„U.S. ATTACKED“ : Die Schlagzeile der „New York Times“ am 12. September 2001 brachte die Tragweite des Geschehens auf den Punkt. Am 11. September 2001 fanden in New York und Washington nicht einfach Terror-Anschläge oder Attentate statt, wie die Ereignisse von 9/11 oft bezeichnet werden. Für die USA war es ein Angriff. Erstmals in der Geschichte der USA wurde das Festland von feindlichen Kräften attackiert. Ein traumatisches Ereignis.
Unverwundbar
Jahrzehntelang hatten die Amerikaner und auch wir in Europa einen Angriff der Sowjetunion erwartet. Der Kalte Krieg war allerdings durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ gezähmt worden. Wir konnten uns sicher fühlen, weil die andere Seite wusste, dass wir sie auch zerstören konnten, wenn sie uns zerstören wollte. Diese Doktrin, genannt „MAD“ (Mutually assured Destruction), funktionierte am 11.9. 2001 nicht. Die USA, die sich in der Schlussphase des Kalten Krieges mit einem Raketenschirm Marke „Star War“ unverwundbar machen wollten, wurden von nur mit Messern bewaffneten Terroristen angegriffen. Sie waren bereit, sich selber zur Waffe zu machen und sich dabei zu zerstören. Jetzt war nicht mehr von „MAD“ ( verrückt, wahnsinnig ) sondern von „Asymmetrischem Krieg“ die Rede.
Ich befand mich damals auf einer Reise durch die USA. Als ehemaliger USA-Korrespondent (1976 – 1982) wollte ich erfahren, ob und wie sich die Welt der Amerikaner zehn Jahre nach dem Verschwinden des Feindes Sowjetunion (1991) geändert habe. Meine Frau, eine Russin, und ich sprachen mit Amerikanern, Immigranten aus Osteuropa und Russland, meistens in „small town america“, fernab von den grossen Städten und Highways.
Belagerungsstimmung
Es war kein Horrorfilm, den wir am 11.9. morgens in einem Hotelzimmer in San Francisco zu sehen bekamen, sondern eine Live-Reportage von den brennenden Twin-Towers des „Welthandelszentrums“. Das Thema unserer Reise änderte sich. Die USA hatten nun plötzlich wieder einen Feind. Und es herrschte Belagerungsstimmung. Zweimal wurden wir von Agenten der Bundeskriminalpolizei (FBI) verhört. Einmal war es ein misstrauischer Motel-Manager, dann ein Tankstellenwart, der das FBI alarmiert hatte. Offenbar machte schon allein die Tatsache verdächtig, dass sich zwei Ausländer so tief ins Hinterland des Mittleren Westens gewagt hatten und sich mit verschiedensten Leuten treffen wollten. Am Schluss der Reise besuchten wir „Ground Zero“, den Schauplatz des Massenmordes. Zwischen den Trümmern fanden wir ein Flugblatt: “Americans - Think! Why you are hated all over the world.“
Auch die Aussenwelt hat Angst
Mit den Ursachen von Gewalt und Hass in den USA hatte sich 1970 erstmals offiziell ein Bericht einer Regierungskommission auseinandergesetzt (National Commission on the Causes and Prevention of Violence ). Im gleichen Jahr erschien „American Violence“, ein oft zitierter Essay des bekannten Historikers Richard Hofstadter. „Die Gewalt in unserem Land macht uns Angst und beängstigt auch die Aussenwelt,“ schrieb Hofstadter. „Unkontrollierte Gewalt in unserem Land ist vor allem deshalb beängstigend, weil unser Land über ein Gewaltpotenzial verfügt, das mit nichts zu vergleichen ist. Gewalt in Kolumbien oder Guatemala heisst Tod oder Leben für Kolumbianer oder Guatemalteken. Gewalt in den USA ist zu einer Bedrohung für die ganze Welt geworden.“
In den USA explodierten in den 60er und 70er Jahren die Ghettos der Schwarzen, die Studenten rebellierten an den Universitäten und innert kurzer Zeit hatten die USA mit John F. Kennedy, Robert Kennedy und Martin Luther King drei ihrer besten Leader durch Gewaltakte verloren. „Das ist nicht nur schockierend sondern gefährlich für eine Weltmacht, “ meinte Hofstadter. Allerdings, so differenzierte der Historiker: „Gemessen an Stalins Terrorregime oder an den Gräueltaten der Nazis hat unsere Gewaltgeschichte an einem kleinen Ort Platz.“ Trotzdem müssten sich die Amerikaner fragen: „Warum haben wir keine Hemmung, uns trotz unserer beträchtlichen Gewaltgeschichte immer wieder als die Besten und bestregierten Menschen zu betrachten?“
Gewalt von oben ist Tabu
Für Hofstadter hat die Gewalt in der amerikanischen Geschichte eine „konservative Grundlage“. Opfer von Gewalt seien immer ethnische oder ideologische Minderheiten gewesen: Gegner der Sklaverei (Abolitionisten), Katholiken, Radikale, Arbeiter, Gewerkschafter, Schwarze. Es galt, den „way of life“ der weissen Mittelklasse zu verteidigen. Dieses Ziel habe den Einsatz gewaltsamer Mittel gerechtfertigt . „Es war Gewalt von oben,“ bilanziert Hofstadter. „Das erklärt auch, warum so wenig Gewalt sich gegen den Staat selber richtete und die Gewalt von oben im historischen Gedächtnis der Bevölkerung grosszügig übersehen wird.“
Das ungewöhnliche Verhältnis so vieler Amerikaner zu Waffen und Gewalt lässt sich historisch erklären. Die Schusswaffe hatte die Etablierung des Landes überhaupt erst möglich gemacht. Amerikas Ureinwohner wurden mit Gewalt unterworfen. In dem sich stetig nach Westen bewegenden Streifen Landes (Frontier), in dem die Auswanderer unter primitivsten Bedingungen lebten, gab es keinen Staat. Jeder musste mit der Waffe in der Hand sich und seine Habe verteidigen, selber für Ruhe und Ordnung sorgen.
Das „Second Amendement“, der zweite Verfassungszusatz, garantiert jedem Bürger das Recht, Waffen zu tragen ( the right of the people to keep and bear arms, shall not be infringed). Der Amerikaner hat also nicht nur das Recht, eine Waffe zu tragen, sondern: Die Waffe ist das Recht. Sie regelt, was der Staat nicht zu regeln vermag, die Sicherung des Eigentums. Die Waffe garantiert die Wahrung eines elementaren Bürgerrechts.
Der Kult um den Colt
Die Erfindung des Revolvers durch Samuel Colt im Jahre 1836 wurde als Demokratisierung des amerikanischen Rechtswesens verstanden. Auch der angesehene Historiker Daniel J. Boorstin sieht die Handfeuerwaffe als „echten Gleichmacher“, weil sie “die Strafverfolgung in die Reichweite eines jeden geübten Armes“ gebracht habe. In den Indianerkriegen erhielt der Colt symbolische Bedeutung als ein „Instrument des Fortschritts und der Zivilisation – als die Waffe, mit der Texas und Kalifornien gewonnen wurden“.
In Wirklichkeit aber erwies sich der „Gleichmacher“ als Machtinstrument. Die mehrschüssige Feuerwaffe Colt ermöglichte einer kleinen Anzahl von Menschen, unzufriedene Massen in Schach zu halten oder umzubringen. Dies geschah bei der Unterwerfung der Indianer und später auch im Kampf gegen streikende Arbeiter. (Richard Slotkin. Der Kult um den Colt. Blätter für deutsche und internationale Politik. 2/2013)
Auf dem Hintergrund solcher Szenarien der amerikanischen Massenkultur versucht Präsident Obama mit härteren Gesetzen Amerikas Epidemie der Gewalt einzudämmen. Ein schwieriges Unterfangen. Auch Obama beruft sich auf die Verfassung. Das Recht, Waffen zu tragen, dürfe jedoch andere von der Verfassung garantierte Rechte nicht beschneiden. So zum Beispiel - in Anspielung auf ein Massaker in einem Sikh-Tempel in Wisconsin - das Recht, frei und sicher seine Religion auszuüben. Oder in Erinnerung an einen Amoklauf in einem Kino in Colorado, das Recht, sich friedlich zu versammeln. Kindern, Schülern und Studenten würden elementarste Ansprüche wie das Recht auf Leben, Freiheit und „das Streben nach Glück“ verweigert, das in einem für die Amerikaner ebenfalls wichtigen Dokument, der Unabhängigkeitserklärung, garantiert ist.
Glück und Einsamkeit
In der laufenden Debatte werden von den Befürwortern einer schärferen Schusswaffenkontrolle einmal mehr erschreckende Statistiken zitiert: Schusswaffen bringen in den USA in zwei Jahren mehr Amerikaner um als im gesamten Vietnamkrieg gefallen sind (55 000). Oder eine kürzlich veröffentlichte Statistik: Mehr amerikanische Soldaten sterben heute durch Selbstmord als im Kampfeinsatz. Viele von ihnen sind Veteranen der Kriege in Irak und Afghanistan. Gefangen in den Erinnerungen an das Grauen, das sie gesehen, erlitten oder bewirkt haben. Von der Armee verbraucht, im Zivilleben überlastet und sich selbst überlassen. In seinem Bestseller „Bowling alone“ (2000) beschrieb Robert D. Putnam, was mit der amerikanischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten geschehen ist. Eine zunehmende Individualisierung habe zu einem Zerfall gesellschaftlicher Institutionen am Arbeitsplatz, in der Politik, der Kirchen geführt. Sogar das Kegeln (Bowling) finde heute nicht mehr in Gruppen statt.
Amerikas soziale Werte zerfallen
Mit schwindendem Gemeinschaftssinn und Vertrauen nehmen, so Putnam, Unsicherheit und Angst zu. Immer mehr Mittel gehen in die Überwachung von Nachbarschaften (Bürgerwehren, Gated Communities), von Mitarbeitern, für Versicherungen und Strukturen, die dafür sorgen müssen, dass Sicherheitsmassnahmen in Betrieben und öffentlichen Verwaltungen eingehalten werden. Mit dem wachsenden Unterschied zwischen Reich und Arm sei auch die Kriminalität angestiegen.
Auf der Strecke bleiben die für die USA typischen sozialen Werte wie Philanthropie oder die Bereitschaft, unbezahlte Arbeit für die Gemeinschaft (Volunteering) zu leisten. Der Zerfall des „social capital“ wird durch die Wirtschaftskrise noch verschärft. Entlassungen zwingen die Bevölkerung zu noch mehr Mobilität. Jeder fünfte Amerikaner zieht jedes Jahr um und fast die Hälfte tut das alle fünf Jahre. Zeit und Kraft fehlen, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Das „Streben nach Glück“ ist heute zu einem Kampf aller gegen alle degradiert, endet oft in Einsamkeit und Angst, die viele Amerikaner zur Waffe greifen lässt und zu Gewalttätern macht.
Spitze im Gewalt- Export
Ein Thema, das in den USA kaum thematisiert wird, ist der Gewalt-Export. Am Ende des Kalten Krieges gingen 37 Prozent des weltweiten Waffenhandels auf das Konto der USA. 2011 beanspruchten die USA mit 78 Prozent (66,3 Milliarden Dollar) fast ein Monopol. Mit 5,6 Prozent (4,8 Milliarden) landet Russland abgeschlagen auf Platz zwei. Ein Grossteil des US-Waffenexportes gelangt in den Nahen Osten. Länder wie Saudiarabien, Israel, Bahrein, Ägypten, Irak, Jordanien bringen diese Waffen gegen Nachbarn, aber auch gegen die eigene Bevölkerung zum Einsatz.
Treibende Kraft dieses Gewalt-Exports ist der „militärisch-industrielle Komplex“, jene fast unbesiegbare Lobby der Rüstungsindustrie, vor der am eindrücklichsten ausgerechnet ein Ex-Militär, Präsident Dwight Eisenhower, schon 1961 in seiner Abschiedsrede gewarnt hatte.
Wer wird für welche Gewalt zur Rechenschaft gezogen? Auch diese zentrale Frage wird selten gestellt, obwohl in keinem anderen westlichen Land so viele Menschen für so geringfügige Vergehen zu so hohen Strafen verurteilt und eingesperrt werden wie in den USA. Und dieses Verständnis von Law and Order bekommen schlecht ausgebildete Arme, mehrheitlich Angehörige von Minderheiten besonders zu spüren.
Sonderbehandlung für die sogenannte Elite
Kaum je im Gefängnis landen Vertreter der sogenannten Elite aus Wirtschaft, Politik und Sport. Sie machen sich ja auch selten offen eines Gewaltverbrechens schuldig. Dennoch drängt sich die Frage auf: Warum sind beispielsweise bis heute noch keine Banker strafrechtlich belangt worden, obwohl sie Hunderttausende von Hauseigentümern hintergangen haben und mit betrügerischen Anlagevehikeln das Finanzsystem weltweit ins Wanken brachten ? Die Verursacher solcher „struktureller Gewalt“ werden im besten Fall mit Bussen bestraft. Zum Beispiel die HSBC. Die drittgrösste Bank der Welt mit Sitz in London musste nach einer Klage des US-Justizministeriums mit 1, 9 Milliarden Dollar die bisher höchste Strafe bezahlen, weil sie Drogenkartelle sowie Terroristen und damit Staatsfeinde wie al-Qaida finanzierte. Warum die HSBC , die gerade nur 41 Geschäftstage braucht, um diese Schuld zu begleichen, mit so grosser Nachsicht rechnen kann, hat Neil Barofsky, Ex-Staatsanwalt und Aufseher des Bankenrettungsprogramms von 700 Milliarden so erklärt: „Die Regierung hat entschieden, dass die HSBC nicht nur zu gross ist, um unterzugehen, sondern auch zu gross, um eingesperrt zu werden.“ (Tages Anzeiger, 9. Februar 2013)
Solche Fakten und Eingeständnisse fünf Jahre nach dem nur knapp verhinderten Kollaps des globalen Finanzsystems oder die Bilanz des vor zehn Jahren unter falschen Behauptungen begonnenen Irakkrieges lassen die Attacke auf das „Welthandelszentrum“ in New York heute in einem anderen Licht erscheinen: Als Selbstzerstörung eines korrupten Systems.
Roman Berger war Korrespondent des Tages-Anzeigers in Washington (1976 – 1982) und Moskau (1991 – 2001).