Am 24. November 2013 stimmen die Schweizer und Schweizerinnen sowie die Stände über die eidgenössische Volksinitiative „1:12 – Für gerechte Löhne“ ab. Diese verlangt, dass der höchste in einem Unternehmen bezahlte Lohn nicht höher sein darf als das Zwölffache des tiefsten vom gleichen Unternehmen bezahlten Lohnes. Als Lohn gilt die Summe aller Zuwendungen (Geld und Wert der Sach- und Dienstleistungen), welche im Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit entrichtet werden (Art. 110a (neu) Bundesverfassung). Damit darf der bestbezahlte Manager eines Unternehmens nicht länger in einem Monat mehr verdienen als einer seiner Angestellten am untersten Rand des Lohnbandes im gesamten Jahr.
Umverteilung nach oben
Was ist von der genauso pragmatischen wie einprägsamen Lohnrelation 1:12 zu halten? Hierzu kann man sich zunächst die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Durchschnitts- (als Medianlöhne) und Höchstlöhnen in grösseren Unternehmen der Schweiz anschauen: 1984 lag dieses Verhältnis bei 1:6, 1998 bei 1:13, 2007 bei 1:55 und heute, nach der Finanzkrise, beträgt es immer noch 1:43. Wenngleich diese Entwicklung keine generelle Zunahme der Einkommensungleichheit nahelegen muss, zeigt der von den USA kommende und nach Europa und in die Schweiz schwappende massive Anstieg der Topmanagerbezüge (Cheflohnspirale) seit den 1980er Jahren, dass eine Umverteilung hin zu den Bestverdienenden stattgefunden hat.
Dies leugnet auch der Bundesrat in seiner Botschaft vom 18. Januar 2012 grundsätzlich nicht: „Was dagegen die sehr hohen Löhne betrifft, geht er mit den Initiantinnen und Initianten einig, dass die in den letzten Jahren beobachteten Exzesse zu sozialen und wirtschaftlichen Problemen führen könnten.“
Keine Theorie für die richtige Lohnbandbreite
Die Initiative setzt jedoch nicht an einer wie auch immer gearteten aggregierten Relation zwischen Durchschnitts- und Höchstlöhnen an, sondern bezieht sich auf die dezentrale Relation des tiefsten zum höchsten Lohn im einzelnen Unternehmen. Damit trägt sie den unterschiedlichen betrieblichen Bedürfnissen durchaus Rechnung. Sie legt richtigerweise auch keine Lohnobergrenzen sondern nur eine Lohnbandbreite fest, welche auf 1:20 steigt, wenn die grössere Arbeitsstundenzahl der Manager berücksichtigt wird. Ist dieses Verhältnis richtig gewählt?
Wissenschaftlich betrachtet lässt sich das optimale Ausmass der Lohnspreizung in einem Unternehmen beim gegenwärtigen Stand der Forschung weder theoretisch noch empirisch fixieren. Selbst wenn der Einfluss der äusseren (wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, gesellschaftlichen und sonstigen) Rahmenbedingungen ausgeklammert wird, existiert keine ökonomische Theorie, die in der Lage wäre, festzulegen, was die richtige Höhe der Lohnbandbreite auf Unternehmensebene ist. Diese hängt von (zu) vielen Faktoren ab, wie der Grösse des Unternehmens, dem Internationalisierungsgrad, der Art der Tätigkeiten, der Anzahl Hierarchiestufen, der Marktform und damit ebenfalls der nationalen Konkurrenzsituation, in welcher sich das Unternehmen bewegt, etc., deren jeweiliger Einfluss – wenn überhaupt – nur schwer und nur mit erheblichen Unsicherheiten zu quantifizieren ist.
Markt und marktgerechte Löhne
Dennoch kann aus theoretischer Perspektive wie folgt argumentiert werden: Lohnhöhe und Lohnstruktur haben einen massgeblichen Einfluss auf die Motivation und die Produktivität der Arbeitskräfte. Sie müssen marktgerecht, leistungsgerecht und fair ausgestaltet sein sowie auf eine breite Akzeptanz bei den Beteiligten stossen. Sind die Lohnunterschiede zu gross, widersprechen sie der internen, relativen Lohngerechtigkeit und führen zu Ausweichreaktionen seitens der Beschäftigten (Leistungsreduktion, Mobbing, Sabotage, Intrigen etc.). Sind sie zu klein, haben extrinsisch Motivierte zu wenig Anreiz, ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen und die zu geringen Lohndifferenzen konterkarieren somit die Leistungsgerechtigkeit. Fallen allerdings die monetären Leistungsanreize wiederum zu gross aus, vernichten sie einerseits intrinsische Motivation und führen andererseits zu risikoreicherem Verhalten (Fehlanreize) und somit zu einer Fehlallokation von Ressourcen.
Es bleibt die Frage, ob wenigstens eine klare Aussage zur Marktgerechtigkeit abgeleitet werden kann? Externe Gerechtigkeit erfordert, dass Löhne gezahlt werden, die mit denen in gleichen Unternehmen für gleichwertige Aufgaben vergleichbar sind. Und genau hier liegt die Crux: Die gestiegene Transparenz bei den Kadersalären hat Begehrlichkeiten auch bei denen geweckt, die entweder – bei gleicher Leistung – mit ihrer bisherigen Entlohnung durchaus zufrieden waren bzw. die höhere Entlohnung vergleichbarer Agenten nicht wahrgenommen haben oder die – bei faktisch geringerer Leistung – nun ihre Salarierung, nicht zuletzt in Einzelfällen effizienzlohntheoretisch (1) begründbar, nach oben korrigiert sehen wollen (Nachahmereffekte). Dies zeigt bereits, dass der Markt vormals offenbar keine marktgerechten Löhne bereitstellen konnte. Im Übrigen verhindern auch staatliche Eingriffe, wie beispielsweise die flankierenden Massnahmen (FlaM) zum Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU, dass marktgerechte Löhne im unteren und untersten Bereich der Lohnskala entstehen können. Da die FlaM aber in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft breite Abstützung finden, konzentrieren wir uns im Folgenden auf den obersten Bereich der Lohnverteilung, der gemeinhin zum Stein des Anstosses geworden ist.
Wie gross ist der Output?
In einigen grossen, häufig multinational tätigen Unternehmen sind Lohnrelationen zwischen tiefstem und höchsten Lohn in der Grössenordnung von 1:200 bis 1:300 nicht selten anzutreffen. Die durchschnittliche Jahresvergütung der Konzernchefs in der Schweiz nimmt europaweit sogar die Spitzenposition ein. Im Durchschnitt verdienen Manager heute etwa 73 Mal mehr als ihre Mitarbeiter mit dem tiefsten Lohn. Klar scheint zu sein, dass der Output einer Führungskraft in derselben Zeiteinheit – sagen wir eine Stunde – nicht 73 oder sogar 200 bis 300 (43) Mal grösser sein kann als derjenige einer beschäftigten Arbeitskraft auf der untersten (mittleren) Stufe der Hierarchie.
Aus diesem Blickwinkel scheint der Markt nicht in der Lage zu sein, für Leistungsgerechtigkeit zu sorgen, also dafür, dass die Lohnhöhe immer der Arbeitsproduktivität entspricht. Sind Manager – im Vergleich zu anderen Arbeitskräften – hingegen besonders knapp, könnte dies ein Argument sein für einen zusätzlichen Lohnaufschlag. Da allerdings gerade die Fusionen und Übernahmen (Mergers & Acquisitions (M&A)) weltweit (wie auch in der Schweiz) in den 1990er Jahren mit einem ersten Kulminationspunkt im Jahr 2000 und nochmals verstärkt in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts bis zum Jahr 2007 (in der Schweiz 2008) stark zugenommen haben, hätte dies – zum Teil erheblichen – Druck auf die Kadersaläre ausüben müssen. Denn bei jeder Fusion oder Übernahme entsteht zunächst einmal ein Überangebot an Arbeitskräften, auch auf der (Top-)Managementebene. Tatsächlich haben sich aber die Managergehälter im Trend steigend und in der Tendenz eher antizyklisch zu den M&A entwickelt.
Sinkende Performance - und der Lohn?
Mit grösser, komplexer und internationaler werdenden Unternehmen wird jedoch die Tätigkeit des Managers, insbesondere des Chief Executive Officers (CEO), verantwortungsvoller und die Hebelwirkung seines Handelns grösser, weswegen mit zunehmendem Unternehmenswert auch seine Salarierung ansteigen sollte. Dieser Aussage ist grundsätzlich zuzustimmen, wenngleich die gesamte Belegschaft zur Wertsteigerung beiträgt. Problematisch wird die Anreizsetzung über Lohnaufschläge (Boni, Optionen etc.) dann, wenn bei sinkender Performance und fallenden Aktienkursen keine symmetrische Anpassung der Kadersaläre eben auch nach unten stattfindet. Kommt noch Staatshilfe in Form des Einsatzes öffentlicher Gelder zur Rettung vermeintlich systemrelevanter Gesellschaften hinzu, wird dieses Verhalten sogar noch indirekt legitimiert. Als Alternative zur Lohnsenkung oder gegebenenfalls Rückforderung ungerechtfertigter Zahlungen, was so viel wie nie passiert, bietet sich natürlich die Entlassung an.
Tatsächlich aber halten Verwaltungsräte nicht selten auch dann an ihren Führungskräften fest, wenn diese dem Unternehmen mehr Kosten verursachen, als ihm nützen. Hierbei spielen die hohen Abgangsentschädigungen keine unwesentliche Rolle. Deren Kosten sind direkt messbar, der zukünftige Nutzen des Managers für das Unternehmen hingegen weit weniger genau prognostizierbar. Und auch die Topmanager wechseln bei besseren Lohnofferten von sich aus weit weniger häufig das Unternehmen, als dies ein kompetitiver, globaler Managermarkt nahelegen würde.
Old-Boys-Netzwerke
Damit deutet einiges darauf hin, dass es sich beim Kampf der Konzerne um die sog. Talente weit weniger um einen kompetitiven, den Marktgesetzen gehorchenden als vielmehr um einen segmentierten Arbeitsmarkt mit Zugangsbeschränkungen handelt. Hierbei verliert der Lohn seine originäre Steuerungs- bzw. Ausgleichsfunktion von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage und wird selbst Teil eines internen und vor allem auch informellen Regelungs- und Steuerungsmechanismus.
Bei der Lohnbestimmung und Allokation der Arbeitskräfte gewinnen nicht-preisliche und nicht-marktgesteuerte Regeln und Verfahren an Bedeutung, wie z.B. Old-Boys-Netzwerke, Nepotismus, Abhängigkeiten zwischen CEO und Verwaltungsräten, direkt von den Managern u.a. mit Drittvergleichen beauftragte und selbst Eigeninteressen verfolgende Vergütungsberater, Manipulation, Seniorität und Macht, Gewohnheitsrechte, Glück bis hin zum Zufall. Da die höchsten Löhne zudem nicht Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern sind, werden diese sehr stark von den Managern selbst beeinflusst bzw. bestimmt.
Der Nutzen der Initiative
Ist nicht genügend Wettbewerb vorhanden, wie dies auf vielen Güter- und Arbeitsmärkten der Fall ist, kann Selbstbereicherung über das eingeschränkte oder sogar (fast) ausgeschaltete Wirken der Marktkräfte nicht ausgeschlossen werden. Weil freiwillige Selbstverpflichtungen in den meisten Fällen nicht greifen, ermöglicht die 1:12-Initiative, der Selbstbedienung und den auf einigen Teppichetagen praktizierten, überrissenen Bezügen einen Riegel vorzuschieben. Damit werden überproportional steigende Bezüge von Managern bei nicht selten nur durchschnittlicher Leistung in Zukunft für diese kaum mehr durchzusetzen sein, denn die Löhne der Topverdienenden müssten sich künftig mehr oder weniger im Gleichschritt mit den Löhnen der anderen Beschäftigten entwickeln. Damit wird auch die Unternehmenserfolgsgerechtigkeit wieder hergestellt: Alle Arbeitskräfte, die sich für einen positiven Geschäftsverlauf und das langfristige Überleben des Unternehmens einsetzen, werden auch an diesem Erfolg adäquat beteiligt.
Obwohl kein objektives Mass für tolerierbare Lohnunterschiede bzw. kein adäquater Massstab für Masslosigkeit gefunden werden kann, erlaubt die 1:12-Inititiative dennoch zu verhindern, dass einige wenige den sozialen Frieden und den langfristigen Zusammenhalt in der Gesellschaft tatsächlich gefährden können.
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1 Die Effizienzlohntheorie geht – innerhalb einer theoretisch klar definierten Grenze – von einem positiven Einfluss des Lohnes auf die Arbeitseffizienz, mithin die Arbeitsproduktivität, aus.