Neben Bern sind dies die Kantone Basel-Stadt, Waadt und Neuenburg. Während in letzteren drei Kantonen die Parlamentsmandate zu 43 bis 47 Prozent von rot-grünen Parteien besetzt sind, ist dies in Bern nur zu 32,5 Prozent der Fall. Wie ist in Bern eine rot-grüne Regierungsmehrheit möglich?
Jahrzehntelang hatten sich die Bürgerlichen, namentlich der SVP, im Kanton Bern im sogenannten «freiwilligen Proporz» geübt. Seit 1946 lautete die Formel für die Zusammensetzung des Berner Regierungsrates «4 SVP – 2 FDP – 3 SP», ab 1990 – nach der Verkleinerung der Regierung von 9 auf 7 – «3 SVP – 2 FDP – 2 SP». Im Zuge der Berner Finanzaffaire gab es 1986/1990 ein rot-grünes Intermezzo («3 SVP –2 SP – 2 Grüne»).
Am Anfang stand ein taktischer Fehler der Bürgerlichen
Bei der Nomination der Kandidaturen für die Wahlen 2006 stellte die SVP als stärkste Partei den «freiwilligen Proporz» ohne inhaltlich Begründung zur Disposition, indem sie vier Kandidaturen aufstellte. Die FDP stützte dieses Ansinnen und nominierte ihrerseits zwei. Damit zogen die Bürgerlichen mit einer Wahlliste mit sechs Kandidaturen in die Wahlen, Rot-grün mit vier. Für die Bürgerlichen ging der Schuss nach hinten los: SVP und FDP verloren je ein Mandat (SVP: 2; FDP: 1). Dagegen steigerten sich SP und Grüne um je ein Mandat auf 3 (SP) bzw. 1 (Grüne) und stellten so die Regierungsmehrheit.
Vier Jahre später hatten die bürgerlichen Herausforderer das Handicap, dass sie – wegen der Abspaltung der BDP von der SVP – zerstritten waren. So erstaunte es nicht, dass sie das Ziel einer «bürgerlichen Wende» in der Kantonsregierung verpassten und Rot-grün seine Mehrheit behalten konnte. Grosse Verliererin dieser Regierungswahlen war namentlich die SVP: Sie musste sich als stärkste Partei mit einem Mandat in der Regierung begnügen und ihrer Rivalin, der BDP, ihr zweites Mandat überlassen.
Bürgerlicher «Umschwung» knapp verpasst
Bei den jüngsten Wahlen von 2014 jedoch traten die Bürgerlichen wieder geschlossen an, mit den drei Bisherigen und mit Manfred Bühler, einem jungen SVP-Politiker aus dem Berner Jura. Rot-grün stellte sich mit seinen vier Bisherigen zur Wiederwahl. Mit der Kandidatur von Bühler signalisierten die Bürgerlichen, dass sie den Jurasitz des Sozialdemokraten Philippe Perrenoud angreifen und erobern wollten. Dieser stand wegen seiner Gesundheitspolitik und einiger Pannen im Visier der Kritik der Bürgerlichen sowie der lokal-bernischen und der konservativen Wochenpresse.
Anders als bei den Wahlen von 2010 kamen bei den Regierungsratswahlen nicht mehr die Rot-grünen auf die ersten Plätze, sondern die bürgerlichen Herausforderer, die sich im Vergleich zu 2010 stark steigerten und relativ kompakt abschnitten. Platz 1 nahm die BDP-Frau Beatrice Simon ein (58% Stimmenanteil), gefolgt vom SVP-Vertreter Christoph Neuhaus und – auf Platz 4 – von Hans-Jürg Käser (FDP). Auf Platz 3 kam der Grüne Bernhard Pulver (53%), der 2010 noch das beste Ergebnis erzielt hatte. Die Plätze 5 und 6 nahmen Andreas Rickenbacher und Barbara Egger-Jenzer ein (beide SP), während der südjurassische SVP-Vertreter Bühler auf Platz 7 kam (43%). Philippe Perrenoud, der amtierende Sozialdemokrat aus dem Südjura, erreichte nur einen Stimmenanteil von 39 Prozent. Aufgrund der gesetzlichen Vorgaben für die Bestimmung des südjurassischen Sitzes in der Kantonsregierung wurde jedoch er gewählt.
Geneviève Aubrys Debakel von 1986 als Auslöser
Jahrzehntelang wurde dem jurassischen Kantonsteil in der Berner Regierung nach Gewohnheitsrecht einen Sitzanspruch gewährt. Als sich die Jurafrage nach dem Zweiten Weltkrieg politisch zuspitzte, wurde 1950 in einem Verfassungsartikel die Stellung der beiden Landessprachen im Kanton gefestigt und dem jurassischen Kantonsteil zwei Regierungssitze garantiert. Nach der Abtrennung des Kantons Jura (1978) wurde dieser Anspruch auf einen Sitz gesenkt. Ein konkretes Prozedere der Bestimmung dieses Sitzes gab es nicht, massgebend war die absolute Stimmenzahl im Kanton.
Als 1986 in Bern die schweizweit erste kantonale rot-grüne Regierungsmehrheit gewählt wurde, wurde das Wahlprozedere des «Jurasitzes» zur Diskussion gestellt. Hintergrund war, dass sich die bürgerlichen Parteien FDP und SVP im Zuge des Berner Finanzaffaire entzweit hatten und getrennt in die Wahlen zogen. SVP und auch SP brachten ihre Kandidaten im ersten Wahlgang durch. Im zweiten Wahlgang standen sich je zwei Kandidierende von FDP und Grünen (Freie Liste) gegenüber, wobei die Grünen auf den Support der Linken zählen konnten. Die SVP-Wählenden liessen dagegen die FDP im Regen stehen. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung von 22 Prozent (erster Wahlgang: 38%) wurden die beiden Grünen gewählt: Der politisch kaum bekannte Tierarzt aus Reconvilier, Benjamin Hofstetter, erhielt 68 054 Stimmen, Leni Robert 66 282 Stimmen. Nicht gewählt wurden der FDP-Mann Charles Kellerhals (65 187 Stimmen) und die profilierte, prononciert berntreue FDP-Nationalrätin Geneviève Aubry (60 391).
Das «geometrische Mittel»
Das Faktum, dass Geneviève Aubry in den drei Bezirken des Berner Juras mit 7 339 Stimmen fast doppelt so gut abschnitt wie Benjamin Hofstetter (3 813 Stimmen) und trotzdem nicht als Vertreterin des Südjuras gewählt wurde, wurde als ungerecht empfunden. Die Unterlegene kritisierte, dass der Kanton Bern dem Südjura die Vertretung in der Regierung aufgezwungen habe. Im Rahmen der Totalrevision der Berner Kantonsverfassung von 1993 wurde darauf ein Spezialverfahren für den Jurasitz festgelegt, das zwar den Kanton als Grundgesamtheit für die Wahl beibehielt, diese Stimmen aber mit jenen des Südjuras gewichtete. Damit wurde der Südjura, der bevölkerungsmässig fünf Prozent des Gesamtkantons ausmachte, gewissermassen gleich behandelt wie der ganze Kanton. Es genügte somit nicht mehr, nur im Gesamtkanton gut abzuschneiden, es genügte aber ebenso wenig, nur im Südjura stark zu sein. Gewählt als Vertreter des Südjuras sollte jene Kandidatur sein, die in beiden Einheiten insgesamt am meisten Stimmen erhielt. Berechnet wird dies, indem die erhaltenen Stimmen im Südjura und im ganzen Kanton miteinander multipliziert werden und daraus die Wurzel gezogen wird – das fameuse «geometrische Mittel».
Südjura gibt Ausschlag für Perrenoud
Bis zu den jüngsten Wahlen kam diese Berechnung nie zur Anwendung. Die Vertreter des Berner Juras wurden jeweils im ersten Wahlgang gewählt. Nicht so bei den jüngsten Wahlen. Bei diesen holte der SVP-Vertreter Bühler im Gesamtkanton 94‘957 Stimmen, SP-Mann Perrenoud 86‘469 Stimmen. Im Südjura jedoch lag Perrenoud mit 5‘889 Stimmen vor Bühler (4‘919 Stimmen). Werden nun Perrenouds Stimmen im Kanton und im Südjura miteinander multipliziert und wird dann die Wurzel daraus gezogen, erhält das geometrische Mittel für Perrenoud einen Wert von 22‘566. Für Bühler beträgt dieser 21‘612. Perrenouds Vorsprung im Südjura (970 Stimmen) fiel also stärker ins Gewicht als Bühlers Vorsprung im Gesamtkanton (8‘488 Stimmen). Damit Bühler Perrenoud hätte schlagen können, hätte er entweder im Restkanton noch 8‘564 Stimmen oder im Südjura noch 420 zusätzliche Stimmen gebraucht.
In ersten hitzigen Kommentaren wurde von einigen auf der Verliererseite die Legitimität der Wahl von Philippe Perrenoud in Zweifel gezogen. Tags darauf aber hatten sich die Gemüter wieder beruhigt. Man erinnerte sich wohl auch an die Volksabstimmung der südjurassischen Bezirke über einen allfälligen Wechsel zum Kanton Jura vom November 2013, als seitens des Kantons Begriffe wie Selbstbestimmung und Respekt vor Minderheiten beschworen wurden, und an das klare Votum der südjurassischen Bezirke für den Verbleib beim Kanton Bern.
Massive Verluste der BDP. GLP und SVP im Aufwind
Die markanteste Veränderung bei den kantonalbernischen Parlamentswahlen waren die enormen Mandatsverluste der BDP (-11) und die nicht minder beeindruckenden Mandatsgewinne von GLP (+7) und SVP (+5). Diese Veränderungen erfolgten alle flächendeckend. Die BDP verlor in jedem Wahlkreis ein bis zwei Mandate, ausser im Südjura, wo sie kein Mandat inne hatte. Überdurchschnittlich gross waren die Verluste in ihren bisherigen Hochburgen, hauptsächlich in den Wahlkreisen Biel-Seeland, Mittelland-Süd und Mittelland-Nord. In diesen hatte sie 2010 eine Parteistärke von rund 19 Prozent, nach den Wahlen 2012 beträgt sie noch rund 13 Prozent.
Die GLP gewann in sieben Wahlkreisen je ein Mandat, den grössten Stimmenzuwachs erfuhr sie vor allem in den Wahlkreisen Bern, Mittelland-Süd und Mittelland-Nord, wo sie auch ihre relativen Hochburgen hat (neu mit Parteistärken von 10% bzw. rund 8%). Die SVP legte in sämtlichen Wahlkreisen zu, am stärksten (3–4 Prozentpunkte) in den Wahlkreisen Oberland, Thun, Emmental und Oberaargau. Nach den jüngsten Wahlen verfügt die SVP in diesen Wahlkreisen über eine Parteistärke von 34 bis 42 Prozent.
FDP und SP können ihre historischen Tiefschläge von 2010 nicht wettmachen
Kleinere Veränderungen gab es bei der SP, welche trotz leichtem Stimmenzuwachs (+0,3 Punkte) 2 Mandate einbüsste. In den Wahlkreisen Bern und Emmental standen kleinere Verluste von 1 bis 2 Prozentpunkten an, im Berner Jura steigerte sie sich um 5,6 Punkte auf 19,2 Prozent. Die Hochburg der SP bleibt die Stadt Bern (25,2%), am schwächsten ist sie im Oberland (12,9%). Die Grünen konnten ihre Mandatszahl insofern stabil halten, als der Sitzverlust in der Stadt Bern (Parteiwechsel während der vergangenen Legislaturperiode zur GLP) mit dem Sitzgewinn der linksalternativen GP/DA kompensiert wurde. Letztere politisiert eigenwillig, sie zählt sich aber zu den Grünen Schweiz. Trotz leichter Stimmenverluste bleibt die Stadt Bern die Hochburg der Grünen. Ihre Parteistärke liegt mit23,2 Prozent nur gering unter jener der SP. Die kleinen Linksparteien erreichten übrigens in der Stadt Bern einen Stimmenanteil von 3,9 Prozent.
Die FDP vermochte sich in etwa zu halten. Sie verlor leicht an Stimmen in der Stadt Bern und im Südjura, in den Wahlkreisen Mittelland-Süd und Mittelland-Nord legte sie leicht zu. Den Verlust des Mandates im Südjura (an die SVP) kompensierte sie mit einem Mandatsgewinn im Wahlkreis Mittelland-Süd (von der BDP). Dramatisch ist jedoch das Ergebnis der FDP in der Stadt Bern: Hier liegt die einst stolze Partei mit einer Parteistärke von 8,6 Prozent hinter SP, Grünen, SVP und GLP auf Platz 5. Nachdem die EVP ihrer Listenverbindungspartnerin CVP das letzte Grossratsmandat entrissen hatte, verschwindet die CVP nach über neunzig Jahren aus dem Berner Grossen Rat.
Vertreter von SP und FDP zeigten sich in ihren ersten Kommentaren mit dem Erreichten zufrieden. Beide konnten stimmenmässig das Ergebnis der Wahlen von 2010 halten (bzw. minim verbessern). Mit Blick auf die Wahlergebnisse der letzten Jahrzehnte aber heisst dies, dass diese beiden historischen Parteien die Stimmenverluste der Wahlen vor vier Jahren von je rund 7 Prozentpunkten nicht mehr wettzumachen gedenken. Zu sehr steht ihnen zurzeit wohl die GLP, die Wahlgewinnerin, vor der Sonne.
Die kantonalen Parteistärken der grösseren Parteien waren bei den Grossratswahlen 2012 folgende: 29% (SVP), 19,1% (SP), 11,2% (BDP), 10,6% (FDP), 10,1% (Grüne), 6,7% (GLP) und 6.4% (EVP).
Starke bürgerliche Mehrheit im Parlament
Bei den Wahlen 2014 hat die SVP ihre Vormacht im 160-köpfigen Grossen Rat auf 49 Mandate ausgebaut und ihren Stand vor der Abspaltung der BDP bereits übertroffen. Zweitstärkste Partei ist die SP mit 33 Mandaten. Darauf folgen FDP (17), Grüne (16), BDP (14), EVP (12) und die GLP (11). Den rechten Rand markiert die EDU mit 5 Mandaten, während der linksautonomistische PSA (3 Mandate) ihre Berner Politik durch eine jurassische Brille betreibt.
Der Grosse Rat ist also nach wie vor klar bürgerlich. SVP, FDP und BDP verfügen zusammen über 85 Mandate und dürfen meistens auch auf die rechtskonservative EDU zählen. Dagegen sind SP und Grüne zusammen so stark wie die SVP. Selbst wenn es Rot-grün in bestimmten Sachfragen gelingen dürfte, die GLP und die EVP mit an Bord zu holen, reichte dies nicht für eine Mehrheit. Gerade in finanz- und wirtschaftspolitischen Fragen ist die GLP kaum ein Allianzpartner für das rot-grüne Lager, in anderen Fragen wie der Umwelt- und Bildungspolitik hingegen schon. Die erstarkte GLP könnte Rot-grün also das Leben zumindest in gewissen Sachfragen leichter machen.
Zwei Botschaften für die BDP
Interessant wird sein zu sehen, welche Schlüsse die Berner BDP aus dem Wahlergebnis ziehen wird, denn eigentlich hat sie zwei Botschaften erhalten: Bei den Regierungsratswahlen wurde das Zusammenspannen mit SVP und FDP honoriert und Beatrice Simon führte das kompakt abschneidende bürgerliche Bündnis als strahlende Siegerin an. Im Parlament dagegen dürfte sich die relativ grosse Nähe zur SVP, von der man sich erst vor sechs Jahren getrennt hatte, als kontraproduktiv erwiesen haben.
Dieser massive Einbruch der BDP in ihrem wichtigsten Kanton gab auch der nationalen Partei zu denken: Nicht nur, dass die BDP in ihrer Hochburg empfindlich geschwächt wurde, es tauchte auch die Frage auf, ob hier die Abspaltung von der SVP zu wenig gründlich erfolgt sei und die BDP letztlich kein eigenständiges Profil entwickelt habe. Die kommenden Wahlen in den andern Gründerkantonen Graubünden und Glarus werden Auskunft geben, ob bei den Berner Wahlen lokale Besonderheiten eine Rolle gespielt haben oder ob die BDP generell ein inhaltliches Problem hat.