleine Zugeständnisse als Erfolg zu bezeichnen, wenn sie nur fürs britische Pulikum einen grossem Symbolwert haben, und mit dieser Augenwischerei das Referendum zu gewinnen wie seinerzeit Harold Wilson.
Cameron spielt ein Vabanquespiel von verwegenem Format. Die «International Herald Tribune» hat seine Strategie als «Gamble» bezeichnet, eine riskante Wette, ein Glücksspiel, ein Abenteuer.
III. Ein Panorama möglicher Folgen
Der Gatte der griechischen Mythengestalt Pandora öffnete trotz strengstem Verbot eine ihr vom Göttervater Zeus geschenkte Büchse, aus der dann in Windeseile alle Übel über die Menschheit entwichen. Aus der von Cameron geöffneten Büchse entweichen für die EU nicht nur Übel. Vielleicht bringen ihr die Sturmwinde am Ende sogar eine gesunde Rosskur, eine seit langem nötige Klärung ihrer verwirrenden Unübersichtlichkeit. Camerons Rede entfesselte schon in den ersten zehn Tagen eine Flut von Kritiken, Protesten und Sympathiebezeugungen, eine breite Diskussion über elemtare Grundfragen und Grundsätze der EG-EU, wie es sie seit ihrer Gründung nicht mehr gegeben hat.
Offene EU-Szenarien nach Camerons Vorstoss
Zerfällt die EU? Sicher nicht. Ihre Existenz ist nicht bedroht. Die Interessen der 27 Mitgliedsländer sind nicht alle gleich stark, aber stark genug, dass sie die EU am Leben erhalten werden. Dazu bekennt sich sogar Cameron, der sie radikal reformieren, aber nicht abschaffen will.
Offenes EU-Referendum 2017: Cameron hat das EU-Referendum versprochen, will damit 2015 wiedergewählt werden, dann mit den EU-Partnern über eine Reform der EU oder, falls das nicht glückt, über weichere Mitgliedsschaftsbedingungen für sein Land verhandeln, und seine Engländer 2017 über das Resultat abstimmen lassen. Wie diese EU-Reform und/oder die weicheren Mitgliedsschaftsbedingungen aussehen werden und ob die Verhandlungen überhaupt zu einer Einigung führen, ist weit offen.
Oder Übung 2015 abgeblasen? Cameron kann aber 2015 die Wahl auch verlieren, und dann ist nicht einmal sicher, ob es überhaupt zu Verhandlungen kommt. Labour scheint heute nicht mehr so EU-kritisch wie früher und könnte die Übung abblasen. Wenn Labour unabhängig von ihrem Sieg eine starke Anti-EU-Stimmung in der Bevölkerung spürt, könnte sie allerdings die Idee der Verhandlungen und vielleicht sogar des Referendums übernehmen.
Eine Riesendiskussion: Sicher ist, dass Camerons Herausforderung bei Politikern, Verbänden, Interessengruppen, EU-Professoren und in allen Völkern ganz Europas eine grosse Debatte über die fundamentalen Ziele, Inhalte und Mittel der EU auslösen wird. Diese Debatte wird heiss und kontrovers werden.
Unsicheres Ergebnis: Wie diese Debatte ausgehen wird, kann heute nicht vorausgesagt werden. Sie kann zu einer Mehrheitsmeinung führen, dass die EU an Haupt und Gliedern überholt werden muss. Wahrscheinlicher ist, dass sie in Kontroverse und Konfusion mündet und die gestaltenden Politiker vor eine Menge sich widersprechender Optionen stellt.
Spaltung der EU? Eine Spaltung in zwei voneinander unabhängige europäische Organisationen ist nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich.
Spaltung zwischen wem und wem? In der einen Organisation stünden dann die Länder, die eine straffere EU wollen oder akzeptieren. Daneben stünde Grossbritannien allein oder als Anführer einer Organisation oder auch nur einer losen Gruppe von Ländern, welche der strengen EU-Disziplin entfliehen wollen und bereit sind, auf deren Mehrwert zu verzichten.
Wieviele wo? Wie viele und welche EU-Mitgliedsländer sich der loseren Gruppe anschliessen würden, ist unmöglich vorauszusehen. Es hängt von zu vielen zurzeit nicht einschätzbaren Faktoren ab: ihren Interessen, ihrer Parteipolitik, ihren Regierungskoalitionen, dem Impakt von Camerons Reformideen auf die Bevölkerungen, dem Resultat der Reform und vielen anderen Imponderabilien der Verhandlungen.
«Stärkere EU»: Elf EU-Länder haben sich vor einigen Monaten im Bericht einer vom deutschen Aussenminister Westerwelle animierten «Zukunftsgruppe» schon für eine politisch stärkere EU ausgesprochen: mehr Mehrheitsbeschlüsse, mehr Demokratie, mehr Rechte des EU-Parlaments, darin eine zweite Kammer der Mitgliedstaaten (ein «Ständerat»), Stärkung der EU-Kommission und ihres Präsidenten, eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik. Einige wollen sogar eine europäische Armee.
Revision der EU-Verträge zur Rettung des Euro: Ein schon existierender anderer Kern sind die 17 Euro-Länder. Sie wünschen, um die Krankheiten des Euro zu heilen, eine «Verfassungsrevision», welche in die EU-Grundverträge schärfere Vorschriften für die nationalen Finanz-, Budget- und Schuldenpolitiken einführt. Ob sie sich darüber einigen, ist unsicher, bisher haben sie erst dieses Ziel formuliert. Und sie sind von den zehn Nichteuro-Ländern abhängig: EU-Vertragsänderungen erfordern Einstimmigkeit. Alle Mitglieder können also mitverhandeln, und jedes einzelne kann sie eventuell – Cameron droht offen damit – mit seinem Veto blockieren.
England wohin? Wenn ihnen die Reformverhandlungen ein befriedigendes Resultat liefern, bleiben die Briten in der EU als Vollmitglied, welches sich allen Regeln unterzieht. Wenn nicht, dann könnte Grossbritannien – das erwähnt Cameron, aber lehnt es schon ab – in den EWR übertreten oder sogar den Bilateralismus à la Schweiz wählen, welcher wichtige Wirtschaftssektoren in separaten Abkommen unter ausgehandelte Regeln stellt.
Trennung ist wahrscheinlicher als Spaltung: Trennung in eine «stärkere» und eine «weichere» EU, die freundschaftlich und rechtlich klar geregelt miteinander verbunden bleiben.
Verbunden durch Abkommen: Die beiden Organisationen sind selbständig, aber mit einem oder mehreren Abkommen verbunden.
Verbunden in einer «EU der zwei Geschwindigkeiten»: Obwohl Cameron diese Formel in aus dem Vokabular streichen will, ist sie wahrscheinlicher: Alle, inklusive England, bleiben EU-Mitgliedsländer, aber mit verschiedenem Status. Die Länder des harten Kerns unterstellen sich strengen Regeln, noch strengeren als bisher; die anderen nicht allen diesen Regeln, doch einem für sie immer noch interessanten und von den anderen akzeptierten Kernbereich. Es gibt EU-Länder mit verschiedenen Rechten unter einem kleineren oder grösseren Dach gemeinsamer Pflichten.
Das Dach der gemeinsamen Regeln: Wie viele gemeinsame Regeln in diesem Fall die beiden EUs, die stärkere und die weichere, noch verbinden werden, ist offen und vom unkalkulierbaren Ergebnis der Verhandlungen abhängig: Es kann nahe dem weiten Umfang der heutigen EU-Vorschriften liegen oder nur die wichtigsten Grundregeln umfassen. Wahrscheinlich resultiert etwas dazwischen. Im Zentrum der gemeinsamen Regeln steht sicher der Binnenmarkt.
Der starke Kern: Wenn es den elf Ländern von Westerwelles «Zukunftsgruppe» ernst ist mit ihrem Stärkungsprogramm, werden sie und eventuell weitere Länder aus der EU das «Kern-Europa» schaffen: einheitlicher und stärker harmonisiert, mit ausgeweiteten EU-Kompetenzen, straffer geführt und demokratischer. Wie stark es wird, müssen ihre Verhandlungen zeigen. Einige Meinungsverschiedenheiten verheimlichen sie im «Westerwelle-Papier» nicht. So wollen einige eine europäische Armee, andere nicht.
Ein europäischer Bundesstaat? Ist bei einer genügenden Anzahl von Ländern der Wille vorhanden, dann könnte dieses «Westerwelle-Europa» nach längerer Zeit und über mehrere Phasen bis zu einem Bundesstaat aus EU-Ländern im Herzen Europas führen.
«Die weiche Schale»: Es bleibt abzuwarten, wieviele Disziplinen und Regeln diese noch unbestimmbar vielen Länder akzeptieren werden. Sicher den ganzen Binnenmarkt und das Minimum der für sein gutes Funktionieren unerlässlichen Sektor- und Wettbewerbspolitiken, dazu wahrscheinlich auch einige mehr wie Regional-, Verkehrs-, Forschungs- und Agrarpolitik. Darüber hinaus vielleicht nicht viel mehr, und falls doch, dann mit weicheren Regeln als im «harten Kern».
À-la-carte-Europa: Eine solche Variante ist unwahrscheinlich oder schon jetzt auszuschliessen. Der französische und der deutsche Aussenminister haben ein solches «Europa der Rosinenpicker», falls Cameron das meinen sollte, sofort als inakzeptabel bezeichnet. In ihren Augen muss also England entweder ein Minimum an gemeinsamen, für alle Mitgliedsländer obligatorischen Politiken akzeptieren, oder es ist in der EU nicht mehr willkommen. Die Länder der «weichen Schale» könnten unter sich ein À-la-carte-Europa bilden. Aber alle, inklusive England, scheinen schon jetzt zu begreifen, dass ein solches Europa zu ungehemmter Rosinenpickerei führt und in Anarchie mündet.
Kompromisse sind als Endergebnis wahrscheinlicher als Konfrontation und Auseinandergehen. Nach langen, schwierigen, kurvenreichen Verhandlungen mit vielen Krisen, Überraschungen und Zweifeln einigt man sich mit Grossbritannien und eventuell anderen ausscherenden Partnern auf einen neuen Modus vivendi.
Ein wünschbares...
Als langjähriger Kenner und Freund der EU wünsche ich mir, dass Camerons Vorstoss eine fundamentale Diskussion entfesselt und dass in allen Ländern frank und frei über Europa, seine Einigung, die wünschbare Struktur seiner 43 Länder, die EU, ihre kurz- und langfristigen Ziele diskutiert wird. Aus dieser Debatte heraus wächst in scharfen, aber zivilisierten Verhandlungen eine klare Scheidung einerseits zwischen den Ländern, die einen europäischen Bundesstaat schaffen wollen, und andererseits den Zögerern und Verweigerern. Anders als den konfrontationsscheuen Politikern scheint es mir gut, jetzt den Abszess der europapolitischen Konfusionen, Versteckspiele und Zweideutigkeiten aufzustechen und klare Verhältnisse zu schaffen.
... und das wahrscheinliche Szenario
Zu rechnen ist jedoch eher mit vier Jahren Debatten- und Verhandlungsprozess in allen Ländern Europas, vielfältig, höflich, streitlustig bis bitter, unvorhersehbar, undurchsichtig. Ein Abglanz dieser Debatten wird auch die Schweiz erfassen. Nach schlangenartigen Abläufen mit Fortschritten und Krisen, Rückschlägen und Durchbrüchen, Pausen und Beschleunigungen, Verirrungen und Versöhnungen münden die unglaublich komplizierten Verhandlungen in eine Variante des «harten EU-Kerns mit weicher Schale drum herum». Welche Variante, wage ich nicht zu prophezeien, ausser dem Ausschluss der Extremlösungen wie einem wütenden britischen Austritt aus der EU, einem starken Kern mit Einschluss von England und einer harmonischen Versöhnung, in der sich alle in die Arme fallen.
Anhang: Die ersten acht EU-Krisen und wie sie überwunden wurden
1954 EVG: Zwei Jahre nach der 1951 in Kraft getretenen ersten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, «Montanunion») wollen ihre sechs Mitgliedsländer eine «Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft» EVG und eine gemeinsame europäische Armee schaffen. Ratifiziert in den fünf anderen Ländern, wird sie von der französischen Nationalversammlung nach der anti-supranationalen Polemik des pensionierten Generals de Gaulle verworfen. Die europäische Einigungsbewegung scheint zu Ende. Zur allgemeinen Überraschung erlebt sie schon vier Jahre später einen spektakulären Wiederaufschwung, allerdings unter Druck von aussen, nämlich als Reaktion auf die sowjetische Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956: 1958 wird die Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft EWG geschaffen, der erste gemeinsame Markt Europas.
1963 und 1967 Vetos gegen England: De Gaulle, der nur in den Nationalstaaten politische Legitimität sieht, gegen alles Supranationale kämpft und Frankreich zur Vormacht Europas machen will, ist Präsident geworden und legt gegen den Beitritt Grossbritanniens zur EWG zweimal sein Veto ein: Es stehe dem Kontinent fern, es sei nicht europäisch sondern «atlantisch» ausgerichtet. Nach seinem Rücktritt machen seine pragmatischen Nachfolger den Weg frei für die EWG-Beitritte Grossbritanniens, Irlands und Dänemarks 1973. Die Engländer entwickelten aber weder zur Idee der Einigung Europas noch zu ihrer Inkarnation EG eine innere Beziehung. Sie sind vierzig Jahre lang ein laues Mitglied geblieben, ohne Solidaritätsgefühl und bloss an Handelsvorteilen interessiert, und heute will sie ihr Premierminister wieder aus der engen Bindung an Europa lösen. Widerstrebend muss man zugeben: De Gaulle sah richtig.
1965-66 «Leerer Stuhl» und «Luxemburger Kompromiss»: Der anti-supranationale de Gaulle sucht den im EWG-Vertrag ab 1966 vorgesehenen Übergang zu Mehrheitsentscheiden zu sabotieren, welche Frankreich überstimmen könnten. Er boykottiert den EWG-Ministerrat ein halbes Jahr lang, seine Minister bleiben allen Sitzungen fern, EWG-Beschlüsse sind unmöglich, die EWG ist total blockiert, wieder scheint sie vom Ende bedroht. Aber Anfang 1966 wird der «Luxemburger Kompromiss» gefunden: Seine fünf Partner versprechen, in allen vitalen Fragen auf Mehrheitsabstimmungen zu verzichten, de Gaulle schickt seine Minister wieder nach Brüssel, aber von da an praktizieren zwanzig Jahre lang nicht nur die Franzosen sondern alle Mitgliedsländer das Veto. Nicht das Ende der EWG, aber zwanzigjährige Stagnation, gegen jeden bedeutenden und schnell auch gegen unbedeutende EWG-Beschluss hat irgendein Land Einwände und verhindert ihn.
Erst ab 1983 kommt es zu vereinzelten Mehrheitsbeschlüssen, und nachdem 1987 die Vertragsrevision «Einheitliche Europäische Akte» EEA deren Anwendung ausgedehnt hat, werden sie wieder zur Regel. Der «Luxemburger Kompromiss» hat aber eine positive Nachwirkung in der ungeschriebenen Praxis des Ministerrrats: Die Länder hüten sich bis heute, Mehrheitsabstimmungen als Keule gegen Widerstrebende einzusetzen. In wichtigen Fragen wird monatelang der Konsens gesucht, auch mit dem kleinsten Mitgliedsland, und nur bei Detailfragen wird abgestimmt.
1968 die Achtundsechziger: Die neomarxistischen Studentenrebellen brechen abrupt die seit 1950 herrschende Unterstützung der Einigung durch alle Volksschichten und verschreien die EWG als kapitalistisches Anhängsel des amerikanischen Imperialismus. Die EU scheint die Unterstützung ihrer ganzen Jugend zu verlieren. Aber die 68er standen der Realität so utopisch fern, dass ihre Revolution politisch scheiterte. Kulturell und gesellschaftlich haben sie vieles verändert, aber ihr Traum, die Gesellschaft umzukrempeln, blieb erfolglos und die EWG davon unberührt.
1974 Austritt Englands? Schon 1974 gab es eine «Renegociation» und 1975 ein Referendum! Der konservative und proeuropäische Premierminister Edward Heath hatte Grossbritannien 1973 in die EWG geführt, doch kurz darauf gewinnt die EG-kritische Labour-Partei die Wahlen. Sie spürt die Abneigung vieler Briten, Premierminister Harold Wilson verspricht ihnen bessere Beitrittsbedingungen und ein Referendum darüber. Er handelt den Partnern einige handels- und budgetpolitische Konzessionen ab und gewinnt das Referendum mit grosser Mehrheit. Ein grosser Unterschied zu Cameron: EWG-Reformen interessierten Wilson nicht, nur bessere Bedingungen für England.
1981 Maggie Thatcher: Auch die Tories sind jetzt EG-kritisch geworden, und die Premierministerin Margaret Thatcher ist nicht weniger allergisch gegen alles Supranationale als de Gaulle es war. Sie schwenkt im Fernsehen ihre Handtasche über dem Kopf und ruft «I want my money back!» Ihre Forderung nach einer Reduktion des hohen britischen Beitrags ans EG-Budget ist verständlich, aber sie lähmt die EG erneut mit vielen Vetos. Erst nach vier Jahren gewähren ihr die Partner 1985 den bis heute praktizierten «britischen Budget-Rabatt». Dann arbeitet die «Eiserne Lady» in der EG wieder pragmatisch mit. Man ist vor allem erleichtert, dass sie der Errichtung des Binnenmarkts zustimmt, in welchem die acharnierte Liberale vielleicht in Selbsttäuschung nur eine Freihandelsgemeinschaft sieht und nicht die zu deren Verwirklichung unerlässliche Brüsseler Harmonisierung, welche heute die Briten so stört.
1985 Europessimismus: Die EG ist infolge der Ölkrise ab 1973 und wegen des Vetorechts Maggie Thatchers ab 1981 in eine wirtschaftliche Stagnation versunken. Der französische Wirtschafts- und Finanzminister Jacques Delors, überzeugter Proeuropäer, wird zum Präsident der Brüsseler Kommission gewählt und revitalisiert die EG mit den 300 Richtlinien seines «Weissbuchs», einem über Erwarten erfolgreichen Programm zur Schaffung des grenzenfreien EG-Binnenmarktes in acht Jahren.
1991-93 Dänemark gegen den Maastricht-Vertrag: Im Dezember 1991 einigen sich 12 EG-Länder in Maastricht auf diesen «Vertrag über die Europäische Union». Er fügt der Wirtschaftsintegration eine schwache Willenserklärung zu aussen- und sicherheitspolitischer Zusammenarbeit bei, zudem eine innen- und rechtspolitische, die zu gemeinsamen Politiken vor allem in Asyl- und Einwanderungsfragen sowie zur Zusammenarbeit der nationalen Polizeiorgane führt. Der viel wichtigere Schritt ist die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungs-Union WWU und der Einheitswährung «Euro».
Eine Änderung der EG-Grundverträge (ihrer «Verfassung») erfordert aber Einstimmigkeit, und in einer Volksabstimmung verwerfen die Dänen den Maastricht-Vertrag. Nach schwierigen Verhandlungen erhalten sie vier Ausnahmen: Sie müssen den Euro nicht übernehmen, nicht an der «gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik» und am Statut des «EG-Bürgers» teilnehmen, und (Schweizer aufpassen!) sie dürfen den Deutschen weiterhin den Kauf von Zweitwohnungen in Dänemark verbieten. Dann stimmen sie dem Vertrag 1993 mit klarer Mehrheit zu.
2008-2013 Euro-Krise: Die Euro-Krise, noch nicht Geschichte, ist provisorisch gedämpft aber noch lange nicht besiegt. Das fing in 1991 Maastricht an, ohne dass es die Akteure merkten. Sie behandelten die Währungsunion unsorgfältig und schrieben sie hastig in den Vertrag. Sachfremde Ziele von Politikern, eine dilettantische währungspolitische Konstruktion und die schludrige Kontrolle von Beitrittskandidaten stürzten den Euro 2008 in eine Überlebenskrise. Die Opferung der selbständigen D-Mark war die Frucht einer Erpressung Präsident Mitterrands: Er gab Bundeskanzler Kohl zu verstehen, er werde der Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland zustimmen, aber Kohl müsse dafür die D-Mark in den Eurokorb werfen. Die Fachleute vergassen dann die historische Erfahrung, dass Währungsunionen ohne gemeinsame Regierung scheitern, sie machten der für einen gesunden Euro nötigen Budgetdisziplin der Teilnehmer nur Kann-Vorschriften mit unglaubwürdigen Sanktionsdrohungen, die sogar von Deutschland sabotiert wurden, als es selber das Maximum von 3% Budgetdefizit überschritt.
Und dann akzeptierten die zwölf Gründerländer im Euro auch noch Länder mit korrupter Politik und sorglose Schuldenmacher. Sie merkten nicht einmal, dass Griechenland zwecks Erfüllung der Aufnahmebedingungen seine Wirtschaftsstatistiken fälschte. In Erinnerung an die D-Mark glauben Kapitalmärkte und Banken an einen starken Euro und geben Regierungen und Bevölkerungen undisziplinierter Länder unbegrenzt Kredite zu niedrigen Zinsen. Nachdem aber die massive Verschuldung die Glaubwürdigkeit der Rückzahlung übersteigt, treiben die Kapitalmärkte die Zinsen für die Refinanzierung der ablaufenden Billigkredite in unbezahlbare Höhen.
Das macht den Euro in der weltweiten Finanzkrise ab 2007 zum Objekt wilder Spekulationen der Kapitalmärkte und stürzt ihn in eine strukturelle Krise. Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Irland sind vom Staatsbankrott bedroht und werden mit Milliardenkreditgarantien über Wasser und im Euro-System gehalten, denn jeder Austritt eines Euro-Lands würde die Kapitalmärkte sofort zum Angriff auf das nächstschwächere und schliesslich auf den Euro selber animieren, sein Zusammenbruch hätte eine katastrophale Vertrauenskrise zur Folge. Stand Anfang 2013: Der Euro überlebt provisorisch, doch viele Experten denken für das Bewältigen der Krise, falls es gelingt, an einen Zeitraum von zehn Jahren.