Am Abend des 6. August veröffentlichte die Hamas in Doha eine Erklärung, wonach der Hamas-Chef in Gaza, Jahja al-Sinwar, zum Vorsitzenden des Politbüros der Organisation gewählt worden sei. Wie er dieses Amt von Gaza aus ausfüllen will und kann, wurde nicht erwähnt.
Der 62-jährige al-Sinwar, genannt Abu Ibrahim, stammt aus Khan Yunis im Gazastreifen und gilt als puritanisch-asketischer Eiferer und militanter Verfechter eines religiösen Ultranationalismus. Er agiert offen als Gegenspieler des sechs Jahre älteren Khalid Masch‘al aus dem Westjordanland, der von 1996 bis 2017 das Politbüro der Hamas leitete.
Die Wahl des «Kommandanten» aus Gaza zeigt, dass die Führungskader der Hamas ihre Organisation ganz der ideologischen Linie al-Sinwars unterordnen wollen. Die Umsetzung des mittlerweile 12. Abkommens mit der PLO über die Umwandlung des Verbandes in eine politische Organisation innerhalb der PLO dürfte damit in weite Ferne gerückt sein.
Iranische Intervention
Nach übereinstimmenden arabischen Presseberichten hatte der Schura-Zentralrat der Hamas, gewissermassen ihr Zentralkomitee, zunächst seinen bisherigen Vorsitzenden Ismail Muhammad Darwisch zum neuen Chef des Politbüros bestimmt. Die von vielen, wohl auch prominenten Hamas-Vertretern im Ausland erwartete Wiederwahl des 2017 abgelösten Khalid Masch’al, der sich noch der alten Muslimbruderschaftstradition der Hamas verpflichtet fühlt und deshalb 2012 Damaskus fluchtartig verlassen hatte, wurde von al-Sinwar und seinen Mitstreitern verhindert. Al-Sinwar wollte einen explizit pro-iranischen Führer, der auch gute Beziehungen zu Syrien und der Hisbollah unterhält. Die Wahl fiel zunächst auf den in Katar lebenden Parteibürokraten Darwisch. Dieser galt vielen als geeigneter Kompromisskandidat zwischen dem politischen und dem militärischen Flügel der Hamas. Darwisch war erst im Oktober 2023 eingesetzt worden, nachdem sein Vorgänger bei einem israelischen Luftangriff in Gaza getötet worden war. Iranische Vertreter in Doha hatten sofort Einspruch gegen diese Wahl erhoben. Selbst für Hamas-Aktivisten überraschend konnte Iran hinter verschlossenen Türen durchsetzen, dass die Wahl annulliert und al-Sinwar zum Chef des Politbüros ernannt wurde.
Interner Putsch
Die Einsetzung von Jahja al-Sinwar als Chef des Hamas-Politbüros offenbart eine radikale Machtverschiebung innerhalb der Organisation: Erstens findet eine Zentralisierung der bisher diffusen internen Machthierarchie statt, zweitens wird die militärische Ausrichtung einer politischen Strategie vorangestellt, drittens wird das Machtzentrum in Gestalt al-Sinwars als «Führer der Hamas» weiter personalisiert, viertens verlieren die Exilgruppen in Kairo, Beirut, Istanbul und Doha ihre politische Schlüsselstellung, fünftens wird die Hamas politisch, militärisch und strategisch iranischen Interessen unterworfen, sechstens zeichnet sich ein Zusammengehen mit dem vom Iran unterstützten Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) ab, siebtens werden neue Hamas-Formationen in der Westbank aufgebaut, achtens übernimmt der Iran faktisch eine Art Vormundschaft, sollte al-Sinwar nicht entscheidungsfähig sein. Längerfristig, so die Befürchtung, würde sich die Hamas den ideologischen Staatszielen Irans unterordnen und einem «Iranisierungsprozess» ähnlich dem im Jemen mit den Ansarullah (Huthi) unterliegen. Dies ruft abstruse arabische Verschwörungstheorien auf den Plan, wonach Iran hinter der gezielten Tötung von Ismail Hanija stecke.
Ein Sicherheitschef an der Macht
Al-Sinwars Rolle in der Hamas war nie die eines Predigers oder politischen Aktivisten. Bereits vor seiner Verurteilung durch ein israelisches Militärgericht im Jahr 1989, nur zwei Jahre nach der offiziellen Gründung der Hamas, agierte er als Sicherheits- und Geheimdienstchef der Organisation und baute den berüchtigten Sicherheits- und Propagandaapparat («Majd») auf, der für die Verfolgung und Ermordung von «Kollaborateuren» verantwortlich war. Al-Sinwar verbrachte 22 Jahre wegen Mordes an vier Palästinensern in einem israelischen Gefängnis und kam erst im Rahmen des Gefangenenaustausches 2011 im Austausch gegen die Freilassung des Soldaten Gilad Shalit frei. Er und sein jüngerer Bruder Muhammad machten daraufhin Karriere in der Hamas im Generalstab der al-Qassam-Einheiten der Hamas. Während des ersten politischen Erneuerungsprozesses der Hamas im Jahr 2017 wurde al-Sinwar zum Leiter des politischen Büros der Hamas in Gaza ernannt, während sein Bruder Stellvertreter des Militärchefs Muhammad al-Deif wurde.
Al-Sinwar war einer der Architekten der Hinwendung zum Iran, die die ideologische Bindung der Hamas an die Muslimbruderschaft lockerte. Diese Hinwendung zeichnete sich bereits 2015 zeitgleich mit Beginn der russischen Intervention in Syrien ab und führte 2017 zur Absetzung von Mash’al, der sich als Verwalter des Erbes der Muslimbruderschaft verstand. Dieser Iranisierungsprozess erreicht nun einen neuen Höhepunkt. Ob al-Sinwar auch inhaltliche Eckpunkte der iranischen Staatsideologie übernimmt, ist allerdings noch offen. Anders als für die Huthi im Jemen ist die Anpassung an die messianisch-schiitischen Weltbilder der islamischen Ordnung in Iran für die sunnitisch geprägte Hamas schwierig.
Für die Iraner ist dies leichter. Schon jetzt wird Ismail Hanija zusammen mit dem 2020 getöteten Chef der al-Quds-Einheiten der iranischen Revolutionsgarden, Qassem Soleimani, und dem Hisbollah-Stabschef Fuad Shukr als Märtyrer ikonisiert. Gleichzeitig behauptet und betont die iranische Propaganda eine enge Beziehung zwischen dem iranischen Revolutionsführer Khamenei und al-Sinwar.
Iranische Prioritäten
Die «Iranisierung» der Hamas hat also hohe Priorität und überlagert wohl auch die militärischen Planungen, die als Reaktion auf die gezielten Tötungen von Schur in Beirut und Hanija in Teheran entworfen wurden. Hier scheint sich in der iranischen Führung ein Umdenken hinsichtlich der Vergeltungsdrohungen abzuzeichnen. Offenbar zeigen auch die Abschreckungsmassnahmen Wirkung, mit denen die USA und Grossbritannien eine mögliche iranische Militäraktion eindämmen wollen. Das Regime in Teheran hat wohl erkannt, dass ein Angriff auf Israel die gesamte Ordnung der Islamischen Republik gefährden würde. Deshalb behauptet es nun, allein die Abschreckung durch die iranische Drohung habe Israel in Angst und Schrecken versetzt und die israelische Regierung von Präventivschlägen abgehalten.
Aber das ist nur ein Nebenaspekt. Entscheidend für das Regime wird sein, ob die Risiken eines Vergeltungsschlages mit den ideologisch fixierten Staatszielen der Islamischen Republik vereinbar sind und ob und inwieweit das Regime für eine Kriegspolitik der Hamas und anderer Verbündeter, die es selbst nicht vollständig kontrollieren kann, einstehen muss. Immerhin hat es nun die Wahl al-Sinwars und damit eines seiner Gefolgsleute an die Spitze der Hamas durchgesetzt und damit eine Situation geschaffen, die mögliche Alleingänge der Hamas weitgehend eindämmt. Diese Einbindung der Hamas dürfte dem Regime wichtiger sein als eine auch nur geringe militärische Eskalation, deren Folgen das Regime nicht kontrollieren könnte. Khamenei hat bisher immer dem ideologischen Staatsziel den Vorrang gegeben; ob er diese Strategie durchhalten kann, hängt von der Machtposition des Systems, aber auch von aussenpolitischen Faktoren, vor allem von Russland, ab. Es ist zu befürchten, dass Khamenei auf «Revanche» setzen wird.