Die Amerikaner sind im Begriff ,Afghanistan zu verlassen. Präsident Karzais Nachfolger ist gewählt - nur weiss man noch nicht, wie er heissen wird, Abdullah Abdullah oder Ashraf Ghani.
Was ist schiefgelaufen?
Die Auszählung der Stimmen ist noch nicht beendet und das Wahlresultat umstritten. In Amerika hat die Diskussion über die Frage begonnen: "Wie kam es zu der Entwicklung in Afghanistan, die nach 13 Jahren der amerikanischen Präsenz zu einem sieglosen Abzug führte?" Möglicherweise wird die Frage bald lauten: "Wer hat Afghanistan verloren?"
Zwei wichtige Beiträge zu dieser Diskussion sind jetzt in Buchform erschienen. Die Grundfrage, die beide stellen, lautet: Wie kam es dazu, dass nach einem anfänglichen Sieg im Jahr 2001, als die Taliban in Afghanistan vernichtet schienen, die Bewegung neu erstarkte und schliesslich in Afghanistan überdauern konnte, bis die Amerikaner 13 Jahre später und nach der Verschwendung von Abermilliarden das Land räumten?
War es der Krieg im Irak ?
Die Antwort auf diese Frage, die in den Jahren zuvor am häufigsten gegeben wurde, lautete: Schuld war der Irak-Krieg, der 2003 begann und viel schwieriger zu führen war als erwartet. Er lenkte die Aufmerksamkeit und die Mittel, Gelder und Truppen von Afghanistan ab. Dies erlaubte den Taliban, sich neu zu organisieren und in das weite Hinterland Afghanistans zurückzukehren.
Präsident Obama hatte sich, nach seiner ersten Wahl, diese Sicht der Dinge zu eigen gemacht. Er hatte den Krieg im Irak zum Krieg seines Vorgängers, George W. Bush, erklärt. Den Krieg in Aghanistan hat er als "seinen" Krieg übernommen und dort eine Truppenverstärkung ("surge") angeordnet.
Später allerdings hat er dem Ansinnen seiner Generäle Widerstand geleistet, als sie begannen, weitere Truppenverstärkungen zu fordern. Er hat sich im Gegenteil entschlossen, von vornherein einen Endtermin für das direkte militärische Engagement der Amerikaner (und damit auch aller Nato-Truppen) niederzulegen: Ende 2014. Als dieser Termin immer näher rückte, hat er sich daran gehalten, ohne Verlängerungen zuzulassen.
Ein Erfolgshorizont für die Taliban
Er nahm in Kauf, dass dadurch den Taliban ein Erwartungshorizont aufgetan wurde. Sie konnten sich sagen: Wenn wir bis Ende 2004 durchhalten, winkt uns der Sieg. Versuchte Verhandlungen mit den Taliban standen stets im Schatten dieser Gegebenheit. Sie dienten den Taliban in erster Linie zum Zeitgewinn. Für sie ging es darum, möglichst ohne Verluste durchzuhalten, bis ihre gewichtigsten Feinde abzogen.
Die Hoffnung der Amerikaner, es dennoch zu vermeiden, dass Afghanistan erneut Herrschaftsgebiet der Taliban werde, beruht auf der neu geschaffenen afghanischen Armee, die sie und die anderen Natostaaten auszubilden bemüht waren. Ob solche Hoffnungen aufgehen oder nicht, muss die Zukunft erweisen. Sicher ist einzig: Ohne grosszügige Finanzunterstützung durch die Natostaaten, wird die neue afghanische Armee rasch zerfallen. Afghanistan ist nicht in der Lage, sie von sich aus zu finanzieren.
Zwei Sichten auf eine Realität
Vor diesem Hintergrund ist es von mehr als bloss akademischer Bedeutung, klarer zu erkennen, was genau bewirkt hat, dass die besiegten und aus dem Land vertriebenen Taliban zurückzukehren vermochten und über die Jahre, trotz amerikanischer und Nato-Präsenz, eine stetig wachsende Macht wurden, von der man heute mit Sicherheit sagen muss, dass sie die Amerikanische Besetzung überdauern werden.
Die beiden neuen Bücher bringen neue Einsichten in die Entwicklung des nun seinem Ende zuneigenden Afghanistan Krieges Amerikas. Ihre Grundthesen widersprechen einander. Doch sie ergänzen sich auch in ihrem Widerspruch, weil ein komplexes Geschehen wie das von Afghanistan schwerlich nur auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden kann.
ISI als heimlicher Förderer
Das Buch von Carlotta Gall: "The Wrong Enemy, America in Afghanistan 2001-2014" trägt seine These im Titel. Die langjährige Korrespondentin der New York Times in Kabul beschreibt ausführlich die Hilfe und Lenkung, die den Taliban durch den pakistanischen Geheimdienst ISI zuteil wurde. Dieser wäre, so wie sie es sieht, der "richtige" Feind für die amerikanischen Truppen gewesen.
Die Verbindung der Taliban mit ISI ist natürlich seit langem bekannt. Sie geht zurück auf das Jahr 1994, als die Taliban entstanden und ihre Macht rasch ausdehnen konnten, weil sie auf Gelder, Mannschaften, Bewaffnung und strategische Führung durch den mächtigen pakistanischen Geheimdienst zählen konnten.
Illusorisches Ende
Doch diese Verbindung war offiziell beendet worden, nachdem die USA beschlossen hatten, die Taliban anzugreifen und niederzukämpfen, weil die Talibanführung sich weigerte, ihren „Gast“ aus Saudi Arabien, Osama Bin Laden, auszuliefern. Unter der Hand jedoch bestand die Verbindung fort. Die ISI-Offiziere waren der Ansicht, dass die Taliban Pakistan in der Zukunft nützlich sein könnten, indem sie Pakistan in seinem nördlichen Nachbarstaat Einfluss verschaffen und Indien daran hindern könnten, seinerseits in Afghanistan Einfluss zu nehmen. Aus diesem Grund sorgten sie dafür, dass die Taliban, die aus Afghanistan flohen, in Pakistan heimlich Asyl erhielten.
Die Provinzhauptstadt Quetta wurde als Sitz für die geflohene Talibanführung ausgewählt. Dort bildete sich, offensichtlich geschützt und gefördert von ISI, eine heimliche Exilregierung der Taliban. Der "Emir" und Gründer des Taliban-Staates. Mullah Omar, hat dort bis heute seinen Sitz und seine Exilexekutive.
Das Doppelspiel war bekannt
Wie später klar wurde, sorgte ISI sogar für die Unterbringung von Osama Bin Laden selbst, was allerdings bis zum heutigen Tag offiziell abgestritten wird. Dass eine solche, offiziell geheim gehaltene, Zusammenarbeit bestand, war nie wirklich verborgen geblieben. Doch sie blieb schattenhaft, immer wieder dementiert. Die Dementis von ISI dienten dazu, das genaue Ausmass der Zusammenarbeit zu verschleiern, obwohl sie nicht ganz verbergen konnten, dass eine solche bestand.
Carlotta Gall geht akribisch den Spuren dieser Zusammenarbeit nach. Ihre Grundthese ist: Ohne die Unterstützung der Taliban aus Pakistan und ohne die durchlässige Grenze, wäre die Rückkehr der Taliban nach Afghanistan und ihre dauerhaft wachsende Präsenz trotz allen Abwehrschlachten und Gegenoffensiven der Nato Truppen unmöglich gewesen.
Der Krieg aus der Sicht von Kabul
Die Autorin beschreibt auch die afghanische Politik aus der Sicht von Kabul mit den Manövern des Präsidenten zwischen den zahlreichen stammesbasierten regionalen Mächten, die er gegeneinander ausbalancieren und ausspielen muss, wenn er Chef bleiben will. Gleichzeitig bleibt er auf die Hilfe und Militärmacht der Amerikaner angewiesen, und sein Verhältnis zu Pakistan und besonders zu ISI ist schlecht, weil die dortigen Mächte ihn als einen Rivalen und Gegenspieler um die Macht in Afghanistan ansehen. Pakistan wirft ihm vor, er schrecke nicht einmal davor zurück, sich auf Indien zu stützen, wenn ihm dies Hilfe bringe.
Die Korrespondentin wirft ihrerseits Karzai vor, er habe keine strategische Sicht besessen, er habe immer nur taktisch gehandelt. Doch ist offensichtlich, dass die überlegene amerikanische Macht die Strategie vorgab, der - falsch oder richtig - Karzai zu folgen gezwungen war.
Die Sicht von oben
Die Sicht der New York Times Journalistin bleibt beschränkt auf den Überblick von oben. Sie schildert die Führungskräfte, wie sie sich von der amerikanischen Warte aus darstellen. Als die Hauptschwäche der gesamten Afghanistan-Invasion und Besetzung sieht sie die zweideutige, ja verräterische Haltung Pakistans mit den Manövern von ISI. Korruption und Führungsschwäche werden primär Karzai angelastet. Das Vorgehen der Natokräfte im Jahr 2005, um die bewaffneten Kontingente der "Mudschaheddin-Führung" aufzulösen, die das Hinterland ausserhalb Kabuls bis dahin beherrscht hatten, erscheint als eine wichtige Etappe auf dem Weg der Rückkehr der Taliban aus ihrem pakistanischen Asyl .
"Mudschaheddin" nennen sich in diesem Zusammenhang die Anführer und Warlords aus der Zeit des Kampfes gegen die Sowjetunion. Manche von ihnen hatten die Taliban und ihre Macht, zwischen 1994 und 2001 im Exil oder in Schlupfwinkeln innerhalb des zerklüfteten Landes überdauert. Sie waren dann im Schatten der amerikanischen Invasion an die Macht zurückgekehrt.
Es braucht "mehr und längere Unterstützung"
Das Fazit der Berichterstatterin mit Blick auf die Zukunft lautet: "Wenige Afghanen glauben daran, dass ihre Regierung und ihre Sicherheitskräfte die Taliban werden fernhalten können. Ich glaube, sie können das. Doch sie brauchen dazu langfristige militärische und finanzielle Hilfe".
Was dem Buch der New York Times-Korrespondentin völlig fehlt, ist die Erfahrung des langen Krieges aus der Sicht der Afghanen. Einzig die Intrigen und Schwächen der Führung von Kabul kommen zur Sprache. Was der Krieg, genauer: die Kriege seit 40 Jahren für die Landeskinder bedeuteten, kommt höchstens in den Zahlen von "geschätzten zivilen Opfern" zum Ausdruck. Die Schätzung der Korrespondentin (50 000 bis 70 000 Todesopfer von 2001 bis heute) ist im übrigen wahrscheinlich viel zu gering.
Was erlebten die Afghanen ?
Das Buch, das wirklich neue Erkenntnisse bringt, ist soeben erschienen: Anan Gopal: "No Good Men Among the Living. America, the Taliban and the War Through Afghan Eyes."
Der Verfasser ist ein amerikanischer Journalist, offenbar indischer Herkunft. Er sagt von sich selbst, er habe vier Jahre in Afghanistan gelebt und Verbindung zu den Afghanen gesucht. Dazu liess er sich einen Bart wachsen und lernte die Sprache. Er reiste wie die Afghanen in Autobussen, Gemeinschaftstaxis und Motorrädern über das ganze Land, ohne sich an die offiziellen Weisungen zu halten, die weite Zonen als "out of bonds" (Sperrgebiete) bezeichneten. Seine Grunderkenntnis: In Afghanistan und unter den dort herrschenden Lebensbedingungen galten und gelten die Begriffe nicht, nach denen die Aussenwelt und in erster Linie die Amerikaner die Lage beurteilen und den Krieg führen. Die Untescheidung von Gut und Böse im amerikanischen Verständnis wird irrelevant für Leute, denen es darum geht, jeweils den heutigen Tag bis zum Abend zu überleben.
Drei reale Afghanen
Anan Gopal legt seine Erkenntnisse dar, indem er das Leben von drei Afghanen ausführlich schildert, mit denen er systematisch lange Gespräche geführt hat. Es sind: ein Kämpfer gegen die Amerikaner, ein mächtiger Mann in der Regierung, die von den Amerikanern gestützt wird und eine Hausfrau aus einem Dorf. "Nach den Begriffen der Amerikaner: ein Feind, ein Verbündeter und eine Zivilistin". Sie alle haben Wandlungen durchgemacht, bedingt durch den Willen zu überleben. Um dem Buch nicht seine Dramatik und Spannung zu nehmen, sollen hier keine Einzelheiten dargestellt werden.
Alle drei Personen werden mit der Empathie beschrieben, die nur lange, vertraute Gespräche ermöglichen. Klar wird dabei, dass auf der Ebene der einzelnen Kämpfer und der die Kämpfe erleidenden "Zivilisten", das heisst der Millionen von Subsistenz-Bauern in den Dörfern des weiten und wilden Hinterlandes, die amerikanische Einteilung in Freund, Feind und Neutrale ungültig ist. Sie verliert jede Bedeutung.
Talibanproduktion
Weil die Besetzungsmacht an ihrer Einteilung festhalten will - sie kennt keine andere -, schafft sie sich immer neue Feinde. Sie kreiert Taliban. Der Hauptmechanismus dabei ist, dass es Personen gibt, die sich um des Geldes und der Macht willen den Amerikanern andienen. Sie werden Vertrauensleute. Oftmals werden sie dank der amerikanischen Aufträge schwerreich. Wenn sie andere Afghanen als gefährliche Taliban denunzieren, sind die Amerikaner dankbar dafür. Sie schlagen brutal zu. Die Denunzierten werden des Nacht aus den Betten geholt, geschlagen, gefesselt, abtransportiert, in Lager gebracht, wo man sie nackt auszieht und foltert.
Es kommt vor, dass sie nach Wochen, Monaten oder Jahren mit einer "Entschuldigung" wieder weggeschickt werden. Es kommt auch vor, dass sie in Guantanamo landen. Oftmals wird die Entscheidung darüber von "Sicherheitspezialisten" getroffen, die in einem Büro in Amerika sitzen. Sie haben ein Interesse daran, möglichst viele "Taliban" zu erlegen. Die Vertrauensleute benützen den Mechanismus, um alle die Leute loszuwerden, die ihnen bei ihrem Streben nach Macht und Reichtum im Wege stehen.
Erpressung durch alle Machthaber
Sie verfügen über bewaffnete Schergen, die ihrerseits alle Gelegenheiten ausnützen, um die Bevölkerung, die ihnen ausgeliefert ist, zu erpressen. Zu den Erpressungstechniken gehört, Leute von den Amerikanern gefangen nehmen und foltern zu lassen oder selbst gefangen zu halten, sie dann gegen Zahlung frei zu lassen oder sich gegen Bezahlung dafür einzusetzen, dass sie frei kommen, nur um sie kurz darauf erneut festnehmen zu lassen. Dies dauert solange, wie Grund zu der Annahme besteht, dass sie und ihre Familien noch weiter erpressbar sein könnten.
Die afghanische Polizei übernimmt diese Erpressungsmethoden. Die ehemaligen Kämpfer der Taliban - die Chefs befinden sich in Pakistan - kehren in ihre Dörfer zurück und wollen nichts anderes als dort überleben. Sie haben den Kampf aufgegeben. Doch die neuen Machthaber in den Provinzen, die den Amerikanern zu Diensten sein wollen, lassen sie nicht in Ruhe. Sie denunzieren sie als die "Bösen", und das amerikanische Militär sieht es als seine Aufgabe an, die "Bösen" niederzukämpfen. Wer in eine derartige Denunziationsmühle gerät, hat keine andere Wahl als nach Pakistan zu fliehen. Oder er sucht die Taliban in den Bergen auf und schliesst sich ihnen dort an. Die Amerikaner leben abgesondert. Sie sprechen die Sprache nicht. Sie sind blind gegenüber den Realitäten der Dörfer, in denen der weitaus grösste Teil der Afghanen lebt. Sie werden deshalb Werkzeuge in der Hand ihrer "Verbündeten" oder "Freunde".
Die Wahrheit der Reportage
Derartige Vorgänge in vielfachen Variationen bilden das Geflecht dieses Buches. Die geschilderten Schicksale der Haupt- und Nebenfiguren klingen wahr. Es gibt Berichte, die sich an Hand der zahlreichen Anmerkungen dokumentieren lassen. Oft sind es gerade die unwahrscheinlichsten von allen. Das ganze trägt das Gepräge einer ausgedehnten vielstimmigen Reportage. So detailliert und präzise, dass sie ihre Glaubwürdigkeit in sich selbst trägt.
Die Antwort auf die anfangs erwähnte Frage, wie konnte es kommen.. ? , lautet nun, nach der Lektüre dieses erhellen Buches: Es kam so, wie es kommen musste, weil die Amerikaner in Begriffen dachten, die nicht zu den afghanischen Realitäten passten und weil sie nicht umlernen wollten. Die Afghanen ihrerseits verhalten sich so, wie sie durch die 40 Jahre des Krieges konditioniert worden sind. Sie versuchten zu überleben.
Carlotta Gall: "The Wrong Enemy, America in Afghanistan 2001-2014", Houghton Mifflin Harcourt.
Anan Gopal: "No Good Men Among the Living. America, the Taliban and the War Through Afghan Eyes." Henry Holt, NY.