„Was glaubst Du eigentlich, wer du bist?“ Eine Frage, die bekanntlich gar keine ist. Denn der Fragende will ja keine Antwort, vielmehr will er den Adressaten zurechtweisen. Noch beleidigender und herabsetzender klingt dies auf Persisch.
„اصلا تو چه کاره ای“ ist ein ähnlicher Satz. Er bedeutet: „Du bist niemand.“ Diese Aussage ist im Iran seit Wochen ein Politikum ersten Ranges. Zeitungskommentatoren benutzen sie seit Anfang Juni als Titel für ihre Beiträge, politische Aktivisten beschäftigen sich mit ihr ebenso wie Juristen und Satiriker. Denn der, der diesen Satz aussprach, war kein geringerer als Ayatollah Sadegh Larijani, der Chef der iranischen Justiz. Und sein Adressat war der frisch gewählte Präsident Hassan Rouhani.
Der unvergessene Hausarrest
Bei dem Streit zwischen den beiden mächtigen Männern ging es um den Hausarrest für die Oppositionspolitiker Mehdi Karrubi, Mir Hossein Moussavi und dessen Ehefrau Zahra Rahnavard. Rouhani hatte während seines jüngsten Wahlkampfs öffentlich versprochen, sich für deren Freilassung einzusetzen. Wer diesen mittlerweile sechsjährigen strengen Arrest angeordnet hat, ist bis heute ungewiss. Es gab jedenfalls keinen Gerichtsprozess, geschweige denn ein Urteil. Zwei Wochen nach Rouhanis Wahl nutzte eine kleine Studentengruppe dessen Auftritt an der Universität, um den Präsidenten an sein Versprechen zu erinnern. Der versuchte zunächst, die schrillen Studenten zu überhören, schliesslich sagte er vorsichtig und diplomatisch, er werde „allen Einschränkungen zum Trotz“ seine Möglichkeiten nutzen.
Nach diesem Auftritt vergingen kaum vierundzwanzig Stunden, da meldete sich der gefürchtete Justizchef mahnend und zornig zu Wort. Manche erlaubten sich dieser Tage, die roten Linien der Ordnung zu überschreiten, sogar den Hausarrest gegen die Oppositionspolitiker in Frage zu stellen: So leitete Ayatollah Larijani seine Pressekonferenz ein. Und kam dann schnell zu der beleidigenden Frage: „Wer Sind Sie überhaupt, der den Hausarrest brechen will?“
Wer ist der Präsident?
Man mag des Ayatollahs Ton beleidigend finden, doch die Frage ist durchaus berechtigt. Wer ist, oder anders gefragt: Wie viel Macht hat der Präsident der Islamischen Republik? Eine Frage, die seit Bestehen dieser Republik immer wieder gestellt wird, und für die es immer noch keine befriedigende Antwort gibt.
Deshalb bleibt die Frage nach der Macht des Präsidenten seit 38 Jahren aktuell, für Zeitungskommentatoren ebenso wie für Juristen oder Satiriker. Kann der Präsident politisch und rechtlich eingreifen, wenn es um die Justiz geht, nimmt jemand in der Bürokratie des Justizapparats das präsidiale Wort oder die offizielle Präsidentenanweisung überhaupt zur Kenntnis? Nein, lautet die einfache Antwort auf diese und ähnliche Fragen. Die Trennung zwischen Exekutive und Judikative ist perfekt, das iranische Rechtswesen geht einen eigenen Weg, unabhängig vom Präsidenten und dem Parlament.
Im eigenen Kosmos
Die judikative Gewalt, so die offizielle Bezeichnung der iranischen Justizbehörde, bildet in eigenen Schulen und Hochschulen ihre Richter und Beamten selbst aus, sie befehligt eine eigene Polizei samt einem gefürchteten Geheimdienst, und sie verfügt über eigene Finanzquellen: eine Gerichtsbarkeit, die ein Eigenleben mit eigenen Regeln führt. Die Justiz ist die ausschliessliche Domäne der Geistlichkeit, und sie wird wie eine Festung verteidigt.
Den ersten Stein zum Bau dieses Bollwerks legte Republikgründer Ayatollah Ruhollah Khomeini am Nachmittag des 1. Februars 1979, wenige Stunden nach seiner Rückkehr in den Iran. Es war ein sonderbarer und historischer Tag, mit vielen Hoffnungen und zahlreichen Ungewissheiten. Der damals 77-jährige Khomeini war gerade nach einem fünfzehnjährigen Exil nach Hause zurückgekehrt und dort von Millionen Menschen empfangen worden. Der Andrang war so enorm, dass ein Weiterkommen auf den Strassen Teherans nicht möglich war. Khomeini liess sich mit einem Helikopter zu einem Friedhof im Süden der iranischen Hauptstadt bringen. Dort, vor den Gräbern der in der Revolution gefallenen Märtyrer, verkündete er die Grundzüge seiner künftigen Islamischen Republik.
Die Monarchie habe nur gewusst, wie man Friedhöfe baue und das Land zerstöre, begann Khomeini seine Rede und sprach von der rosigen Zukunft, die nun bevorstehe. Er schnitt vieles an, redete über Himmlisches und Irdisches und darüber, wie diese beiden einander bedingten. Als er zum Rechtswesen kam, liess er beiläufig diesen einen Satz fallen: „Gott ist gerecht, die Gerichtsbarkeit ist eine Angelegenheit Gottes.“ Und was dieser Satz im Alltag künftig bedeuten würde, erfuhr man schon in den ersten Wochen nach seiner Ankunft.
Eine Mammutbehörde
Wenn Gerichtsbarkeit eine Sache des Allmächtigen ist, dann müssen seine Stellvertreter Recht sprechen. Also krempelte Khomeini das alte Justizministerium um und ernannte einen Ayatollah zum Chef der judikativen Gewalt. In der neuen Verfassung liess er festschreiben, dass an der Spitze der Justiz ein „مجتهد جامع الشرایط “, eine „Quelle der Nachahmung“ zu stehen habe, und dass die Justiz, wo nur islamisches Recht gesprochen werde, allein dem Revolutionsführer unterstehe.
So wurde die judikative Gewalt zu einer Domäne der Geistlichen – und einem effektiven Rüstzeug des Revolutionsführers.
Solange Khomeini lebte, diente diese Gewalt dazu, die Gegner der islamischen Republik zu bekämpfen. Doch sein Nachfolger Ali Khamenei ging noch einen Schritt weiter und baute die judikative Gewalt zu einer uneinnehmbaren Bastion der Hardliner aus. Der Chef der Justiz wird für fünf Jahre ernannt, doch Ayatollah Larijani ist seit 13 Jahren Chef der Mammutbehörde. Für diese arbeiten 130‘000 Beschäftigte, die 14 Millionen Akten verwalten und 300‘000 Gefangene beaufsichtigen.
Der Spross einer Familiendynastie will mehr
Ihr oberster Chef, der 56-jährige Larijani, dessen Rang als Ayatollah unter Gelehrten höchst umstritten ist, gehört zu einer der mächtigsten Familiendynastien des Gottesstaates. Sein älterer Bruder Ali ist Parlamentspräsident, die anderen drei Brüder bekleiden ebenfalls wichtige Posten an der Spitze des Staatsapparates. Sadegh geniesst das Vertrauen des Revolutionsführers, ihm steht ein General der Revolutionsgarden als Vize zur Seite.
Und immer, wenn der Chef der Judikative zu einer Pressekonferenz einlädt, wissen die Journalisten, dass es um ein innen- oder aussenpolitisches Thema gehen wird. Rechtsthemen kommen bei solchen Presseterminen entweder gar nicht oder nur am Rande zu Sprache.
Khameneis Nachfolge
Seit etwa einem Jahr wird im Iran wegen einer Krankheit Khameneis teils sehr offen und teils in Andeutungen über seinen möglichen Nachfolger spekuliert. Und jedes Mal erwähnen einige Beobachter auch den Namen Sadegh Larijani, während andere darüber nur schmunzeln.
Denn für sie ist Larijani weder ein Ayatollah, noch besitzt er das nötige Charisma für diesen Posten. Sie halten ihn für einen einfachen Technokraten, einen naiven Befehlsempfänger. Es ist aber möglich, dass Larijani sich tatsächlich als den künftigen Revolutionsführer wähnt – und sich deshalb fast täglich zu Wort meldet, hauptsächlich gegen Präsident Rouhani. Larijanis Ambitionen nehmen offenbar selbst manche russischen Diplomaten ernst, die einen direkten Draht zum iranischen Machtzentrum haben. Als Staatsoberhaupt Khamenei vor drei Jahren ins Krankenhaus musste, zitierten Sputnik News und Radio Moskau russische Experten, die Sadegh Larijani als künftigen Revolutionsführer erwähnten.
Wie auch immer, wegen massiver Menschenrechtsverletzungen steht Sadegh Larijani mit weiteren acht Personen auf einer Boykottliste der Europäischen Union.
In der Öffentlichkeit tritt Sadegh Larijani als effektivster Oppositionsführer gegen Präsident Rouhani auf, einer, der Rouhani nicht nur verbal, sondern auch praktisch die Stirn bietet. Und seine „judikative Gewalt“ ist dabei seine Waffe.
Jeder hat seinen Richter
Es würde ein sehr dickes Buch ergeben, wollte man all die Prozesse aufzählen, die Larijanis Behörde in den vergangenen 13 Jahren gegen die Reformer angestrengt hat. Und mehrere Bände kämen dazu, könnte man die Schicksale all jener Journalisten, Anwälte und Studenten beschreiben, die oft mit fadenscheinigen Argumenten verurteilt und für Jahre eingesperrt wurden. Im Reich Larijanis gibt es mehrere Arten von Revolutionsgerichten: jene, die sich auf Verfahren gegen Aktivisten der nationalen Minderheiten spezialisiert haben; jene, die sich mit Oppositionellen im Ausland beschäftigen; und jene, die sich ausschliesslich Anwälte, Journalisten oder Aktivisten der Zivilgesellschaft – also Reformer – vornehmen.
Für Geistliche, die sich oppositionell betätigt oder andere Verfehlungen begangen haben, gibt es eine eigene Gerichtsbarkeit, getrennt von der für den Rest der Bevölkerung.
In Haft wegen Telegram
Kaum hatte der letzte Präsidentenwahlkampf begonnen, setzte eine Verhaftungswelle gegen Administratoren reformorientierter Nachrichtenkanäle beim Messenger-Dienst Telegram ein. Dieser Dienst ist im Iran eigentlich verboten, doch er spielt bei Wahlen eine wichtige und entscheidende Rolle. Nach offiziellen Angaben gibt es rund 15 Millionen Telegram-Nutzer im Land.
Die Wahl ist längst vorbei, Rouhani gewann trotz aller Einschränkungen, doch seit mehr als hundert Tagen sitzen zwölf Administratoren ohne Anklage und ohne Besuchsmöglichkeiten in Haft. Rouhanis Minister, Parlamentsabgeordnete und die Familien der Inhaftierten haben gegen diese Verhaftungen protestiert – ohne Ergebnis. Sechs der Inhaftierten traten deshalb vergangene Woche in einen unbefristeten Hungerstreik. Doch der Generalstaatsanwalt sagte am Samstag, für sie gebe es deshalb keine Anklage und keine Besuchsmöglichkeit, weil ihre Vernehmungen weiterhin andauerten.
Die Zeichen stehen auf Sturm
Und es ist zu befürchten, dass in den kommenden Wochen die „judikative Gewalt“ noch gewaltiger auftreten wird. Denn der Streit zwischen Revolutionsführer Khamenei und dem frisch gewählten Präsidenten nimmt an Härte zu. Der mächtigste Mann des Landes kann Rouhanis überwältigenden Wahlsieg nicht verdauen. Mehr als sechs Wochen sind seit der Präsidentenwahl vergangen, Dutzende Regierungs- und Staatschef der Welt haben Rouhani inzwischen zu seinem Sieg gratuliert. Doch Khamenei hat, genau wie US-Präsident Donald Trump, noch keinen Glückwunsch ausgesprochen.
Im Gegenteil: Er nutzt alle seine öffentlichen Auftritte für Attacken gegen Rouhani. Mal greift er ihn an, weil er keine Rezepte gegen die Wirtschaftsmisere habe, mal mokiert er sich über Rouhanis nachgiebige Haltung gegenüber dem Westen. Seit zwei Wochen macht Khameneis „Feuerbefehl“ die Runde. Anfang Juni hat der Revolutionsführer seinen Studentenmilizen befohlen, in bestimmten Situationen ohne Angst vor gesetzlicher Strafverfolgung selbst zur Tat zu schreiten. In einer Audienz nannte er diese Studenten „Offiziere des weichen Krieges“ und forderte sie auf, bei „Fehlentscheidungen der Verantwortlichen“ selbst „die richtige Entscheidung“ zu treffen. Sie sollten „nach eigenem Gutdünken feuern“, empfahl Khamenei.
Der geistliche Führer des Landes ebne damit den Weg zu mehr Gewalt durch paramilitärische Schlägertrupps, fürchten Kritiker. In sozialen Netzwerken sprechen viele davon, dass der Ayatollah praktisch die gesamte iranische Bevölkerung für vogelfrei erklärt habe. Für den Islamexperten Mohsen Kadivar ist Khameneis „Feuerbefehl“ eine „Anstiftung zum Chaos“.
Bisher ist die Zeremonie zu Rouhanis Amtseinführung von Khamenei zwei Mal ohne Angabe von Gründen verschoben worden. Bei einer seiner letzten Ansprachen ermahnte er Rouhani, er müsse aufpassen, dass er nicht so ende wie der erste Präsident der Islamischen Republik. Abolhassan Bani Sadr hiess der und floh 1981 nach seiner Amtsenthebung nach Paris.
Und warum diese Härte?
Warum Khamenei den gerade mit überwältigender Mehrheit wiedergewählten Präsidenten so massiv attackiert, ist rational kaum nachvollziehbar – zumal das Land im Inneren genug Probleme hat und die Gefahren aus dem Ausland fast täglich zunehmen. In dieser heiklen Situation hätte Khamenei für die Bewahrung seines Systems niemanden, der geeigneter wäre als Rouhani.
Nur Rouhani vermag es derzeit, mit Mässigung im Inneren wie nach aussen das Land vor dem Abgrund zu retten. Khamenei weiss, dass Rouhani ein Geistlicher ist, der Zeit seines Lebens an den Grundsätzen der Islamischen Republik festgehalten hat – Khameneis Führerschaft inklusive.
Doch die Spannung zwischen Rouhani und den Hardlinern hält an und auch die Revolutionsgarden melden sich in diesem Streit regelmässig zu Wort.
Das ist auch die Zeit der „judikativen Gewalt“ und ihres Chefs Sadegh Larijani, der offenbar glaubt, irgendwann Führer der Islamischen Republik werden zu können.
Quellen: isna.ir/news, persian.iranhumanrights.org, ir.sputniknews.com, eur-lex.europa.eu, www.kaleme.com, reporter-ohne-grenzen.de, fararu.com, tabnak.ir, radiozamaneh.com
Mit freundlicher Genehmigung von iranjournal.org, wo der Artikel am 30. Juni zuerst veröffentlicht wurde.