Täglich tasten sich die westlichen Regierungen etwas näher an eine Antwort auf die Frage heran, ob ein totaler Stopp der Importe von Erdgas und Erdöl aus Russland Putins Regime derart in die Enge treiben würde, dass es den Krieg gegen die Ukraine beenden müsste.
Man rechnet, spekuliert und versucht, die eigene Bevölkerung respektive die Wählerschaft nicht allzu sehr zu beunruhigen. Ehrlich ist bisher nur der deutsche Wirtschaftsminister Habeck, der der Öffentlichkeit vorrechnet, dass «kein Erdgas aus Russland» zumindest für einige Zeit zum Stillstand ganzer Industriezweige führen würde. Bei uns, in der Schweiz – nun ja, Bundesrätin Simonetta Sommaruga verabreicht uns Zückerchen, wenn sie sagt, auch ohne Erdgas müsse hierzulande im nächsten Winter niemand frieren. «Böse» Journalisten gelangen zu anderen Resultaten.
Unberechenbarkeit
Niemand kann die Folgen eines konsequenten Importstopps wirklich berechnen, weder für uns noch für Russland. Derzeit sieht es ja, leider, so aus, als sei Putin entschlossen, den Vernichtungskrieg unerbittlich weiterzuführen, auch eigene Verluste hin oder her. Und möglicherweise rechnet er ja anders als wir hier im Westen? Vielleicht schaut er gerne ab und zu auf die Welt-Sanktionen-Karte und stellt fest: Nicht einmal vierzig Staaten, von global rund 200, haben Sanktionen erlassen – die 27 EU-Mitglieder plus, in Europa, die Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island. In Amerika die USA und Kanada, in Asien Japan, Südkorea und Taiwan, ausserdem Australien und Neuseeland. Auf der asiatischen Landmasse: kein einziges Land, auch keines im Mittleren und Nahen Osten. Afrika: Null, Lateinamerika: ebenfalls Null (Französisch-Guyana ist ein Überseedépartement). Also geht die Rechnung, auf die in Europa gerne verwiesen wird, vielleicht gar nicht auf? Nämlich dass Russland bei voll realisierten Sanktionen 320 Milliarden Dollar an Einnahmen aus dem Export von Erdgas und Erdöl pro Jahr verlieren und daher den Krieg beenden müsse.
Die Konsequenzen für die russische Wirtschaft können tatsächlich nicht lupenrein berechnet werden. Man kann einige Beispiele nennen und auf Erfahrungen verweisen. Nach China verkauft Russland derzeit circa 30 Prozent seines Erdöls. Mindestens so viel, wahrscheinlich mehr, wird in Zukunft geliefert. Indiens Regierung zeigte sich begeistert über eine Offerte Russlands, Öl zum Discount-Preis zu verkaufen. Andere Länder würden oder werden diesem Beispiel wohl gerne folgen. Der Export von Erdgas nach Asien oder Afrika anderseits dürfte an Logistik-Problemen scheitern – in diesem Bereich ist Europa als Absatzmarkt beinahe unersetzbar.
Aber es sind ja nicht nur Gas und Öl, was Russland exportiert: Da gibt es noch eine Anzahl von Metallen, Landwirtschaftsgütern, Waffen und Dünger respektive Kalium. Brasilien etwa importierte vergangenes Jahr neun Millionen Tonnen Düngemittel aus Russland. Und wie der brasilianische Präsident bei seinem Besuch noch am ersten Tag der russischen Attacke in Moskau zu erkennen gab, ändern sich die bilateralen Beziehungen in naher Zukunft nicht.
Offene Fragen
Nach Afrika und Asien verkauft Russland Waffen, und das oft zu so günstigen Bedingungen, dass die staatlichen Kunden einfach nicht widerstehen können oder wollen.
Ist es darüber hinaus vielleicht auch Ideologie, was Russland nach Asien, Afrika und Lateinamerika «verkauft»? Indirekt ja – zumindest verfängt das russische Narrativ hinsichtlich der Gründe für den Krieg gegen die Ukraine in weiten Teilen der Welt. Es beinhaltet im Wesentlichen (abgesehen von der Mär, Russland wolle die Ukraine von «Nazis» befreien), dass die Nato, angeführt von den USA, Russland seit dem Beginn der 1990er Jahre ständig massiver bedrohe. Verweise auf solide Forschungsarbeiten (z. B. auf die Publikation von Mary Elise Sarotte mit dem Titel «Not one Inch»), die sich mit den Details der (tatsächlich von Widersprüchen durchzogenen) Beziehungen zwischen Nato-Ländern und Russland befassen, helfen nichts in Bezug auf die Meinungsbildung in breiten Regionen dieser Welt. Was bleibt, ist das «Gefühl» eines arroganten Westens am Gängelband der USA – jener Supermacht, die sich nicht scheute, beispielsweise, 2003 den Krieg gegen den Irak zu lancieren, und 20 Jahre lang in Afghanistan Krieg führte – angeblich (so sieht das die «Welt»), um die Menschen dort vom Glück der Demokratie zu überzeugen.
Was auch bleibt, ist die befremdende Erkenntnis, dass das Schicksal der Frauen, Männer, Kinder in der Ukraine offenkundig fast nur uns, im Westen, an Herz und Nieren geht. Immerhin so weit, dass wir uns auf Einschränkungen aufgrund eines Import-Stopps für Erdgas und Öl aus Russland wenigstens theoretisch gefasst machen.
Bisweilen stelle ich mir die Frage: Wie würden wir reagieren, was würden wir tun, wenn in Lateinamerika oder Afrika ein grosses Land ein kleines so brutal attackieren würde wie Russland die Ukraine? Brasilien gegen Uruguay zum Beispiel. Oder Kongo gegen Rwanda. Gewiss, der Uno-Sicherheitsrat würde dringlich einberufen, und möglicherweise könnte dort sogar eine Resolution gegen den Aggressor verabschiedet werden (was im Fall der Ukraine nicht möglich war, weil Russland im Rat das Vetorecht hat). Ein paar Sanktionen gäbe es auch – kein Tropenholz mehr aus Brasilien, aber könnte und wollte die europäische Landwirtschaft auch auf Soja verzichten? Da träte die Agrarlobby in Aktion, und gegen sie irgend etwas durchzusetzen, ist/wäre schwierig. Dann: Klar, keine Diamanten mehr aus der DR Kongo (aber schon bei Coltan wäre die hoch entwickelte Welt wohl zögerlich, denn das brauchen wir für so ziemlich alles, was mit Computern zu tun hat), und dann würde das Kapitel allmählich geschlossen …