Jede dieser Geschichten wirft ein Schlaglicht auf den Tag der Niederlage des Deutschen Reiches, den 30. April 1945. Manche Geschichten spielen davor, manche später. Als Erzähler räumt sich Alexander Kluge auch das Recht ein, gegen Ende seines Buches von der Art zu erzählen, wie dieses Buch zustande kam und was ihn dabei umtrieb.
Perspektivenwechsel
Es ist nicht möglich, die Geschichten zusammenzufassen, ihnen einen gemeinsamen Nenner zu geben. Sie handeln von Gefangenen in ihrer Not, von Soldaten auf dem Rückzug, von Zivilisten in ihrem Überlebenskampf, von Juden in ihren Verstecken. Dazu kommen Geschichten aus der Nachkriegszeit, die ihren Anfang aber im nationalsozialistischen Krieg nahmen.
Manche Geschichten wirken skurril, andere makaber. So erzählt Kluge von Hitlers Stenographen, die in letzter Stunde die Abschriften von 3000 Stunden vertraulicher Protokolle mit Hitlers Äusserungen verbrannten. An anderer Stelle berichtet er von einem "Papierhändler" in Stargard in Mecklenburg, der in Anbetracht der Niederlage seine Frau, seine Tochter und sich selbst erschiessen will. Sie gehen zu dritt auf einem abgelegenen Weg, und er erschiesst Frau und Tochter. Dann ändert sich sein Sinn, und er wirft seine Rangabzeichen und die Waffe weg, um unterzutauchen.
Auf nahezu jeder Seite findet ein Perspektivenwechsel statt. Und Alexander Kluge schlüpft bisweilen in die Rolle desjenigen, der nicht nur erzählt, sondern einem fiktiven Gesprächspartner Fragen stellt und ihn antworten lässt.
Serenus Zeitbloom und Dr. Knut Knorre
Worin besteht der rote Faden, worin liegt die Logik diese Buches? Mit seinen vielen Geschichten - hier und da könnte man auch von Anekdoten sprechen - wird Kluge der Tatsache gerecht, dass der Tag der Niederlage nicht wie ein grosser Gong auf der Bühne war, sondern sich in millionenfach unterschiedliche Erlebnisse aufsplitterte.
Diese Erlebnisse sind wie in einem wirren Knäuel verknüpft. Aber dieses Knäuel ist entgegen dem ersten Eindruck planvoll angelegt, auch wenn der Leser es nicht im ersten Zugriff entwirren kann. Hier und da macht sich Kluge einen Spass daraus, zu zeigen, wie verschlungen diese Fäden sind. So berichtet er von einem Oberstudiendirektor Dr. Knut Knorre, der das Vorbild für den Chronisten Serenus Zeitbloom im „Doktor Faustus“ von Thomas Mann gewesen sei. Dieser Dr. Knorre hatte an der „Nationalpolitischen Erziehungsanstalt“ in Ballenstedt, Harz, die Schulaufsicht. Bei Kriegsende fing er zunächst unter freiem Himmel, dann in improvisierten Räumlichkeiten an, Latein zu unterrichten. Schüler sammelten sich um ihn, und als er von einem amerikanischen Spähtrupp aufgespürt wurde, liess man ihn gewähren.
Erzählen gegen die Angst
Gegen Ende des Buches erzählt Alexander Kluge, dass er eine Reihe von Bekannten und Freunden nach dem Tag des 30. April 1945 gefragt habe. Alle erinnerten sich natürlich an diese Zeit, aber kaum jemand konkret an diesen Tag. Geschichtsschreibung, Erinnerungskultur und die Erlebnisse der Zeitgenossen unterscheiden sich derartig stark, dass sie kaum zur Deckung gebracht werden können. Daher diese Geschichten.
In dem Reigen von erzählten Erlebnissen klingt noch etwas anderes an. Denn es ist ja so, dass Menschen in grösster Not einander Geschichten erzählen. Bisweilen hat man den Eindruck, dass Kluge dieser Atmosphäre nachspürt. Was wurde in den Bunkern und Kellern nicht alles erzählt, um etwas zu haben, das Halt gibt.
Das "Echolot"
Kluges Buch erinnert an ein anderes Unternehmen, das 1993 seinen Anfang nahm: „Echolot“ von Walter Kempowski. Darin hatte der Bestsellerautor zahllose Dokumente, die er teilweise mittels Zeitungsannoncen suchte, zusammengefügt. Der letzte Band erschien 2005. Aus Briefen, Tagebuchnotizen, Protokolleinträgen oder auch Bekanntmachungen hat Kempowski eine literarisch völlig neuartige Kompilation geschaffen. Sie wirkt wie ein vielstimmiger Chor. Inzwischen ist daraus ein sehr gelungenes und eindrückliches Hörbuch entstanden.
Ganz sicher hat Kluge bei seinem Werk an das Echolot gedacht, aber er ist immer schon andere Wege gegangen. Er schreibt die Geschichten, die er aufspürt, selber. Und dabei bedient er sich zum Teil aller möglichen Hintertüren, um nicht zu sagen Hintertreppen. Sein Kapitel, „Heidegger auf Burg Wildenstein“, lebt nicht nur von Kluges intimer Kenntnis des Meisters, sondern trieft geradezu von Ironie und enthält derartig viele Anspielungen und Verschlüsselungen, dass man dieses Kapitel gern einmal in einem Freundeskreis Stück für Stück entschlüsseln würde.
Trügerische Sommer
In seinen Nachbemerkungen bekennt Alexander Kluge, dass für ihn die Drohung des Krieges nie aufgehört hat. Er erinnert sich daran, wie er als Schüler 1940 im Sommerbad von Halberstadt über Lautsprecher von der Niederlage Frankreichs erfahren hat, also vom Krieg „wusste“, ihn aber noch nicht „fühlte“. Das aber hat sich geändert:
Beim Rückenschwimmen im August 2013 schaut er in den blauen Himmel. „Inzwischen kann ich keinen Sommerwolken zusehen, ohne an Sommer 1914, Sommer 1939 und das Trügerische von Sommern zu denken.“ Allerdings, so fährt er fort, drohe derzeit keine Kriegsgefahr. „Und doch sehe ich, wenn ich auf dem Rücken meine zwölf Runden ziehe, eine Schrift am Himmel.“
Alexander Kluge, 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann, suhrkamp taschenbuch 4588, Erste Auflage 2015 © Suhrkamp Verlag 2014