Weihnachten ist das populärste der Feste und das längste. Mit dem vierwöchigen (und im Detailhandel stets noch weiter vorverlegten) Präludium der Adventszeit auf der einen und der Koppelung mit Neujahr und Dreikönigstag auf der anderen Seite hat man einen langgezogenen Jahresend-Cluster der Festzeiten. Die Weihnacht – oder cooler: X-mas – ist dessen strahlender Mittelpunkt. Auch ohne christlichen Gehalt funktioniert ihre eingängige Symbolik der Lichter in der dunklen Jahreszeit, des Schenkens und des familiären Zusammenseins.
Illuminationen
In dieser zivilreligiösen Lesart ist Weihnachten fast unbegrenzt anschlussfähig. Kein anderes Fest überspringt so leicht Kulturgrenzen, keines ist dermassen extensiv kommerzialisierbar. Für einzelne Branchen bedeutet die Vorweihnachtszeit die Hälfte des Jahresumsatzes. Die öffentlichen Räume der Innenstädte werden entsprechend verkaufsfördernd hergerichtet.
Offenkundig besteht ein breiter Konsens darüber, was «weihnächtlich» sei und was nicht. Vor zehn Jahren erhielt die Zürcher Bahnhofstrasse eine neue Weihnachtsbeleuchtung: the world’s largest timepiece. Das kilometerlange Band aus senkrecht hängenden LED-Stäben änderte seine Lichtmuster im Lauf des Advents und reagierte ausserdem interaktiv auf das Strassengeschehen. Designer äusserten sich begeistert. Das Verdikt der Bevölkerung jedoch war klar: nicht weihnächtlich. Die millionenteure Installation wurde ausgewechselt. Heute funkelt und glitzert es wieder über der noblen Shoppingmeile.
Damit eine Illumination sich weihnächtlich anfühlt, muss sie einen Bezug zu den Bräuchen und Geschichten haben, die unabänderlich zum Fest gehören. Sternenhimmel und Komet sind deren wichtigste visuelle Zeichen. Sie gehören schon zur biblischen Ur-Erzählung aus dem Lukasevangelium («Es geschah aber in jenen Tagen, dass ein Erlass ausging vom Kaiser Augustus ...»). In deren Gefolge hat Weihnachten eine ganze Lichtwolke von Legenden, erbaulich-populären Erzählungen und literarischen Kurzgeschichten hervorgebracht. Denn bei allem noch so bezaubernden Lichterglanz: Das Wesentliche an Weihnachten sind die Geschichten.
Marginalisiertes Christentum
Ob allerdings die Erzählungen noch Gehör finden, erscheint zunehmend fraglich. Das liegt zum einen an schierer Ignoranz gegenüber christlicher Überlieferung. Zum andern kann die Taubheit auch von Berührungsangst und aggressiver Distanzierung herrühren.
Was dieser Tage in Neuchâtel geschah, legt eine solche Diagnose nahe. Die dortigen Stadtbehörden entschieden, die auf dem lokalen Weihnachtsmarkt aufgestellten Figuren von Maria, Josef und dem Jesuskind seien zu entfernen (NZZaS, 20.12.2015). Begründung: Religion gehöre nicht in den öffentlichen Raum. Nach Protesten wurden die Figuren dann vor einer reformierten Kirche in der Innenstadt platziert. Dort stören sie anscheinend nicht mehr.
Vom Sonnengott zum Licht der Welt
Offensichtlich befinden wir uns, was die öffentliche Stellung des Christentums betrifft, an einem historischen Gegenpol zur Situation bei der Einführung des Weihnachtsfestes im 4. Jahrhundert. Das Christentum war eben erst zur Staatsreligion des Römischen Reiches geworden. Ein Jahrhundert zuvor hatte Kaiser Aurelian zur Wintersonnenwende das Fest des «Sol invictus», der unbesiegten Sonne, eingeführt.
Da nun das Christentum den kaiserlichen Segen erlangt hatte, wurde das noch junge Fest umgedeutet. Die Kirche erklärte den 25. Dezember zum Fest der Geburt Christi (das tatsächliche Geburtsdatum war nicht überliefert). Die Symbolik des Sonnengottfestes war einer christlichen Lesart leicht zugänglich: Gefeiert wurde nun die Ankunft dessen, der für die Christen «das Licht der Welt» ist.
Die frühe Kirche beliess es bei der neuen Feier zur Geburt des Erlösers aber nicht bei einer vagen Lichtsymbolik. Vielmehr stellte sie die biblischen Geburtserzählungen in grosse, kühn ins Kosmische ausgreifende Zusammenhänge. Die Wintersonnenwende als Übergang vom abnehmenden zum ansteigenden Tageslicht stimmte überein mit der christlichen Vorstellung, mit der Geburt Jesu sei eine alles verändernde Zeitenwende in die Welt gekommen.
Verankerung der Trinität
Dieses Narrativ widerspiegelt wie jede der historischen «grossen Erzählungen» (den Ausdruck prägte der Soziologe und Philosoph Jean-François Lyotard) eine spezifische Frontstellung. Das junge Christentum hatte sich auseinanderzusetzen mit der Lehre des Arius, der das Dogma der Trinität verwarf. Der Arianismus wollte, um das Monotheismus-Gebot einzuhalten, das Attribut der Göttlichkeit einzig Gottvater zuerkennen. Dem Gottessohn Christus und dem Heiligen Geist sollte sie hingegen nicht zugesprochen werden.
Dies waren im frühen Christentum erbittert umkämpfte Streitpunkte. Mehrere altkirchliche Konzilien setzten sich mit der Eins-heit und Dreiheit Gottes und der damit zusammenhängenden Frage auseinander, wie die «zwei Naturen» Jesu, nämlich seine Göttlichkeit und Menschlichkeit, unter einen Hut zu bringen seien.
Was heute als spitzfindige Begriffsakrobatik erscheinen kann, waren damals Kernfragen des Christentums. Mit der leidenschaftlichen Auseinandersetzung um die Göttlichkeit des Menschen Jesus stand einerseits die alles umfassende Geltung seiner Botschaft auf dem Spiel; andererseits ging es darum, durch die Identifizierung Jesu mit dem Messias der Juden die Kontinuität zur hebräischen Bibel mit ihren Geboten und Verheissungen zu wahren.
Die Kirche suchte und fand schliesslich in diesem Spannungsfeld von Überlieferung und aktueller Auseinandersetzung für ihren Glauben eine beziehungsreiche und griffige Formel: das Dogma der Dreieinigkeit. Seither bekennt sich die Kirche zu dem unter drei verschiedenen Aspekten – Vater, Sohn, Heiliger Geist – geglaubten und gedachten Gott. Der arianische Kampf gegen diese Trinitätslehre hatte jedoch eine hartnäckige intellektuelle Sprengkraft, die bis zu den religionskritischen Ideen des 18. Jahrhunderts ihre Wirkung entfaltete.
Spekulation und Macht
Mit den als Fest inszenierten Weihnachtsgeschichten der Bibel wurde das Narrativ der Trinität als grosse Erzählung kirchlich und frömmigkeitspraktisch verankert. Christus, so die theologisch spekulative Theorie des umgewidmeten Sonnenfestes, ist «präexistent», das heisst, er war schon bei der Schöpfung dabei. Das bedeutete zum einen, dass ihm seine Göttlichkeit nicht abzusprechen war. Zum anderen besagte die Lehre von der Präexistenz Christi, Gott sei schon immer der Dreieinige gewesen, und sein Plan habe festgestanden, bevor es eine Welt und Menschen gab. Weiter kann eine Erzählung nicht ausgreifen als bis hinter die Schöpfung zurück.
Theologische Spekulation ging hier Hand in Hand mit kirchlichem Geltungs- und Machtanspruch, und dies in einer historischen Phase, in der das Christentum im römischen Imperium eben noch als vermeintlich staatsfeindliche religiöse Gruppe verfolgt worden und nun zur Staatsreligion geworden war. Der einerseits triumphale, andererseits für die Kirche selbst auch konfliktträchtige Übergang war noch nicht bewältigt.
Universaler Heilsplan
Mehr noch: Der neue Status der Kirche war nicht gefestigt, das Römische Reich durchlebte unruhige Zeiten, die Völkerwanderung setzte ein. Vor diesem bedrohlichen Hintergrund machte die Kirche sich selber Mut mit der grossen Erzählung des vor dem Anfang der Welt einsetzenden göttlichen Heilsplans, in dessen Mittelpunkt die Menschwerdung Gottes in Christus steht und der am Ende der Zeiten ins Reich Gottes ausmünden wird.
Mit dieser kosmisch-trinitarischen Sicht erhielt die anrührende Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums eine imponierende Perspektive. In extremer Verkürzung geht die grosse Erzählung der Menschwerdung so: Gott umgreift die Welt von Anfang bis Ende. In der Mitte der Zeiten wird er in Christus Mensch und wendet so die Dinge zum Guten. Doch diese Wende nimmt den Menschen nicht ihre Freiheit und Verantwortung. Die Christusbotschaft stellt sie vor Entscheidungen. Am göttlichen Geist der Liebe – dem Heiligen Geist – können sie sich orientieren. Erst im Jüngsten Gericht am Weltende kommt dann alles Gute und Böse an den Tag.
Vor diesem mächtigen Tableau erscheint die Weihnacht als Dreh- und Angelpunkt einer universalen Heilsgeschichte. Das Motiv des Sterns, der den drei Weisen den Weg zum Stall in Bethlehem weist, verknüpft die sehr irdische Erzählung einer Geburt mit allumfassenden, kosmischen Dimensionen.
Ein paar Nummern zu gross
Das Zeitalter der grossen Erzählungen sei abgelaufen, stellte Jean-François Lyotard in einem Gutachten für die Regierung von Québec, dem zum Standardwerk gewordenen «La condition postmoderne» (1979), fest. Solche grosse Erzählungen wären etwa die Ideologie des Marxismus, das westliche Fortschrittsnarrativ, die Vorstellung einer unaufhaltsamen Aufklärung oder ein Wissenschaftsverständnis, das sich anmasst, in Bälde alle Welträtsel zu lösen.
Wie es scheint, ist den meisten Zeitgenossen – inklusive den meisten Christen – die kühne, das Weltganze umgreifende Erzählung der christlichen Heilsgeschichte genauso ein paar Nummern zu gross geworden wie die sogenannten grossen Erzählungen der Moderne.
Doch so verdächtig heute vielen die Religion als Welterklärung ist, so plausibel erscheint sie ihnen als Sinngeber und Schatz von Symbolen. Da passen dann die anschaulichen und anrührenden, im Vergleich zur ambitiösen theologischen Spekulation fast schon «kleinen» Geschichten des Weihnachtsfests. Hier ist Religion Sache menschlicher Erfahrung und äussert sich im Medium des Gefühls. Da ist von Lyotard kein Einspruch zu erwarten.
Trotz Adaptierung des Religiösen an die «condition postmoderne», bleibt hinter seinen Erscheinungformen dann aber doch «das Grosse» spürbar. Wer sich auf Weihnachten einlässt, sei es bei einer naiven figürlichen Krippendarstellung oder in Bachs gewaltigem Weihnachtsoratorium, wird einen Bedeutungsüberschuss der Zeichen bemerken. Die Werke, ob von naiver oder hochkultureller Fasson, enthalten mehr als sie darstellen können. Ob solches Überschiessen nun Ergriffenheit oder Verlegenheit auslöst – beides kann Platzhalter einer reichen, ungetrübten Glaubenswelt sein, die gedanklich nicht mehr zugänglich ist.
Die spekulative Gross-Erzählung des Christentums erscheint in ihrer mythologischen Form für heutige Sprache und zeitgenössisches Denken archaisch. Sie ist genauso schwer vermittelbar wie eine Gruppe von Krippenfiguren auf einem politisch korrekten Weihnachtsmarkt. Auch wenn die grosse Erzählung unter dem Weihnachtsrummel verschüttet und uns durch zeitlichen Abstand entfremdet ist, sollte sie im kulturellen und religiösen Gedächtnis ihren Platz behalten als Umriss von Vorstellungen, die bis vor historisch kurzer Zeit noch geläufig waren. Die Erinnerung an die grosse Erzählung des dreieinigen Gottes und seiner Zuwendung zur Welt bleibt die Grundlage, um die religiöse Tragweite des Weihnachtsfestes verstehen zu können.