Diese Erscheinung erklärt sich durch zwei Entwicklungen: Erstens wurden in den südlichen, paschtunischen Landesteilen zahlreiche Urnen vor den Wahlen geschlossen, weil in den Augen der Unabhängigen Wahlkommission nicht genügend Sicherheit für echte Wahlen bestand. Die Schliessungen betrafen über 1000 der vorgesehenen 6835 Wahlbüros. Die Wahlkommission erklärte nach den Wahlen 1,3 Mio Stimmen für ungültig wegen Wahlbetrugs, das war fast ein Viertel der abgegebenen Stimmen. Auch die Mehrzahl der annullierten Stimmen befand sich in den paschtunischen Landesteilen.
Furcht vor Taleban
Zweitens war die Wahlbeteilung in den paschtunischen Provinzen und Teilprovinzen bedeutend geringer als in den Regionen mit anderen Ethnien, wie den Hazara, den Tajiken und den verschiedenen Gruppen türkischer Sprachen. Viele Paschtunen fürchteten die Rache der in ihren Gebieten mächtigen Taleban, wenn sie teilnähmen. Die Taleban hatten mit "Bestrafung" gedroht, wenn ihrem Gebot der Stimmenthaltung nicht Folge geleistet werde. Andere Paschtunen dürften sich der Stimme enthalten haben, weil sie den Taleban zuneigten, und noch andere, weil sie nichts mit dem Karzai-Regime zu tun haben wollten.
In der Provinz Ghazni, in welcher eine Mehrheit von Paschtunen lebt mit Tadjiken und Hazara als Minderheit, haben elf Hazara in allen elf Wahlkreise gesiegt, obwohl sie die kleinste der Ethnien sind.
Karzai gilt als Quisling
Präsident Karzai ist Paschtune und wird gerade deshalb von seinen paschtunischen Feinden, Taleban wie anderen Unzufriedenen, als ein Quisling gesehen, der mit dem amerikanischen Feind zusammenarbeitet und seinen finanziellen und politischen Nutzen aus dieser Zusammenarbeit zieht. Seit dem Eingreifen der amerikanischen Supermacht im Jahre 2001 stützt sie sich auf das von ihr eingesetzte Karzai Regime, auf die bittersten afghanischen Feinde der Paschtunen, die damals letzte afghanische Macht, die den Taleban noch Widerstand leistete, die tadjikischen Kämpfer der "Nördlichen Allianz", gegründet und damals noch kommandiert von dem tajikischen Nationalhelden des Widerstandes gegen die Russen, Ahmed Schah Mas'ud, welcher seinerseits zwei Tage vor dem 11. September von zwei Terroristen der al Qaida ermordet wurde. Man muss an diese Zusammenhänge erinnern, die in Europa bekannt sind aber schon teilweise oder gänzlich vergessen. In Afghanistan sind sie so präsent, dass sie bis heute politische Nachwirkungen zeigen.
Karzai vor der Bildung einer neuen Regierung
Für die künftige Regierung, welche Karzai nun bestellen muss, bedeutet das schlechte Abschneiden der Paschtunen, dass er einige seiner bisherigen Günstlinge und Vertrauten, die die Wahlen verloren, nun nicht mehr zu Ministern ernennen kann. Doch natürlich ist er in der Lage, seinen Vertrauten auch ausserhalb der Regierung einträgliche Positionen zur Verfügung zu stellen.
Für Afghanistans Zukunft bedeuten die Stimmenverluste der Paschtunen, die sich schon vor den Wahlen über ungenügende Repräsentation in der Regierung beklagt hatten, dass sie sich noch mehr marginalisiert fühlen werden. Das kann die Zuneigung zu den Taleban, die heute schon viele empfinden, nur noch verstärken. Das neue Parlament, in dem das ehemalige Staatsvolk der Paschtunen an Sitzen verloren hat, kann schwerlich dazu beitragen, dass die zerstrittenen Ethnien Afghanistans nun wieder besser zusammenarbeiten.
Demokratie ohne Parteien
Weitere Machtverschiebungen nach den Wahlen sind für die Aussenwelt schwer zu ermessen. Parteien gab es in den letzten Wahlen keine, obwohl einige Klientelnetze unter dem Namen von Parteien in den Wahlkampf zogen. Die Kandidaten erhielten überall ihre Stimmen nicht auf Grund eines politischen Programms, sondern als Chefs, Unterchefs und Gefolgsleute von Gewicht, die zu unterschiedlichen Klientelnetzen gehörten. Alle haben das gleiche "Programm", nämlich ihrer Klientel soweit wie möglich zu nützen. Das heisst, ihren Anhängern und den Anhängern dieser Anhänger soweit irgend möglich Vorteile zu verschaffen. Was auch bedeutet, diese Vergünstigungen soweit irgend möglich dem fremden Klientelnetzen zu entziehen.
Die Kandidaten in den verschiedenen Wahlkreisen bestanden fast immer aus Vertretern von konkurrierenden Klientelsystemen. Wer gewinnt, gelangt durch den Parlamentssitz in die Nähe der Macht und ist daher in der Lage, zum Vorteil seiner Anhängerschaft zu handeln. Wenn er dabei Erfolg hat, stossen schnell neue Anhänger zu seiner Gruppe. Doch ihr Kreis bleibt normalerweise auf eine Ethnie und eine Religionsrichtung beschränkt. Dies hat damit zu tun, dass normalerweise über diese ethnischen und religiösen Grenzen hinweg nicht geheiratet wird. Alle die Klientelnetze sind letzten Endes auf Grossfamilien gestützt, und diese werden durch die Heiratskonventionen innerhalb der sprachlichen und religiösen Gemeinschaften gebildet.
Machthaber konzentrieren Klientelnetze in ihrer Hand
Ein regionaler Machthaber ist aus diesen Gründen eine Person, der eine Mehrzahl von Klientelnetzen hinter sich hat. Er verheisst seinen Anhängern den besten Zugang zu politischen und finanziellen Vorteilen und versucht, konkurrierende Netzwerke zu überrunden. Ein nationaler Machthaber tut das selbe auf nationaler Ebene. Er fällt Rivalen zum Opfer, wenn es diesen gelingt, mehr und gewichtigere Solidaritätsnetze hinter sich zu vereinen. Milizen, Militärs und offizielle Sicherheitskräfte gehören ebenfalls zu solchen Netzwerken.
Der Einzug ins Parlament bedeutet unter diesen Umständen eine an der Urne gewährte Besiegelung und Bescheinigung der Reichweite und des Eigengewichtes eines der Netzwerkes gegenüber seinen lokalen Rivalen. Wahlbestechung muss in diesem Rahmen werden sehen. Das siegreiche Netzwerk ist siegreich nicht nur, weil die meisten Personen ihm angehören sondern auch, weil die meisten Gelder ihm zufließen.
Karzai, Geschäftsmann ohne eigene Klientel
Der Fall Karzai unter diesen Gesichtspunkten betrachtet stellt sich folgendermassen dar: Karzai war ein Geschäftsmann mit amerikanischer Ausbildung, der nicht als Klientelchef einflussreich wurde, sondern zunächst als Mitarbeiter der amerikanischen Erdölgesellschaft UNOCAL, die sich in den 90er Jahren zusammen mit einem saudischen Partner zum - nie erreichten - Ziel gesetzt hatte, eine Erdgasleitung von Turkmenistan durch Afghanistan und Pakistan hindurch an den Indischen Ozean zu legen. Dass er Präsident wurde, verdankte Karzai nicht eigenen Klientelnetzen, sondern den Amerikanern, die ihn ernannten. Als Präsident muss er sich so rasch wie möglich ein eigenes Klientelnetz schaffen, das vor dem Abzug der Amerikaner alle anderen Netze und Ansammlungen von Netzen ausstechen muss, wenn er dauerhaft an der Macht bleiben will. Die sprichwörtliche "Korruption", die er selbst entfaltete und bei seinen Anhängern duldet, dient diesem Zweck. Sie soll ihm rasch ein politisches Eigengewicht verschaffen, indem er mehr Gunstt erweisen kann als alle anderen Konkurrenten.
Wie die wahlen nun gezeigt haben, ist er aber an jene ethnisch und religiös bestimmte Grenzen gestossen. Unter den Paschtunen, seinen engeren Landsleuten, vermochte er kaum Anhänger zu gewinnen ausser Individuen, die er direkt mit Geldern kaufte. Die entscheidenden paschtunischen Netzwerke haben ihm die Gefolgschaft versagt.
Taleban unterwandern Paschtunen
Die Taleban sind dabei, ihrerseits die Netzwerke der Paschtunen an sich zu ziehen und sich selbst an ihre Spitze zu stellen. Sie tun dies, indem sie nachzuweisen suchen, dass es ohne sie keinem Frieden im Lande geben kann, weil Karzai und die ihn stützenden amerikanischen und Nato Soldaten den Frieden aus eigener Kraft nicht zu erreichen vermögen. Heute sind die Taleban bereit, von ihrer "Mitwirkung" beim Aufbau eines afghanischen Friedens zu sprechen, die möglich werde, sobald die fremden Truppen abzögen. Doch man sollte sich keinen Illusionen darüber hingeben, dass diese "Mitwirkung" von dem Augenblick an, in dem die fremden Truppen als Gegenmacht verschwinden, nichts anderes sein wird, als ein "Friedensdiktat" unter islamistischen Vorzeichen.